WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Fake News als Kompetenz­falle – Grubenhunde in den Medien

Mai 2019

Ein irritierendes Video: Es zeigt zwei Männer, die sich verbal aufplustern und in Rage reden, und eine Frau, die meist stumm zuhört. Es geht um Machtfantasien im Grenzbereich von Politik und Wirtschaft, um die Beherrschung der Medien, um politische Dominanz. Die Hauptakteure sind führende Repräsentanten einer österreichischen Regierungspartei. Die erste Reaktion eines unbefangenen Zuschauers dürfte sein: Dies ist eine schlechte Inszenierung, ein Fake, produziert und verbreitet von politischen Gegnern.

Dieses Video war zwar heimlich von versteckten Kameras und verdeckten Mikrofonen aufgenommen, aber es war „echt“. Nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung durch zwei deutsche Printmedien traten der Hauptdarsteller und sein Adjutant von ihren Ämtern zurück. Die konservative Koalition war gescheitert und eine veritable Regierungskrise eröffnet. Die beiden Medien, die früher selbst Nachrichtenfälschern aufgesessen waren, wurden diesmal für ihre investigative Leistung durch erhöhte Verkaufs- und Klickzahlen und durch manchmal neidvolles Kollegenlob belohnt. 
Solche Coups auf unsicherer Quellenlage können auch schief gehen. Medien sind in der Geschichte immer wieder instrumentalisiert worden: durch frisierte Nachrichten und durch veritable Falschmeldungen aus angeblich seriöser Quelle. Im Folgenden soll es um einen besonderen Typ von Medien-Fakes gehen. 
Es begann mit einer Wette. Am 17. November 1911 traf sich eine Gruppe befreundetet Ingenieure im Wiener Grandhotel zum Mittagessen. Das Gespräch drehte sich um die neuesten Nachrichten. Die Neue Freie Presse, das bürgerliche Leibblatt, hatte ein kleines Erdbeben zu einem bedeutenden Ereignis aufgeblasen. Immer neue Augenzeugenberichte aus dem Kreis der Stammleser wurden gedruckt. Einer der Freunde – Arthur Schütz, ein Fachmann für Riementechnik – hatte plötzlich eine Idee. Hastig zog er sich ins Schreibzimmer des Hotels zurück, verfasste wie im Fieber einen Text zum Thema und schickte ihn per Boten in die Redaktion. 
Am nächsten Morgen stand in besagter Zeitung ein langer Artikel. Als Autor ist angegeben ein Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler, Assistent der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke. Der Beitrag beginnt mit einer wirren Aneinanderreihung von pseudo-kompetentem technischem Unsinn. Dann folgt eine erstaunliche Beobachtung: „Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, dass mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab.“ 
Der Verfasser hatte, sozialwissenschaftlich gesprochen, ein Feldexperiment gemacht. Er ging dabei von der Hypothese aus, dass ein Bericht veröffentlicht werde, sobald er nur „im Gewande der Wissenschaft schillere und von einem gut klingenden Namen gezeichnet sei“ sowie „den ausgefahrenen Gedankenbahnen des Publikums und der Mentalität des Blattes entspreche.“ Diese Hypothese konnte er verifizieren, dieses Mal und noch viele weitere Male. Schütz bereicherte die wissenschaftlich-technische Berichterstattung in der Folge um Betonwürmer und feuerfeste Kohlen, um ovale Wagenräder und Paraffinzündholzfabriken, um kupferne Isolatoren, Lokomotivvergaser, plombierte Zahnräder und viele andere Innovationen. 
Agricola hat in seinem wichtigen Werk über den Bergbau, 1556 unter dem Titel „De re metallica“ erschienen, jenen hölzernen Laufwagen beschrieben, den die Bergleute als „Hund“ bezeichnen. Inzwischen ist daraus ein pressetypologischer Begriff geworden. Ihre Züchter wollen die Kompetenz der Journalisten testen und ihre Ignoranz züchtigen. Und sie wollen zur kritischen Mediennutzung anregen.
Der „Vater“ des Grubenhunds war eine facettenreiche Persönlichkeit. Arthur Schütz, im Januar 1880 in Moskau als Sohn eines österreichischen Konsuls geboren, kam als Gymnasiast nach Wien. Gleich nach dem Studium eröffnete er dort ein eigenes Ingenieurbüro. Er erwarb mehrere Patente auf dem Gebiet der Riementechnik. Berufliche Reisen führten ihn durch ganz Europa – insgesamt soll der leidenschaftliche Automobilist in einem halben Jahrhundert mehr als zwei Millionen Kilometer zurückgelegt haben. Im Ersten Weltkrieg als Offizier innerhalb der Spionage-Abwehr aktiv, verarbeitete Schütz seine Erfahrungen im Geheimdienstmilieu später in einem Enthüllungsbuch, das noch heute lesenswert ist. Wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt, emigrierte er 1938 nach England, wo er kritische Beiträge gegen die Nazis veröffentlichte. 1946 nach Österreich zurückgekehrt, begleitete er bis zu seinem Tod im Februar 1960 die Nachkriegsentwicklung mit wachem Interesse. 
Seinen Wetteinsatz von tausend Zigaretten hat Schütz sich redlich verdient und seinen Platz in der Pressegeschichte sicher. Seine besten Zuchterfolge präsentierte er in dem Sammelband „Der Grubenhund“, der seit 1931 in mehreren Ausgaben erschienen ist. Besondere Sorgfalt legte er auf die Konstruktion der Köder: „Name, Stand des Absenders, äußere Form, Stil, Thema und vor allem der Tonfall müssen der geistigen Atmosphäre, dem Horizont und dem jeweiligen Bedürfnis der auserkorenen Redaktion angepasst sein.“ Der Köder wurde entsprechend der Blattlinie präpariert. Schütz spricht vom „Redaktionsaffekt“. 
Die Einsendungen zielten auf den blinden Fleck der Redaktionen. So wurde die antisemitische Deutschösterreichische Tageszeitung durch den Abdruck einer pseudowissenschaftlichen Warnung vor der Psychoanalyse Freud`scher Prägung bloßgestellt. Die Redaktion hatte die frei fabulierten Fachbegriffe sogar noch erläutert – es handelt sich also um einen journalistisch veredelten Grubenhund. Der Urheber dazu: „Jede Zeitung erhält den Grubenhund, den sie verdient.“ 
Medienzoologisch uninformierte Zeitgenossen verwechseln dieses trojanische Tier mit den vier Rädern gern mit der Zeitungsente, der schlichten Falschmeldung. Hier ist wichtig: Grubenhundzüchter bauen in ihre Texte immer Ironie-Signale ein, die mit gesundem Menschenverstand leicht zu erkennen sind. Deshalb gilt auch für Medienleute von heute immer noch die Warnung von den Hauseingängen im alten Rom: Cave canem – hüte dich vor dem Hund! 
Was das Ibiza-Video betrifft, so sind nicht die Medien in eine Falle getappt, sondern die politischen Akteure, die sich als Schwadroneure selbst entlarvt haben. Die Medien haben ihre undemokratischen Absichten öffentlich gemacht. Arthur Schütz, der ein Aufklärer war, hätte dies mit einem Wort kommentiert: Respekt!

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