WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Meister des Feuilletons

November 2023

Kaffeehaus, Theater, Exil – Lebensstationen von Alfred Polgar, der vor 150 Jahren in Wien geboren wurde.

 
Die lebenswerteste Stadt in Europa? Bei solchen Umfragen ist Wien häufig Spitzenreiter. Als Gründe werden dann gern das besondere Fluidum der Stadt oder auch Sehenswürdigkeiten wie der Stephansdom, die Hofburg und der Prater genannt. Kirchen, Denkmäler und Museen gibt es in vielen Orten. Eine Besonderheit Wiens sind jedoch die vielen Kaffeehäuser, die die Atmosphäre dieser Stadt prägen. 
Das Wiener Kaffeehaus ist eine Institution, deren Geschichte sich bis zu den Türkenkriegen im 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Eine Blütezeit erlebte diese Einrichtung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert in Form des Literatencafés. Im Griensteidl, im Herrenhof oder im Central trafen sich sowohl aufstrebende als auch etablierte Schriftsteller zum Gespräch, zur Arbeit und – nicht zuletzt – zum Lesen der vielen Zeitungen und Zeitschriften aus dem In- und Ausland, die dort, eingeklemmt in hölzerne Halter, auf sie warteten. 
Insbesondere das Café Central war für viele Autoren der Mittelpunkt ihres Lebens. Der Feuilletonist Peter Altenberg ließ sich sogar seine Post dorthin liefern. Zu den Stammgästen gehörte auch der Kritiker und Erzähler Alfred Polgar, der seine Beobachtungen 1926 in einem Essay mit dem Titel „Theorie des Café Central“ zusammenfasste. Einige seiner Kernthesen:
„Das Café Central ist […] kein Kaffeehaus wie andere Kaffeehäuser, sondern eine Welt­anschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen.“
„Das Café Central liegt unterm wienerischen Breitengrad am Merian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“
„Es gibt Schaffende, denen nur im Central nichts einfällt, überall anderswo weit weniger.“
Unter dem Familiennamen Polak am 17. Oktober 1873 geboren, wuchs Alfred Polgar als Sohn eines jüdischen Ehepaars ungarisch-slowakischer Herkunft in der Wiener Leopoldstadt auf. Seine Schulkarriere war kurz und nicht gerade erfolgreich. Jahre später muss er einräumen: „Meine Bildung besteht zum größten Teil aus Lücken.“ Zusammen mit Freunden besuchte er lieber das Café Griensteidl, in dem sich Schriftsteller, Publizisten und Musiker trafen. 
Als Berufsfeld wählte er ein Metier, in dem man sich auch ohne spezielle Ausbildung profilieren konnte: den Journalismus. Seine ersten Beiträge erscheinen anonym in der Wiener Allgemeinen Zeitung. Er lieferte zunächst Berichte aus dem Gerichtssaal und dem Reichsrat, bevor er dann immer mehr die Kultur ins Visier nahm. Erst die Musik, dann beschäftigte ihn vor allem das Theater, und 1902 wurde er zum Burgtheaterreferenten der Wiener Sonn- und Montagszeitung bestellt. Seine Kritiken fanden auch überregional Aufmerksamkeit, sodass Polgar schon bald auch regelmäßig in der neu gegründeten Berliner Zeitschrift Die Schaubühne (1918 umbenannt in Die Weltbühne) publizieren konnte.
Als Theater- und Literaturkritiker fand Polgar eine respektierte Position innerhalb der zeitgenössischen Journaille. Zu diesem Thema veröffentlichte er 1938 ein „Handbuch des Kritikers“. Der pompöse Titel verspricht allerdings mehr als das schmale Büchlein halten kann. Es bietet lediglich eine lockere Aneinanderreihung von Randnotizen, Anekdoten und Beobachtungen bei zeitgenössischen Theateraufführungen. Auch Aphorismen sind darunter: „Nie ist mein Senf besser, als wenn ich ihn nicht dazugebe.“ Bald versuchte er sich auch selbst als Bühnenautor, und zwar durchaus erfolgreich: Das zusammen mit Egon Friedell verfasste Lustspiel „Goethe“ erlebte im neu eröffneten „Cabaret Fleder­maus“ über 300 Aufführungen ohne Unterbrechung.
Sein eigentliches Metier war das Feuilleton. Der Begriff bezeichnet drei Bereiche: das Feuilleton als redaktionelle Sparte, als subjektiv getönte Stilhaltung und als Darstellungsform. Polgars Tätigkeit umfasst alle drei Aspekte. Vor allem als Meister der „Kleinen Form“ hat er sich einen Namen gemacht. Seine eleganten Prosaskizzen fanden Abnehmer bei immer mehr Zeitungen und Zeitschriften. Später erschienen sie dann gebündelt in Buchform. So ist es ihm gelungen, schreibt sein Biograf Ulrich Weinzierl, „die Schwelle zwischen Journalismus und Literatur zu überschreiten“. 
Zwischen 1908 und 1912 kamen drei Bände mit Prosaskizzen und Erzählungen heraus. Ein Jahrzehnt später entstanden viele Parodien und Satiren. Polgar nahm darin aktuelle Ereignisse in Politik und Kultur aufs Korn. Auch die Auseinandersetzung mit österreichischen Medien, etwa der Neuen Freien Presse, dem Lieblingsfeind von Karl Kraus, oder mit dem Skandal­blatt Die Stunde, scheute er nicht. Auf diese Gesinnungssatiren passt der Titel von Grabbes Komödie, die 1886 am Wiener Akademietheater uraufgeführt worden war: „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“. 
Mitte der zwanziger Jahre übersiedelte Polgar nach Berlin, wo er neben der Weltbühne auch das Tage-Buch mit Beiträgen versorgt. In der turbulenten Stadt bewegt er sich vornehmlich in Literaten- und Künstlerkreisen. Doch dann zieht es ihn zurück nach Wien, wo er 1929 seine Partnerin Elise Loewy heiratet. Im Jahr darauf verfasst er sein einziges größeres Drama: „Die Defraudanten“. Diese Komödie wird zwar in Berlin und Hamburg aufgeführt, ist aber nicht erfolgreich. Es folgen einige Film-Skripts, die aber nur zum Teil realisiert werden. 
Die Machtübernahme der Nazis im Frühjahr 1933 bedeutete einen tiefen Einschnitt im Leben Alfred Polgars: Wie viele andere jüdische und/oder politisch missliebige Autoren ging er ins Exil. Prag, Paris und Zürich waren die ersten Stationen seiner Odyssee, bevor er schließlich zusammen mit seiner Frau und zahlreichen anderen Zeit- und Leidensgenossen aus der schreibenden Zunft von Lissabon aus per Schiff nach Amerika ausreisen konnte. Die nächsten Jahre verbrachte er in Kalifornien, bevor er 1943 nach New York übersiedelte. Beruflich konnte er sich in der Emigration nicht etablieren, es blieb bei Gelegenheitsjobs. Am meisten setzte ihm zu, dass er jetzt auf fremde Hilfe angewiesen war. 
Im Frühjahr 1949 reiste Polgar, jetzt amerikanischer Staatsbürger, zurück nach Europa, und zwar in seine Wahlheimat Zürich. Er begann wieder, für deutschsprachige Zeitungen zu schreiben, und brachte einige Sammelbände auf den Weg. 1951 mit dem erstmalig verliehenen „Preis der Stadt Wien für Publizistik“ geehrt, zog es ihn dennoch nicht zurück in seine Heimatstadt. Am 24. April 1955 ist er, 81 Jahre alt, in Zürich an einem Herzinfarkt gestorben. 
Als langjähriger Wien-Besucher empfiehlt der Verfasser das Café Bräunerhof, das weiterhin ein großes Angebot der internationalen Presse präsentiert. Die abgeschabten Stoffbänke stammen wohl noch aus Zeiten Alfred Polgars, der im gleichen Haus viele Jahre gewohnt und darüber auch einen Essay geschrieben hat (Wien I, Stallburggasse 2). Mitbewohner damals waren übrigens Hugo von Hofmannsthal und Engelbert Dollfuß.

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