Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Grenzen der Toleranz

Juli 2018

Michael Schmidt-Salomon (50), Philosoph, Autor und Publizist, sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“, dass eine rationale Debatte kaum noch möglich sei „angesichts der Empörialisten,
die den öffentlichen Raum mit moralischen Killerphrasen besetzt haben“. Einer seiner Kritikpunkte: „Ignoranz verhindert, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort klare Kante zeigen.“

Demagogen feiern mit halben Wahrheiten ganze Erfolge – mit diesem Satz beginnt Ihr Buch …

Richtig. Es ist nun einmal so, dass man das Publikum mit Halbwahrheiten besser überzeugen kann, als wenn man komplette Lügen auftischt. Deshalb ist die Taktik, Wahres mit Unwahrem zu verbinden, in der Berufssparte der Demagogen auch so beliebt.

Um sie zu stoppen, müsse man ihnen recht geben, wo sie recht haben …

Tatsächlich kann man ihnen ihre gefährlichen Halbwahrheiten nur auf diese Weise entreißen. Allerdings muss man ihnen nicht bloß recht geben, wo sie recht haben, man muss sie gleichzeitig dort kritisieren, wo sie die Wirklichkeit verzerren. So löscht man das Feuer, auf dem sie ihr ideologisches Süppchen kochen.

Nun tun sich Medien und Politiker aller Couleur gerade mit dem ersten Teil dieses Satzes so schwer. Warum denn? Weil wir, wie Sie auch feststellen, „in Zeiten des Empörialismus leben“?

So ist es leider. Auf der „richtigen Seite“ zu stehen und „aufrichtig empört“ zu sein, das zählt heute oft sehr viel mehr als die Fähigkeit, unterschiedliche Sichtweisen unvoreingenommen gegeneinander abzuwägen. Empörialisten haben den öffentlichen Raum in den letzten Jahren so sehr mit moralischen Killerphrasen besetzt, dass eine rationale Debatte oft kaum mehr möglich erscheint.

Sie sagen aber auch, wer in der Polarisierung den Weg der Mitte suche, könne irren. Warum?

Die Wahrheit folgt nun einmal keinen geometrischen Vorgaben, sie liegt also nicht notwendigerweise in der Mitte. Der „Extremismus der Mitte“ übersieht, dass die Wahrheit sehr wohl an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt sein kann und es – historisch betrachtet – in vielen Fällen auch war. Daher sagt die Tatsache, dass eine Überzeugung von 90 Prozent der Gesellschaftsmitglieder geteilt wird, noch nichts darüber aus, ob sie in irgendeiner Weise vernünftig ist.

Soll heißen: Ja zum Widerstreit der Meinungen? Man könne sogar, schreiben Sie recht sarkastisch, trotz schärfster Differenzen ein gutes, ein produktives Streitgespräch führen …

Eigentlich kann man nur aufgrund solcher Differenzen ein produktives Streitgespräch führen. Es ist doch so: Nur weil wir unterschiedlich sind, können wir überhaupt voneinander lernen. Wären wir stets einer Meinung, hätten wir uns nicht viel zu sagen. Wir hätten kein Gegenüber, das uns korrigieren könnte, sondern würden uns wechselseitig in unseren Vorurteilen bestärken, was die gesellschaftliche Entwicklung zum Erliegen brächte.

Die Islam-Debatte kranke seit Langem daran, dass die Vertreter unterschiedlicher Positionen alles tun würden, um die Gegenseite mit moralischen Killerphrasen außer Gefecht zu setzen.

Ja, zwischen Islam-Kritikern und Islamkritik-Kritikern tobt leider seit Jahren ein empörialistischer Überbietungswettbewerb. „Stimmung statt Argumente!“ heißt die Devise, deren Folgen man in den sozialen Netzwerken beobachten kann. Wer auf die Gefahren des „islamischen Faschismus“ hinweist, wird im Handumdrehen als „Rassist“ abgestempelt; wer aufzeigt, dass selbstverständlich nicht alle Muslime vom Dschihad träumen, als „unverbesserlicher Gutmensch“ vorgeführt.

Das zentrale Problem, mit dem wir zu kämpfen hätten, sei nicht der Mangel an Toleranz, sondern das Übermaß an Ignoranz. Wie ist das gemeint?

Es ist eines der Grundübel unserer Zeit, dass ein Großteil der Menschen entweder nicht willens oder nicht fähig ist, zwischen Humanem und Inhumanem, Recht und Unrecht, Wahrheit und Propaganda, Vernünftigem und Widersinnigem zu unterscheiden. Diese Ignoranz verhindert, dass wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort klare Kante zeigen, und unterläuft jede sinnvolle Strategie, die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen.

Ein entscheidender Satz? „Die Furcht vor unbegründeten Vorurteilen darf nicht dazu führen, dass wir keine begründeten Urteile mehr bilden.“

Ich habe diesen Satz vor allem mit Blick auf jene Vertreterinnen und Vertreter der Linken formuliert, die jede Form von Islamkritik kategorisch ablehnen, weil sie darin einen ungerechtfertigten Angriff auf eine „unterdrückte Minderheit“ sehen. Zweifellos wäre die Welt ein friedlicherer Ort, wenn die Angst vor den totalitären Formen des Islam nur auf unbegründeten Vorurteilen beruhen würde. Die politische Realität beweist jedoch Tag für Tag das Gegenteil. Und das muss in einer rationalen Debatte auch klar thematisiert werden – selbst auf die Gefahr hin, dass Unbelehrbare solche begründeten Urteile dazu nutzen, um ihr Reservoir an unbegründeten Vorurteilen weiter auszubauen.

Der Beifall von der falschen Seite …

Es gibt kaum ein Argument, das die Grundlagen einer offenen Streitkultur so sehr untergräbt wie die Behauptung, Kritik sei zu unterlassen, wenn sie von der „falschen Seite“ unterstützt wird. Denn diese Sichtweise stellt parteiliches Lagerdenken über die faire Abwägung von Argumenten. Eigentlich sollte doch klar sein, dass „Beifall von der falschen Seite“ kein Problem darstellt, sondern vielmehr Ausdruck einer funktionierenden Streitkultur ist, in der die Güte eines Arguments zählt – und nicht, wer es geäußert hat. Die Frage, die wir uns in diesem Zusammenhang stellen müssen, lautet nicht „Wie vermeiden wir Beifall von der falschen Seite?“, sondern „Wie vermeiden wir es, dass der Beifall von der falschen Seite zu einer steigenden Akzeptanz falscher Argumente führt?“

Sie setzen sich deswegen auch großer Kritik aus, wenn Sie schreiben: „Selbstverständlich wird ein Argument nicht dadurch falsch, dass es von der AfD (in Österreichs Fall: von der FPÖ) vertreten wird …“

Stimmt. Aber diese Kritiker übersehen, dass sie mit einer Abwertung sämtlicher Argumente, die von der „falschen Seite“ stammen, nicht nur gegen die Grundregeln einer rationalen Debatte verstoßen, sondern ihren politischen Gegnern zusätzliche Schützenhilfe geben. Es liegt doch auf der Hand: Wer die Realität des politischen Islam leugnet und wider alle Vernunft jeglichen Zusammenhang von Islam und Islamismus bestreitet, der treibt die Wählerinnen und Wähler in die Arme von Politikern, die ihre antiaufklärerischen Ziele unter dem Deckmantel einer „aufgeklärten Islamkritik“ wunderbar verbergen können. Von diesem Prozess haben Rechtspopulisten weltweit profitiert, von Moskau bis nach Washington.

Sie stellen sich selbst die Frage: Wo liegt die Grenze zwischen dem, was toleriert werden muss und dem, was nicht toleriert werden darf. Wie lautet denn die Antwort?

Die Ingenieurswissenschaft definiert „Toleranz“ als „zulässige Abweichung vom Norm-Maß“. Vergleichsweise offene Gesellschaften wie Deutschland oder Österreich billigen ihren Mitgliedern größere Freiheiten bezüglich der Abweichung von der Norm zu – und das ist auch gut so! Im Umkehrschluss müssen wir allesamt jedoch auch größere Toleranz entwickeln, also Meinungen und Haltungen ertragen, die von unseren eigenen Vorstellungen empfindlich abweichen. Wir können nicht einfach – wie in Saudi-Arabien – nach der „Tugendpolizei“ rufen, wenn uns irgendetwas sittlich missfällt. Denn für die Frage der Toleranz ist es in einer offenen Gesellschaft völlig unerheblich, ob bestimmte Haltungen oder Handlungen als „unmoralisch“ eingestuft werden, entscheidend ist, ob durch sie geschützte Rechtsgüter verletzt werden oder nicht. Nur dann darf, ja muss der Staat eingreifen, um die Rechtsordnung zu schützen.

Sie nutzen da auch Strengers Ausdruck der zivilisierten Verachtung.

Mit zivilisierter Verachtung sollten wir Haltungen begegnen, die wir in einer offenen Gesellschaft zwar tolerieren, also ertragen müssen, die wir als weltoffene Menschen aber nicht akzeptieren, also gutheißen können. Nehmen wir als Beispiel schwulenfeindliche Ressentiments: Wir können sie nicht mit dem Staatsanwalt bekämpfen, wohl aber mit zivilisierter Verachtung. Und so sollte jeder, der nicht in der Lage ist, seine Ressentiments gegenüber Schwulen zu überwinden, wissen, dass er für diese Unzulänglichkeit in einer offenen Gesellschaft keinen Respekt erwarten darf, sondern vielmehr die schonungslose Offenlegung der zivilisatorischen Rückständigkeit, mit der er sich und seinen Glauben blamiert.

Die Feinde der offenen Gesellschaft hätten eine entscheidende Schwäche: Auf dem Gebiet der Bildung. „Gefangen im eigenen intellektuell beschränkten Bonsai-Universum“, ein herrlicher Ausdruck …

Ich habe mich im Rahmen der Vorarbeiten zu den „Grenzen der Toleranz“ intensiv mit den Biografien einiger Attentäter beschäftigt. Zwar hat sich eingebürgert, von „feigen Terrorakten“ zu sprechen, wenn Islamisten sich und andere in die Luft sprengen. In Wahrheit aber mangelt es ihnen nicht an Mut, sondern an Wissen und Einfühlungsvermögen. Mit einem Wort: Sie sind nicht feige, sondern blöde! Offenkundig wurden sie in ihrer emotionalen und kognitiven Entwicklung so stark geschädigt, dass sie auf einem extrem kümmerlichen Reifegrad stehengeblieben sind, der sie nicht einmal ansatzweise dazu befähigt, zu begreifen, was sie tun.

Die Politik ist in die Pflicht zu nehmen; sie muss eine weitere Verbreitung freiheits- und menschenfeindlicher Ideologien stoppen …

In der Tat. Mit rückgratloser Appeasement-Politik gegenüber rücksichtslosen Despoten lassen sich die Werte der offenen Gesellschaft ganz gewiss nicht verteidigen! Leider ist vielen westlichen Politikern die an „runden Tischen“ geschulte Neigung zu opportunistischer Profillosigkeit so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie es fast vollständig verlernt haben, klare Kante zu zeigen. Diese Schwäche wird derzeit von Populisten und Despoten jeglicher Couleur ausgenutzt. Wenn die demokratischen Politikerinnen und Politiker es nicht schaffen, mehr Profil zu entwickeln, sieht es schlecht aus für die Demokratie.

Drei allgemeine Imperative gebe es, die für eine wirksame Verteidigung der offenen Gesellschaft erforderlich seien, welche denn?

Wir müssen verhindern, was nicht zu tolerieren ist, schwächen, was bloß zu tolerieren ist, und stärken, was zu akzeptieren ist. Für die Verteidigung der offenen Gesellschaft reicht es nicht aus, diejenigen zu bekämpfen, die die Rechtsordnung verletzen. Wir müssen dafür sorgen, dass jene Eigenschaften gestärkt werden, die für die offene Gesellschaft grundlegend sind, nämlich die Fähigkeit zum rationalen Diskurs sowie die Orientierung an den Idealen der Freiheit, Gleichheit, Individualität und Säkularität. Gleichzeitig müssen wir jene Tendenzen schwächen, die der offenen Gesellschaft zuwiderlaufen, nämlich die Neigung zu Irrationalität sowie den leider sehr deutlichen Trend zu mehr Paternalismus, Elitarismus, Kollektivismus und Fundamentalismus. Dies, so scheint mir, ist die große Aufgabe unserer Zeit.

Potenziellen Flüchtlingen und Zuwanderern müsse man schon in ihren Heimatländern unmissverständlich klar machen, was Europa ist. Sie würden ja am liebsten übergroße, imaginäre Begrüßungsplakate schaffen, auf denen in riesigen Buchstaben geschrieben steht: „Herzlich willkommen in Europa – wir verderben Ihre Kinder!“

Diese Begrüßungsplakate sollten nur vor dem „geistigen Auge“ erscheinen, nicht real aufgestellt werden! Ich habe dies im Buch unter dem Motto „Abschreckung durch Freiheit“ beschrieben. Tatsächlich meine ich, dass wir das Profil der offenen Gesellschaft dringend schärfen müssen. So sollten wir potenziellen Einwanderern unmissverständlich klarmachen, dass Europa dem Prinzip der offenen Gesellschaft folgt, dass sich die Religionen hier dem Gesetz unterordnen müssen, dass Männer und Frauen, hetero- und homosexuelle Menschen gleiche Rechte besitzen, dass Kinder nicht geschlagen werden dürfen – und dass die Verehrung des Propheten Mohammed beziehungsweise des christlichen Messias an sich kein höheres Ansehen genießt als etwa die Verehrung von Borussia Dortmund, Monty Python oder Dolly Buster! Wer für sich und seine Angehörigen einen solchen „Ort der Freiheit“ sucht, den sollten wir – nicht nur aus Gründen der Humanität, sondern auch im eigenen Interesse – mit offenen Armen empfangen und alle Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe eröffnen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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