Christian Ortner

*1971 in Lustenau. Von 2002 bis 2012 war der promovierte Jurist Chef­redakteur der Vorarlberger Nachrichten. 2013 bis 2019 bei der NZZ Mediengruppe. Seit 2019 bei CH Media, einem Jointventure von NZZ Regionalmedien und AZ Medien; Chefredakteur von sechs regionalen Newsportalen.

„Ein narzisstischer Höhenrausch“

Juli 2019

Was haben Sie sich gedacht, als Sie das Ibiza-Video zum ersten Mal gesehen haben? 

Für einen Psychiater ist das ein Fressen, für einen Kriminalpsychiater doppelt, weil auch eine kriminologische Komponente dabei ist. Natürlich habe ich mir gedacht, dass es auch eine „besoffene Geschichte“ ist, Betonung auf „auch“. Die beiden waren sichtlich berauscht, durch was auch immer, und dadurch sichtlich in einem Hoch. In einem Rausch werden Dinge gesagt, die man sonst nicht sagen würde, die man nüchtern kontrollieren kann. Aber nicht umsonst heißt es „in vino veritas“, „im Wein liegt die Wahrheit“. Suchtmittel erzeugen nicht solche Gedanken, sie setzen sie lediglich frei. Gewundert habe ich mich, wie ein erfahrener Politiker, der ja weiß, wie schlecht die Welt ist, auf so etwas hineinfallen kann. Wie kann man nur so dumm sein?

Von Lord Acton, einem Historiker des 19. Jahrhunderts, stammt das Zitat „Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“. Trifft das auf Strache zu? 

Eines möchte ich vorausschicken: Ich habe zum Begriff Macht nicht nur negative Assoziationen. Einen Politiker, der sagt, ich bin ganz machtabstinent, den möchte ich nicht haben. Im Video zeigt sich, dass Macht auch narzisstisch macht. Das Ganze war für mich ein narzisstischer Höhenrausch. 

Ist die Gefahr, an den Hebeln der Macht zu scheitern, größer, je weiter man ursprünglich davon entfernt war? Strache galt ja stets als Außenseiter, weil er von weit unten kam.

Absolut. Wenn man etwa in einem mächtigen Clan aufgewachsen ist, dann hat man das Verhältnis zur Macht schon von Kindesbeinen an kultiviert. Strache hingegen hat sich alles erkämpfen müssen und war, das muss man ihm lassen, auch durchaus erfolgreich. In Ibiza hat er diesen Machtrausch eben ausleben können.

Der hübsche weibliche Lockvogel funktioniert bei Männern in jeder Zeitepoche …

Ja. Ich kann trotzdem nicht begreifen, dass so erfahrene Leute in so eine Falle getappt sind. Es ist ja nicht so, dass sie keine Zweifel hatten. Sie schienen aber zu wenig Angst gehabt zu haben, denn die Angst ist normalerweise ein „Wachhund“ und bewahrt einen vor Schlimmerem.

Die FPÖ ging sofort in den Gegenangriffs-Modus über. Ist dieses „Jetzt erst recht“-Motto – das ja schon bei Kurt Waldheim erfolgreich war – etwas typisch Österreichisches?

Viele Dinge in dieser Tragikomödie – Machtrausch, Intrige, Neid – sind nicht typisch österreichisch, sondern schlicht typisch menschlich. Der Österreicher leidet unter einer sogenannten „Kastrationsangst“, die daherkommt, dass wir zu Habsburgerzeiten das größte Reiche der Welt waren, in dem die Sonne nie unterging, danach aber zu einem Kleinstaat geschrumpft sind. Das hat das österreichische Volk stark geprägt, dieses „Uns-will-man-etwas-Wegnehmen“. Und das gilt auch für treue Strache-Wähler, die hier sehen, dass man einen erfolgreichen Politiker „abschießen“ will.

Auch Sebastian Kurz scheint sich diese Einstellung vieler Wähler zunutze machen zu wollen. Auch er argumentiert damit, dass er von Rot-Blau „abgeschossen“ wurde. 

Das wird Sebastian Kurz in seiner Wahlkampagne sicher breit spielen. Für den gelernten Österreicher war es ja großartig, den jüngsten Bundeskanzler der Welt zu haben, weil er Superlative grundsätzlich toll findet. Wir wollen immer die besten in der Welt sein, sogar wenn es negativ ist. Wir haben die meisten Spielsüchtigen, die meisten Raucher, hatten – bei Waldheim – für viele den schlimmsten Bundespräsidenten der Welt. Und jetzt soll der jüngste Kanzler schon wieder Geschichte sein. Das wollen sicher viele bei der nächsten Wahl korrigieren. 

Lassen Sie uns noch ein wenig tiefer in die Seelen der österreichischen Wähler blicken: Warum haben bei der Europawahl nur zwei Wochen nach Ibiza fast 45.000 Österreicher HC Strache eine Vorzugsstimme gegeben? Ist da auch der Psychiater ratlos?

Nein, für dieses Wahlverhalten gibt es gleich mehrere Motive. Im Unterbewusstsein haben sich viele gedacht, dass sie sich auch schon so verhalten haben und zum Glück dabei nicht gefilmt wurden. Das erzeugt ein gewisses Verständnis. Andere wiederum haben schlicht Mitleid, weil sie sehen, dass Strache politisch und wirtschaftlich ruiniert sein könnte. Und tiefenpsychologisch geht man davon aus, dass in solchen Fällen die sogenannte Identifikation mit dem Aggressor eine Rolle spielt. Man lehnt etwas ab und hat sogar Angst davor, aber um diese Angst bei sich zu bewältigen, entwickelt man ein gewisses Verständnis. Etwas, von dem natürlich auch Trump profitiert hat. 

Als Motiv für den Misstrauensantrag der rot-blauen Allianz unterstellten viele Politologen eine tiefe Kränkung. Haben wir hier ein Beispiel für die „Macht der Kränkung“ gesehen, über die Sie ein Buch geschrieben haben? 

Ja, das ist ein gutes Beispiel, was Kränkungen auslösen und welche Macht sie damit entfalten können. Man muss allerdings ein wenig unterscheiden. Bei der FPÖ war es eine Kränkungs- und Rachereaktion, bei der SPÖ eher der Neid, der immer die psychische Wurzel der Kränkung ist. Auf einmal hatte die andere Partei einen Star, wie sie ihn einst mit Kreisky hatte, eine Art Sonnenkönig, der in der Welt ein hohes Ansehen genossen hat und an dem sich die damals politischen Gegner die Zähne ausgebissen haben. 

Lassen Sie uns nochmals zur Seele des österreichischen Wählers zurückkommen. Was ist der größte menschliche Antrieb, das stärkste Motiv, einen politischen Führer zu wählen?

Die kindliche Prägung durch das Elternhaus ist immer noch der wichtigste Faktor. Es ist nur eine Minderheit, die aus Protest genau das Gegenteil tut, was die Eltern getan haben. Dann ziehen starke, machtbewusste Persönlichkeiten mehr an als gemäßigtere. Und was meiner Meinung nach unterschätzt wird, sich aber derzeit europaweit im Zug zu den Rechtsparteien zeigt, ist die psychologische Bedeutung des Heimatbegriffes. Der Mensch hat eine Urangst vor dem Verlust der Heimat. 

Wir haben vorher über Stärken gesprochen, die Wähler anziehen. Darf ein Politiker auch Schwäche(n) zeigen, oder vertreibt er dadurch die Wähler?

Die Identifizierung mit einem Starken ist sicher ein wichtiges Motiv. Das erklärt ja auch den Effekt, dass am Schluss einer Wahlbewegung ein wesentlicher Teil der Unentschlossenen die wählt, von denen man annimmt, dass sie gewinnen. Ich halte es dennoch für einen Fehler, dass Politiker das Bild vermitteln wollen, dass sie vor Gesundheit nur so strotzen und dann sogar mit Röntgenbildern, Attesten und Blutbefunden zeigen wollen, dass ihnen nichts und niemand etwas anhaben kann. Damit vermitteln sie nämlich auch, dass sie abgehoben, unmenschlich, arrogant und nicht geerdet sind. 

Im Herbst wählen die Vorarlberger in kurzem Abstand zweimal. Kurz und auch Markus Wallner werden mit stabilen Verhältnissen werben, die Opposition mit der Notwendigkeit von Veränderung. Was ist beim Menschen in friedlichen Zeiten stärker, die Sehnsucht nach Stabilität oder der Wunsch nach Veränderung? 

Der Wunsch nach Veränderung. Es gibt ja den berühmten Satz: „Es ist nichts schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.“ Das trifft auf die Politik ganz besonders zu. Man muss nur den Blick nach Deutschland werfen. Denen geht es wirtschaftlich bestens, sie haben eine geringe Arbeitslosigkeit, eine Kanzlerin, mit der sie eigentlich zufrieden sind, und dennoch hat es trotz dieser Verhältnisse angefangen zu kriseln. Ich würde daher warnen, dieses Stabilitätsthema zu sehr zu betonen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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