Emil Kowalski

*1937, Physiker und Autor, Tätigkeit in leitenden Positionen Schweizer Industrie­unternehmen, unter anderem der Elektrizitätsbranche, Mitwirkung in fachlichen und gesellschaftspolitischen Gremien. Das Interview basiert auf Kowalskis aktuellem Buch „Liberté, Egalité, Fragilité. Über die Zerbrechlichkeit der Demokratie“, J. B. Metzler Verlag, Berlin 2019. Im selben Verlag ebenfalls von Kowalski erschienen ist „Dummheit. Eine Er­folgsgeschichte“, 2017.

Die Tyrannei der Vollkommenheit

März 2020

Emil Kowalski (83), warnt in seinem aktuellen Buch vor der Zerbrechlichkeit der Demokratie.
Im Interview mit Thema Vorarlberg sagt der Schweizer Physiker und Philosoph: „Wir stören uns eher an den Widersprüchen der Demokratie, als dass wir ihren eigentlichen Wert, die Freiheit, erkennen würden.“

Herr Kowalski, Sie verteidigen die liberale Demokratie und warnen vor ihrer Zerbrechlichkeit. Geht es den Menschen denn zu gut, um zu erkennen, was sie an der Demokratie haben?

Ja. Nur das Wort „zu“ würde ich streichen. Es geht uns gut. Zu gut kann es uns nie gehen. Wir möchten immer etwas mehr oder etwas Anderes, das ist die Tragik des Menschen. 

Und das bedeutet, bezogen auf die liberale Demokratie?

Wir leben in Freiheit und schätzen das kaum. Wir stören uns eher an den Widersprüchen der Demokratie, als dass wir ihren eigentlichen Wert, die Freiheit, erkennen würden. Wir realisieren erst gar nicht, dass das auch anders sein könnte. Und warum? Weil der Mensch nicht schätzt, was er hat. Christine Beerli, eine prominente Schweizer Politikerin und gute Freundin von mir, hat im Vorwort zu meinem Buch das Zitat verwendet: ‚The last animal to recognize water would be a fish‘. Im Umkehrschluss hieße das auf Deutsch etwa ‚Der Fisch schätzt das Wasser erst, wenn er auf dem Trockenen zappelt‘. Das ist ein guter Satz. 

 

Wir leben in Freiheit und schätzen das kaum.

Sind sie denn bedroht, die Freiheit und die Demokratie?

Die liberale Demokratie kämpft mit den vielen Widersprüchen, die sie hat. Sie kämpft mit dem Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit, sie kämpft mit dem Widerspruch, dass unsere Regierung gleichzeitig Ordnungsmacht aber auch der treusorgende ‚Vater Staat‘ sein soll, dem wir die Verantwortung für unser Wohlsein anvertraut haben. Vor allem aber kämpft die liberale Demokratie mit der diffusen Lust der Gesellschaft an Untergangsszenarien und mit der Mutlosigkeit kurzsichtiger Politiker, für den Bestand der grundlegenden Werte des liberal-demokratischen Systems einzustehen. Die Freiheit, Grundpfeiler unserer liberalen Demokratie, steht nicht so fest da, wie unsere naive Vorstellung und die Wahlreden unserer Politiker suggerieren. Der Grundpfeiler wackelt beträchtlich. Die Sehnsucht nach den überwunden geglaubten statisch-idealen Paradiesen feiert eine bedenkliche Restauration. 

Ein Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit?

Unsere individuelle Freiheit findet ihre Grenzen dort, wo sie die Freiheit der Anderen verletzen würde. Sie ist also nicht ‚grenzenlos‘, wie in dem Lied ‚über den Wolken‘. Und die Gleichheit findet ihre Grenzen an den körperlichen wie kognitiven Unterschieden der Menschen. Unsere humane Ordnung sucht die Unterschiede zu überbrücken, durch Inklusion, durch Ausgleichsmaßnahmen der sozialen Gerechtigkeit. Letztlich aber muss ein jeder auf einen Teil seiner Freiheit verzichten, um innerhalb der Gemeinschaft der Gleichen frei zu bleiben. Als Kind wunderte ich mich darüber, dass es immer hieß: Wir sind alle gleich. In der Schule und im Sport sollte man aber gleichzeitig möglichst der Beste sein. Meine Großmutter fand die Lösung: Man muss halt in den Ansprüchen gleich sein, in den Leistungen darf man dann schon besser sein. Das ist ein schöner Satz.

Gleitet die Demokratie in eine Stabilität der Furcht ab?

Wir stehen mitten in einer technisch-industriellen Revolution 4.0 von paradigmatischen Ausmaßen, deren Ausgang ungewiss ist. Die Migration destabilisiert, die Klimakrise macht sich bemerkbar, geopolitische Bedrohungen nehmen zu. Die Zukunft wird skeptisch beurteilt, die Polarisierung der Meinungen nimmt zu. Und infolge all dieser Entwicklungen sind Menschen zunehmend bereit, sich autoritären Persönlichkeiten zu unterstellen … Sie realisieren nicht, dass sie dabei sind, in die Hoffnungslosigkeit der Furcht abzugleiten, dass die von den Populisten versprochene Stabilität eine Stabilität der Furcht ist.

Wie schützt man die Demokratie vor dem Volk? Diese Frage ist ungelöst.

Die Populisten wiederum, die, wie Sie sagen, die Demontage der Demokratie durch demokratische Mittel betreiben.

Wie schützt man die Demokratie vor dem Volk? Diese Frage ist ungelöst. Böckenförde, ein Jurist und Philosoph, hat bereits 1967 geschrieben, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren könne, und angefügt: ‚Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen eingegangen ist.‘ Ein anderer Denker, Franz Borkenau, hat es etwas poetischer formuliert, er sagte, die freiheitlichen politischen Strukturen müssten ‚in den Herzen Wurzeln schlagen‘. Die liberale Demokratie beruht darauf, dass wir im Unbewussten wissen, wie wir uns zu benehmen haben. Wäre das nicht so, müsste der Staat ein gewünschtes Verhalten erzwingen, und dann wäre er nicht mehr liberal, sondern totalitär. Und was nun die Zerstörung der Demokratie durch demokratische Mittel betrifft, muss man nur auf die Geschichte verweisen, man muss da nur Hannah Arendt zitieren: Hitler hatte seine Schlägertruppen, aber letztlich ist er durch die Zustimmung des Volkes bei der letzten mehr oder weniger freien Wahl an die Macht gekommen, durch ein Volk, das sich nach jemandem gesehnt hatte, der versprach, Ordnung zu schaffen. Und was ist heute? 

Was ist heute?

Polen gleitet ab in eine illiberale Demokratie, weil Menschen dort der Auffassung sind, dass die Freiheit zu weit gehe. Ungarn bekennt sich mit Orban offiziell zur Illiberalität. Bei dem, was Trump mit seinen Tweets macht, stehen mir meine nicht mehr vorhandenen Haare zu Berge. Und Erdogan ist ein besonders schlimmes Beispiel. Was in seinem Fall noch dazu kommt: Sogar Menschen, welche die Demokratie kennen – etwa Exiltürken in Deutschland – haben mit großer Mehrheit für das Präsidialsystem mit quasi sultanischen Vollmachten gestimmt. Im ‚Spiegel‘ hat eine Türkin, die schon länger in Deutschland lebt und die Demokratie schätzen gelernt hat, gesagt, ihr komme das vor, wie wenn freilebende Hühner für Käfighaltung stimmen würden. 

Man muss das nicht verstehen …

Aber so ist es: Wenn die Situation nicht so ist, wie sie sein sollte, dann lieben Menschen auf einmal starke Männer. Man ist bereit, sich autoritären Personen zu unterstellen. Der US-amerikanische Soziologe Albert Hirschman hat in einem seiner Bücher die Bemerkung gemacht, dass eine revolutionäre Situation immer daraus resultiere, dass die Unzufriedenheit der Besitzlosen mit der Enttäuschung der Besitzenden zusammenfällt, also beide Pole der Gesellschaft ihre Unzufriedenheit mit dem System demonstrieren. Auch das ist ein Zustand, dem wir uns heute nähern. 

Sie verteidigen die liberale Demokratie auch aus persönlicher Erfahrung.

Ja. 1937 in Königsgrätz in Böhmen geboren, habe ich als Bub die NS-Herrschaft erlebt, die kurze Zeit der Demokratie nach dem Krieg und dann die besonders schlimmen Jahre des Sowjetkommunismus zwischen 1948 und 1953. Das Bauunternehmen meines Vaters wurde verstaatlicht, wir wurden aus unserem Haus vertrieben und aus der Hauptstadt in eine kleine Hütte in eine – wie man damals noch sagte – Zigeu­nersiedlung verbannt. Ich habe miterlebt, wie eine junge Demokratie praktisch über Nacht aufgehört hat, hoffnungsfroh zu existieren. Dabei hatte ich noch Glück. Als Sohn eines einstigen Kapitalisten hätte ich eigentlich nicht studieren dürfen, aber das ist in der Provinz irgendwie untergegangen, ich bekam sogar ein Staatsstipendium für ein Studium in Dresden. 1960 ist der Irrtum ‚aufgeflogen‘, und ich habe mich über Westberlin nach dem Westen abgesetzt, damals stand die Mauer noch nicht. Über Österreich gelangte ich schließlich in die Schweiz. Rückblickend gesehen, war wohl das einzig Gute an dieser Situation, dass ich mich relativ schnell um mich selber kümmern musste und dass ich auch realisiert habe, was Freiheit wirklich bedeutet. 

Sie schreiben, dass die Welt kein Zustand sei, sondern ein Prozess. Wie ist das zu verstehen?

Das ist Heraklit. Man steigt nie in denselben Fluss. 

Panta rhei.

Genau. Aber wer kennt denn heute noch diese Worte? Dabei ist die Feststellung, dass man kein zweites Mal in denselben Fluss steigen kann, auch ein Symbol unserer liberalen Demokratie. 

Ein Symbol? Inwiefern?

Die Gründerväter der Demokratie haben die Freiheit an keine ideologische Vorgabe gebunden, das Volk bekam das Recht auf das berühmte ‚pursuit of happiness‘, Deutsch etwa: das Recht auf Glücklichsein, auf Wohlsein, auf sein Wohl. Die Schweizer haben da übrigens den schönen Ausdruck ‚es wohlet mir‘. Es liegt in der Hand des Volkes, den eigentlich inhaltsleeren Begriff ‚happiness‘ zu füllen, mit seinen Wünschen und Erwartungen. Das Ziel der Demokratie ist ein dynamischer Prozess, kein fester Zustand, mit der einzigen Festlegung, dass das Volk frei sein soll und die Menschen untereinander gleich sind.
Ich lebe heute in einer Demokratie, die anders ist als jene 1937, das Jahr, in dem ich geboren bin. Und meine Enkelkinder werden wiederum in einer ganz anderen Demokratie leben. Demokratie ist dynamisch, sie ändert sich. Alle Ideologien träumen dagegen von einem statischen Paradies, sie träumen von irgendeiner Vollkommenheit. Und entwerfen etwas, das ausgesprochen gut aussieht. Aber sie realisieren nicht, dass der Mensch sich entwickelt. Und sie realisieren nicht, dass es ein Gesetz der Geringschätzung der vorhandenen Zustände gibt und eine Melancholie der Erfüllung.

Es ist erst die Erfahrung der Grenzen, die uns die Liebe zur Freiheit lehrt.

Die Melancholie der Erfüllung? Ein schöner Ausdruck …

Wenn man Ziele hat, die erfüllt werden, dann sagt man doch: ‚Aha, und das soll es gewesen sein?‘ Von Oscar Wilde stammt der schöne Aphorismus ‚In dieser Welt gibt es nur zwei Tragödien. Die eine ist, nicht zu bekommen, was man möchte, und die andere ist, es zu bekommen.‘ Das zweite ist viel schlimmer. Sobald der Mensch glaubt, ein Modell für ein statisches Paradies gefunden zu haben, und versucht, es zu realisieren, führt der Weg in eine unabwendbare Katastrophe – in die Tyrannei der Vollkommenheit. 

Und da rufen Sie nach einer robusten Demokratie! Um das zu verhindern und um die Freiheit zu verteidigen!

Das ist kein Widerspruch! Die größte Stärke der liberalen Demokratie ist ihre Fähigkeit, durch Dialog Kompromisse zu finden und ihr Vorgehen dabei stets an die sich ändernden Erfordernisse der Realität anzupassen. Die größte Schwäche der liberalen Demokratie aber ist ihre Fragilität, ihre Verletzbarkeit durch interne wie externe Bedrohungen. Der Westen wird also eine robuste Demokratie brauchen, welche die Dialogfähigkeit hochhält, und die garantiert, dass sie nicht durch Populisten aus den Angeln gehoben werden kann. Dies ist unbedingt zu lösen, sonst könnten wir auch in einer Tyrannei der anderen Art landen – in der Tyrannei der guten Absichten und enttäuschten Hoffnungen.

Welches Fazit würden Sie denn ziehen?

Der Mensch ist unvollkommen. Also muss auch die Gesellschaft mit dieser Unvollkommenheit rechnen, das ist unabdingbar. Und die liberale Demokratie ist die einzige bisher erdachte dynamisch gebliebene ‚Utopie der Unvollkommenheit‘. Demokratie muss darauf angelegt sein, mit Widersprüchen umgehen zu können, das könnte letztlich auch ihr Charakteristikum sein. Wir sollten zu ihr stehen, wir sollten uns unserer Freiheit bewusst sein und diese auch verteidigen. Aus persönlicher Erfahrung würde ich aber noch etwas anfügen: Es ist erst die Erfahrung der Grenzen, die uns die Unfreiheit und die Liebe zur Freiheit lehrt. Aber ich wünsche niemandem, dass er diese Grenzen ausloten muss. Es genügt, wenn man darüber liest.

Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.