WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Journalist und Visionär

Oktober 2024

Wer war Theodor Herzl? Auf diese Frage würden die meisten Zeitgenossen wohl nur mit Achselzucken reagieren. War das nicht der Mann, der den Zionismus begründete und als „Vater des Judenstaats“ gelten kann? Eine solche Antwort wäre nicht falsch, trifft aber die geschichtliche Bedeutung dieses Mannes nur zum Teil. Herzl war nicht nur ein wirkmächtiger politischer Programmatiker, sondern auch ein hervorragender Journalist.
Die Anfänge seines Lebens im Telegrammstil: Geboren am 2. Mai 1860 als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Pest (Königreich Ungarn). Nach der jüdischen Grundschule dort zunächst Besuch der städtischen Realschule, dann Matura am evangelischen Gymnasium. Schon diese Schulkarriere verweist auf die Herkunft aus einem betont assimilierten Elternhaus. Bereits als Schüler verfasst er Rezensionen, die zum Teil anonym veröffentlicht werden. 1878 dann Umzug der Familie nach Wien.
Der junge Herzl möchte Schriftsteller werden, studiert aber zunächst Jura – nicht mit Begeisterung, aber erfolgreich. Keinen Erfolg hat er mit den Lustspielen, die er während des Studiums verfasst. Deshalb versucht er sich an Prosatexten, schreibt Reportagen und Feuilletons. Dadurch macht er sich im Laufe der Zeit einen Namen, und über diesen Umweg gelingt es ihm im März 1889 sogar, ein Stück ans Burgtheater zu bringen. Der große Durchbruch als Theaterautor bleibt aus; und so schreibt er als freier Mitarbeiter Reiseberichte und Glossen für diverse Zeitungen und Zeitschriften. 
Wien ist damals ein Tummelplatz für Feuilletonisten. Vor allem die Kaffeehäuser sind ihre Treffpunkte. Der Begriff Feuilleton bezeichnet zum einen Darstellungsformen wie Plauderei, Glosse oder Skizze. Zum anderen ist damit eine subjektiv getönte Stilhaltung gemeint. Der Übergang von Journalismus und Literatur ist hier fließend. Auch deshalb wurden und werden bis heute viele Feuilletons gesammelt in Buchform herausgegeben.

Korrespondent in Paris
In den Anfangsjahren seiner journalistischen Tätigkeit musste Theodor Herzl von den schwankenden Honoraren als freier Mitarbeiter leben. Mehr schlecht als recht, zumal er, seit 1889 verheiratet, bald neben seiner Frau noch mehrere Kinder zu versorgen hatte. Da kam das Angebot der Neuen Freien Presse sehr gelegen: Ab 1891 sollte er für dieses bürgerlich-liberale österreichische Leitmedium mit einem Fünfjahresvertrag als Korrespondent aus Paris berichten. Damit war er jetzt beruflich etabliert. 
Herzl stürzt sich in die Arbeit. Neben den aktuellen Berichten über Attentate und Affären, über Theater, Kunst und Literatur liefert er ausführliche Reportagen und Analysen über das politische Leben in Frankreich. Als akkreditierter Parlamentsjournalist schildert er die Aktivitäten der Abgeordneten und spart dabei nicht mit Kritik an der Gleichförmigkeit der Debatten. Als Frankreich-Korrespondent hat er nicht nur die Hauptstadt im Blick, sondern das ganze Land. Unter dem Titel „Das Palais Bourbon“ sind viele dieser Beiträge auch in Buchform erschienen (Leipzig 1895). 
Von besonderer Bedeutung – auch für Herzls späteren Lebensweg – war der Fall Dreyfus, der international Aufsehen erregte. Alfred Dreyfus, ein Hauptmann jüdischer Abstammung im französischen Heer, war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Es bedurfte zweier weiterer Verfahren, bis er 1906 schließlich freigesprochen und rehabilitiert wurde. Diese Affäre offenbarte den tiefsitzenden Antisemitismus in weiten Kreisen der Bevölkerung und bewirkte auch bei Theodor Herzl eine Umorientierung. War er zunächst ein Vertreter des assimilierten Judentums, das ihm von Jugend an vertraut war, so sieht er diese Strategie später immer mehr als gescheitert an. In seinem Buch „Der Judenstaat“, 1896 in Wien erschienen, entwickelt er die Idee eines eigenen jüdischen Staates. Zusammen mit Gesinnungsgenossen organisiert er im folgenden Jahr den ersten Zionistischen Weltkongress, auf dem er dann zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt wird. Ziel ist die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina.

Feuilletonchef in Wien
Nach der Rückkehr aus Paris wird er 1895 bei der Neuen Freien Presse Leiter des Feuilletons. Die Kulturberichte erscheinen damals täglich auf den ersten Seiten „unter dem Strich“, das heißt optisch getrennt von der allgemeinen Berichterstattung. Seine Beiträge finden große Resonanz. Und es gelingt ihm, neben den bewährten Mitarbeitern auch vielversprechende neue Autoren zu gewinnen.
Stefan Zweig bezeichnet in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ das Feuilleton der Neuen Freien Presse als „Heiligtum“. „Hier durften nur die Autoritäten, die schon lange Bewährten zu Wort kommen, ihr Ja oder Nein entschied für Wien den Erfolg eines Werks, eines Theaterstücks, eines Buches und oft eines Menschen.“ Die erste Begegnung mit dem Feuilletonchef schildert er so: „Theodor Herzl erhob sich, um mich zu begrüßen; er sah wirklich königlich aus mit seiner hohen, freien Stirne, seinen klaren Zügen, seinem langen, fast bläulich schwarzen Priesterbart und seinen tiefbraunen melancholischen Augen.“ Die Zusage, den angebotenen Text zu drucken, war für Zweig im Rückblick „als ob Napoleon auf dem Schlachtfelde einem jungen Sergeanten das Ritterkreuz der Ehrenlegion anheftete“. 
Der Versuch Herzls, die eigene Zeitung für seine zionistischen Ziele zu gewinnen, war nicht erfolgreich. Die beiden Herausgeber, obwohl selbst Juden, lehnten den Zionismus ab. Folglich fährt Theodor Herzl in den nächsten Jahren zweigleisig. Einerseits schreibt er weiterhin brillante journalistische Artikel in der Neuen Freien Presse, jetzt verstärkt über die Stadt Wien und ihre Menschen, über den technischen Fortschritt und über kulturelle Entwicklungen.

Einsatz für den Zionismus
Andererseits engagiert er sich für den Zionismus und gründet dafür eine neue Wochenzeitung mit dem Titel Die Welt. „Die Sache, der wir dienen, ist groß und schön, ein Werk des Friedens, die versöhnende Lösung der Judenfrage“, heißt es im programmatischen Eröffnungsartikel. Und unter dem Titel „Altneuland“ entwickelt Theodor Herzl 1902 in einem utopischen Roman das Zukunftsbild eines jüdischen Staates, der dann gut vierzig Jahre später eine bis heute umkämpfte Realität werden sollte.
Der Autor ist nach einem Herzleiden schon lange vorher gestorben: am 3. Juli 1904, kurz nach seinem 44. Geburtstag, in einem Sanatorium in Edlach an der Rax. In seinem Testament steht: „Ich wünsche … in einem Metallsarg neben meinem Vater beigesetzt zu werden und dort zu liegen, bis das jüdische Volk meine Leiche nach Palästina überführt.“ So ist es geschehen. Und der Ort mit seinem Grab in Jerusalem heißt heute Herzlberg. 
Auch der Journalist wurde nicht ganz vergessen: Seit dem Jahr 2000 ist eine „Dozentur für die Poetik des Journalismus“ am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien nach ihm benannt; sie wird im jährlichen Wechsel von profilierten Journalistinnen und Journalisten wahrgenommen.

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