Katharina Klein

groß geworden in Wolfurt, studiert Philosophie und Sprachkunst in Wien.

Die Sehnsucht der Jungen nach dem Alten

September 2019

Der Blick nach vorn – ein Déjà-vu? Warum Retro heute nicht mehr gestern, sondern morgen meint.

Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“, schrieb der deutsche Dichter Thomas Brasch vor rund vierzig Jahren. Er artikuliert damit etwas, das von Anachronismus, Sehnsucht und Utopie geprägt ist: die Nostalgie. Was von Schweizer Ärzten im 17. Jahrhundert noch mit Blutegeln und Opium behandelt wurde und eigentlich Heimweh meinte, ist, der Harvard Professorin Svetlana Boym zufolge, inzwischen als Epidemie im 21. Jahrhundert angekommen. Dass selbst die Nostalgie mit der Zeit mitgeht, beweist demnach die Gegenwart: Nie wurden mehr Schallplatten, alte Rennräder oder Analogkameras verkauft als heute, mit Ausnahme der Zeit ihres eigenen Entstehens. Zu der haben aber die meisten Jünglinge der Retrowelle gar keinen direkten Bezug. Woher rührt also dieses Verlangen nach einer Vergangenheit, die nie die eigene war?
Die Jugendkulturforscherin Raphaela Kohout sieht diese Rückwende unter anderem in den Herausforderungen des digitalen Zeitalters begründet, die eine „Flucht vor Neuem und Unüberschaubarem“ als Reaktion befördern. Die Flucht vor der ungewissen Zukunft wird damit allerdings zu einer Flucht in die unbekannte Vergangenheit, mit Tendenz zur Verklärung.

Wo Erinnerungen falsch werden, entsteht das nostalgische Gefühl, dass früher alles besser war.

Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman, der sich in seinem 2017 erschienenen Band „Retrotopia“ mit dem gleichnamigen Phänomen beschäftigt – der Retrotopie als gekehrter Utopie, deren Topos, das „halbvergessene Gestern“, die Sicherheit liefern soll, die sich im Blick nach vorne nicht mehr finden lässt, entlarvt die Vergangenheit im Deckmantel des Widerspruchs als „Bauplatz für Komfortzonen.“ Das ist deshalb paradox, weil sie, laut Baumann, als Depot vollendeter Tatsachen gelte, „durchsetzt mit Leerstellen, die sich im Nachhinein nicht mehr füllen lassen.“ 

Das Kontrahentenpaar Freiheit und Sicherheit, das einst an die Merkmale von Zukunft und Vergangenheit gekoppelt war, verschwimmt, der Verklärung geschuldet, in der Retrotopie zu einem versöhnten. Die eigentlichen Prinzipien von Zukunft und Vergangenheit werden ausgekegelt: Nicht die Zukunft repräsentiert mehr Offenheit und Möglichkeit, die Vergangenheit ist es, die, ihrer Starrheit und Faktizität entkleidet, zur Projektionsfläche von Hoffnungen und Wünschen wird.

Das Gewesene muss gar nicht gewesen sein, es wird gewesen gemacht. Und das ist mitunter sogar gefährlich. Kohout sieht darin eine Selbstschutzfunktion, die von der Konfrontation mit der schwierigen Vergangenheit ablenkt: „Wo Erinnerungen falsch werden, entsteht das nostalgische Gefühl, dass früher alles besser war – was es nicht war, die Probleme waren nur andere.“ 

In den Breitengraden einer Überflussgesellschaft, der die Kinderschuhe der Digitalisierung allmählich zu klein werden und in der neue Kommunikationsformen à la Social Media die Begriffe von Nähe und Intimität verändern, ist es vor allem die Reduktion, die man im Rückbezug auf Reliquien der Vergangenheit sucht und findet. Hinzu kommt, dass die Erinnerung als solche immer weiter ausgelagert wird – von der intimen, persönlichen Beziehung in einen öffentlichen Raum, auf digitale Datenträger und Speichermedien: Twitter ist jetzt Tagebuch, Instagram ein Fotoalbum, das Internet ein Archiv und die Gegenwart wird archiviert – und das andauernd. Ein „erdrückendes Archiv“, wie der Soziologe Gerrit Fröhlich diese Ansammlung auch nennt. Und die Last liegt schwer: Auf Bedeutungsinflation und Überdokumentation folgt „künstliche Verknappung“, schreibt Fröhlich. Da mag es schon wie ein Widerspruch klingen, dass das alles dazu führt, dass sich immer mehr Menschen immer mehr Dinge anhäufen. 

Der Nachhaltigkeitsgedanke ist, Kohout zufolge, zwar am Phänomen der Retrophilie beteiligt, allerdings eher als Begleiterscheinung, denn als Auslöser. Vielmehr gehe es um die Individualisierung und damit „um die Grundtendenz des Menschen zwischen Abgrenzung und Anpassung.“ Dass sich der Markt diese Tendenz zu Nutze macht, ist dabei nicht weiter verwunderlich: „Wie überzeugt man Konsumenten, die schon alles haben?“, stand unlängst in der Kulturzeitschrift The Gap. Eine mögliche Antwort darauf wäre: Mit dem, was sie nie haben können. Dass das Vergangene unwiederbringlich ist, dass eine Beatles Platte aus den 60er Jahren die 60 Jahre nicht zurückholt, dass man die Vergangenheit im Lichte der Vergänglichkeit nicht besitzen kann, – schon gar nicht eine, die man selbst nie hatte –, läuft darauf hinaus, dass das, was man dann besitzt, nur Aneignungen sind, Replika oder Abzüge eines Negativs, das längst vergilbt ist. 

Ob also Millennials wirklich alles haben, ist zweifelhaft. Baumann schreibt sogar: „So gut wie allen verfügbaren Studien zufolge sind die Millennials die erste Nachkriegsgeneration, die nicht von Aufstiegserwartungen, sondern von der Furcht geprägt ist, die von ihren Eltern erreichte soziale Stellung nicht halten zu können.“ Indem die Zukunft Verlustängste auslöst und mit Abstieg und nicht Fortschritt assoziiert wird, wie Baumann meint, ist zwischen der Nostalgie, als Gefühl des Verlusts, und der Zukunft, als einem bevorstehenden, nur ein schmaler Grat stabiler Gegenwart. 
Für Ernst Bloch, den Ziehvater der Utopie, ist die Erkenntnis, dass etwas fehlt, der Motor allen Sehnens. Dass man in der Vergangenheit nach etwas sucht, was man in der Zukunft nicht findet, bedeutet schließlich auch, dass es in der Gegenwart nicht sein kann, vielleicht sogar, dass die Gegenwart nicht sein kann. 

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