Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

1944 entstand – gemalt von Sergius Pauser (1896 bis 1970) – ein meisterhaftes Porträt Otto Enders, das nun erstmals in Vorarlberg zu sehen ist.

Ender (nicht) vergessen! Aber warum?

Oktober 2018

Am 3. November 2018 jährt sich es zum 100. Mal, dass der Rechtsanwalt Otto Ender als Landeshauptmann sein Amt antrat. Das vorarlberg museum würdigt ihn mit einer Ausstellung und einem Buch. Wer war Ender, warum sollte man sich an ihn erinnern? Im Atrium des Museums sind einige Kunstwerke und Objekte versammelt, die neugierig machen können, zunächst zwei bronzene Porträtköpfe Enders. Der erste, von Franz Plunder 1932 geschaffen, entstand zu einem Zeitpunkt, der für Ender, vor allem aber für die Republik, von großer Bedeutung war. Ein Jahr zuvor, 1931, hatte er als Bundeskanzler mit seiner Regierung nach etwa sechsmonatiger Amtszeit zurücktreten müssen. 1932 wurde Engelbert Dollfuß, den Ender selbst als Landwirtschaftsminister in sein Kabinett geholt hatte, Bundeskanzler. Ein Jahr später trat Ender im Juli 1933 als Minister in die Regierung Dollfuß ein, die gerade im Begriff war, die Demokratie zu zerstören und den Staatsstreich auf Raten mit einer Scheinlegitimation durch eine neue Verfassung auszustatten. Wie Franz Plunder zu dem Auftrag gekommen war, wissen wir nicht. Er war allerdings in Bregenz kein Unbekannter. Vor allem die Überquerung des Atlantiks in einer selbstgebauten Segelyacht mit dem wunderbaren Namen „Sowitasgoht V“ im Jahr 1923 hatte ihn weithin bekannt gemacht. Als Plunder mit seiner Crew in Bregenz startete, verabschiedete Landeshauptmann Ender die drei Segler höchstpersönlich und wünschte ihnen guten Wind und viel Glück.

Der zweite Ender-Porträtkopf aus Bronze stammt von Emil Gehrer und wurde 1964 vom Land in Auftrag gegeben. Einige Jahre zuvor hatte Gehrer ein großes Jodok-Fink-Standbild im Auftrag der Vorarlberger Landesregierung geschaffen. 30 Jahre nach seinem Tod wurde es 1959 eingeweiht. Warum erhielt Fink ein Denkmal, Ender dagegen nur einen Porträtkopf? Jodok Fink war zwar weder Landeshauptmann noch Bundeskanzler, aber als langjähriger Abgeordneter zum Reichs- beziehungsweise Nationalrat und Vizekanzler (von März 1919 bis Juni 1924) in der Regierung des Staatskanzlers Karl Renner doch prominent genug, um späterhin als „Bauer und Staatsmann“ erfolgreich zu einer Identifikationsikone stilisiert zu werden, tauglich für die Geschichtsbücher und Sonntagsbeilagen. Dagegen wurde Ender durch seine Beteiligung an der Regierung im Laufe der Zeit unweigerlich desavouiert, er wurde auf dem Parkett der politischen Erinnerungskultur zunehmend unmöglich. Denn durch die neu begründete Zeitgeschichtsforschung wurden sukzessive neue Details aufgedeckt, vor allem durch die 1968 fertiggestellte Dissertation von Peter Huemer über den „Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie“ (1975 als Buch erschienen und heute noch lesenswert). Die Veröffentlichung der Vorstandsprotokolle des Christlichsozialen Klubs (1980) und der Ministerratsprotokolle des Kabinetts Dollfuß (1984 bis 1986) lieferten weitere Belege. Spätestens 20 Jahre nach seinem Tod war Ender in keiner Weise mehr denkmalwürdig.

Zu Dollfuß selbst finden sich in der Ausstellung zwei Devotionalien, die – nach seiner Ermordung entstanden – den Dollfuß-Kult befördern sollten. Interessanterweise handelte es sich bei einem Dolluß-Bronzerelief um ein Werbemittel, das in größerer Stückzahl vertrieben wurde. Der widerlichen NS-Propaganda wollte man die Heldengeschichte vom österreichischen Märtyrer-Kanzler Dollfuß entgegensetzen und schuf damit einen nicht viel weniger widerlichen, dafür aber deutlich schwächeren Abwehrmythos: Die Lügen des lebendigen Adolf Hitler waren jenen des toten Dollfuß deutlich überlegen. Das zweite Stück, ein Gipsrelief des Rankweiler Künstlers Fritz Matt, dürfte ein Unikat geblieben sein, war aber vermutlich auch für die Massenfertigung gedacht.

Glaubte Ender wirklich, was er in einem Nachruf schrieb: „Dollfuß war auch ein ehrlicher und echter Demokrat. Ich behaupte dies aus voller Ueberzeugung.“ Möglich war diese eigentümliche Verdrehung der Wahrheit auch deshalb, weil der mächtigste und intellektuell prägendste Politiker der Christlichsozialen in der Ersten Republik, der Moraltheologe und zweifache Bundeskanzler Ignaz Seipel (1876 bis 1932), sukzessive den Begriff der Demokratie unterminiert hatte. Seipel, von dem das vorarlberg museum eine erstmals ausgestellte Zeichnung zeigt, sprach immerfort von einer zu verwirklichenden „wahren Demokratie“, unterstellte damit aber, dass die existierende Demokratie „falsch“ sei, eine Fehlkonstruktion. Dies wohl deshalb, weil die Bundesverfassung von 1920 unter maßgebender Beteiligung der Sozialdemokraten zustande gekommen war und der linken Opposition im Nationalrat ein starkes Gewicht verlieh. Darüber hinaus begann Seipel die Finanzierung rechtsgerichteter Heimwehren durch Industrie und Banken zu organisieren. Am 1. Juni 1924 wurde Seipel von einem Attentäter angeschossen und schwer verletzt. Ab dem 7. August 1924 verbrachte er einige Wochen im Sanatorium des Zisterzienserstiftes Mehrerau in Bregenz, wo ihn Bartle Kleber durch die Vermittlung Enders zeichnen konnte. Das Vorarlberger Volksblatt berichtete: „Trotzdem 16 akademische Maler um die Bewilligung angesucht hatten, den Bundeskanzler porträtieren zu dürfen, wurde diese Ehre doch einzig unserem Landsmann Bartle Kleber zuteil. Er verdankt dies sowohl seinem hervorragenden künstlerischen Können, als auch den Bemühungen unseres Herrn Landeshauptmannes. Denn es galt sowohl einen gewissen Widerstand des Porträtierten selbst, als auch den Einspruch des Leibarztes zu überwinden, der jede Überanstrengung des Bundeskanzlers zu vermeiden trachten mußte.“

Ender gehörte zwar innerhalb der christlichsozialen Partei keineswegs zum engeren Kreis um Seipel und stand den Machenschaften der Heimwehren derart skeptisch gegenüber, dass er ihre Selbstständigkeit in Vorarlberg verhinderte. Allerdings konnte auch er sich der intellektuellen Brillanz Seipels nicht entziehen. Im Oktober 1923 legte er anlässlich eines Besuches von Seipel in Bregenz ein etwas zweideutiges Bekenntnis zur Demokratie und zum damaligen Bundeskanzler ab: Er bezeichnete es als „Fehler, wenn das Volk damit rechnet, der Monarch, der Ministerpräsident oder der Landeshauptmann werden es schon machen. Ein Mann macht es nicht in einem Land oder in einem Volk. Wir schaffen es alle miteinander. Es ist wahr in der Monarchie und noch wahrer in der Demokratie, das Volk muß die Männer herausheben, die am Wohl des gesamten Staates arbeiten. In jeder Staatsform muß einer Führer sein, ohne zielsicheres Hinstreben zu einem festen Ziel kann nichts Großes erreicht werden und unser Führer ist Kanzler Dr. Seipel.“

War in diesem Bekenntnis schon der innere Zwiespalt des Demokraten Ender erkennbar? Der Vorarlberger Landeshauptmann hatte sich seinen Ruf als Republikaner und Demokrat hauptsächlich deshalb erworben, weil nach dem Ende des verlorenen Weltkrieges der Monarchie im Allgemeinen und den Habsburgern im Besondern keine Träne nachweinte. Spätestens nach dem Ende seiner Kanzlerschaft im Juni 1931 – seine Regierung stürzte wegen der Pleite der damals größten Bank Österreichs – war er von der Demokratie so enttäuscht, dass er angesichts des anschwellenden Nationalsozialismus bereit war, Dollfuß in seinem von Benito Mussolini inspirierten faschistischen Kurs zu unterstützen. Im Ministerrat vom 12. März 1934 sagte er, das österreichische Volk habe „in den letzten 15 Jahren Gelegenheit gehabt, sich demokratisch zu regieren und zu verwalten, jedoch den sicheren Beweis geliefert, dass es für die Demokratie nicht reif sei.“ Er fügte noch hinzu, er dürfe das sagen, weil bekannt sei, dass er „dem demokratischen Gedanken am nächsten gestanden“ habe. Am 1. Mai 1934 wurde die von Ender entworfene und im Ministerrat finalisierte autoritäre Verfassung veröffentlicht. 
Als Belohnung für die geleisteten Dienste wurde Ender zum Präsidenten des Rechnungshofes ernannt und erhielt 1935 einen außerordentlichen Ruhegenuss zugesichert, da er als Politiker nicht pensionsberechtigt gewesen wäre. Ende März 1938 wurde Ender bei einem Besuch in Bregenz verhaftet und wenig später wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Im August wurde er verurteilt und des Amtes enthoben. Mitte September freigelassen, musste er sich verpflichten, Vorarlberg nicht mehr zu betreten. Seine Pension bekam er zunächst nicht, lediglich kleine Beträge wurden monatlich ausgezahlt, zu wenig für die neunköpfige Familie. Gegen die Verurteilung wegen Steuerhinterziehung legte er Berufung ein und war erfolgreich: Ab Oktober 1940 erhielt er den vollen Ruhegenuss ausbezahlt. 

1944 entstand – gemalt von Sergius Pauser (1896 bis 1970) – ein meisterhaftes Porträt Otto Enders, das nun erstmals in Vorarlberg zu sehen ist. Es stellt ihn einerseits als alten und gebrochenen Mann dar, zeigt ihn andererseits mit den Insignien und Orden des österreichischen Bundeskanzlers, Ministers und Rechnungshofpräsidenten, gleichsam als Allegorie des untergegangenen, nicht mehr existierenden Österreich. Unvorstellbar wäre es gewesen, dieses Bild zum damaligen Zeitpunkt öffentlich zu präsentieren. Die rot-weiß-rote Schärpe wäre von den Machthabern des NS-Staates als Provokation begriffen worden. Das Bild wurde also für die Zeit nach der NS-Herrschaft gemalt. Man weiß nicht, ob Ender sich ganz bewusst in österreichischer Gala-Montur darstellen ließ, oder ob die Anregung dazu vom Künstler ausging. Sergius Pauser war nicht irgendwer: Seit 1920 hatte er ein vielfältiges Oeuvre geschaffen, in dem die Porträts eine besondere Rolle spielten. Kaum einer schaffte es, das Moment melancholischer Nachdenklichkeit so zu fassen.

Ender lebte nach Kriegsende noch 15 Jahre in Bregenz. Er betätigte sich nicht mehr politisch, bekleidete aber in einigen Vereinen (etwa im Landesmuseumsverein) leitende Funktionen und publizierte hin und wieder zu politischen und historischen Themen. Memoiren sind von ihm leider nicht überliefert, ein Manuskript mit „verfassungspolitischen Erinnerungen“ soll verloren gegangen sein. 1949 wurde Ender in der Arbeiter-Zeitung attackiert: In einer Rede hatte der sozialdemokratische Vizekanzler Adolf Schärf Ender als Beteiligten des Putschplanes von Engelbert Dollfuß bezeichnet. Das wies Ender als üble Unterstellung von sich. Er hatte wohl im großkoalitionären Nachkriegsklima vergessen, welche Worte 1933 und 1934 gefallen und welche Taten gesetzt worden waren. Er hatte nach der gewaltsamen Blockade des Nationalrats im März 1933 im Klubvorstand der Christlichsozialen gesessen und zugehört, als Bundeskanzler Dollfuß seine Absichten kundtat und sagte, eine „Änderung der Geschäftsordnung [des Nationalrates] wäre zu wenig“. Ender begrüßte damals den neuen Kurs: „Wir haben das Vorgehen der Regierung in den letzten Tagen bei uns gern gesehen.“ Er äußerte sogar „Bedenken, ob es durchgreifend genug ist“. Und ab Juli 1933 hatte er selbst als Minister der Regierung angehört, die das Zerstörungswerk an der Demokratie vollenden sollte.

Soll also Ender vergessen bleiben? Nein, dazu ist seine Tätigkeit für Vorarlberg, aber auch seine Abkehr von der Demokratie zu wichtig. Aber wie soll er in Erinnerung bleiben? Darüber müsste – ohne Rücksichtsname auf die Zumutungen offizieller Erinnerungspolitik – eine offene Diskussion geführt werden. Das in der Ausstellung präsentierte Bild, das Leopold Fetz von Ender als greisen ehemaligen Landesvater 1951 vor dem Hintergrund des Vorarlberger Landeswappens malte und das bis heute als Teil der Porträtgalerie der Landeshauptleute in der Landesregierung die politisch stilisierte offizielle Erinnerung des Landes darstellt, genügt nicht. Es zeigt Ender als gütigen, etwas verschmitzten Alten, dessen Hände in eine hilflos wirkende Geste des Erklärens verwickelt sind. Man könnte es als Botschaft nehmen, dass es damals schon nicht leicht war und heute vollends unmöglich, zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen war und ist.

Ausstellung im Vorarlberg Museum

6. Oktober bis 18. November 2018
Otto Ender 1875–1960. Landeshauptmann, Bundeskanzler und Putschist?

Kuratorenführung
Donnerstag, 8. November, 18 bis 19 Uhr

Buchpräsentation
Dienstag, 16. Oktober 19 bis 20 Uhr
Peter Melichar: Otto Ender 1875–1960, Landeshauptmann, Bundeskanzler, Minister. Untersuchungen zum Innenleben eines Politikers, Böhlau-Verlag

www.vorarlbergmuseum.at

 

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