Heimkehr eines Weltenbummlers
Wohnen im Wald – Wolfgang Büscher an den Orten seiner Kindheit
Dieser Mann hat weite Wege zurückgelegt: Er ist von Berlin nach Moskau gewandert, hat zu Fuß Deutschland umrundet und die USA vom Norden Dakotas bis zum Rio Grande an der Grenze Mexikos im Süden durchquert. Die Bücher, die daraus entstanden sind, wurden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Auch der Filmemacher Werner Herzog, selbst ein großer Wanderer, hat die exzellente Prosa dieses Autors gelobt.
Zog es Wolfgang Büscher in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem in die Ferne, so lag sein letztes Ziel ganz in der Nähe: „Heimkehr“ – sein neues Buch schildert die Rückkehr in das Land seiner Kindheit. Gleich auf der ersten Seite begegnet er sich selbst: Im fast leer geräumten Haus seiner Mutter, das jetzt zum Verkauf steht, hängt an den nackten Wänden noch ein von den Möbelpackern vergessenes Bild: Im Rahmen ein Porträtfoto des Achtjährigen in Lederhose, ein „Junge mit Seitenscheitel, vollen Lippen, voller Blick, pures Schauen, ohne jedes Lächeln, das fotografierten Kindern sonst abverlangt wird“.
Es ist vor allem eine Heimkehr in die vertraute Umgebung seiner Kindheit und Jugend, die waldreiche Gegend im Norden Hessens. Wenn die Schule aus war, ist er dort mit Freunden durch das Unterholz gestreift. Die Waldhütten, die sie gebaut hatten, boten allerdings Schutz nur für kurze Zeit – bald schon hatten sie der Förster oder die Waldarbeiter wieder zerstört. Dieses Problem hat der Autor diesmal nicht: Er kann in einer Jagdhütte wohnen, die ihm der Eigentümer, ein Erbprinz und Großgrundbesitzer, über mehrere Monate zur Benutzung überlassen hat. „Alles äußerst schlicht, kein fließendes Wasser, kein elektrisches Licht, überhaupt kein Strom. Latrine“, so beschreibt dieser die spartanische Unterkunft. Der Eigentümer wird namentlich nicht genannt. Wie die Recherche ergibt, handelt es sich um Carl-Anton Prinz zu Waldeck und Pyrmont.
Büscher schildert anschaulich sein Hüttenleben im Wald: den Verlauf der Tage, Wochen und Monate, die Rhythmen des Jahres in der Natur. Dabei werden alle Sinne aktiviert: Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. Eine präzise Prosa ohne falsches Pathos, kein Jägerlatein. Das ist nicht selbstverständlich: Nur zu leicht gerät man beim Thema Wald in extreme Regionen. Auf der einen Seite die Klage über schwindende Biodiversität: Waldsterben und Artenrückgang, eine Geschichte des Niedergangs. Auf der anderen Seite Lob und Preis auf traditionsgeschwängerte Ursprünglichkeit, sentimentaler Seelenkitsch oder Werbung für esoterisch aufgeladene Kraftorte à la Waldbaden und Ähnliches.
Den realistischen Blick geschärft hat der häufige Umgang mit dem Förster, der im Auftrag des Prinzen den Wald betreut. Ihm verdankt der Autor viele Informationen über Flora und Fauna, über Baumwuchs und Waldpflege, über Hase, Waschbär, Iltis, Rötelmaus und Wildschwein – und über das Leben und Sterben der Rehe jenseits aller Bambi-Romantik. Eine der Wanderungen führt in den an Geburtsort. Das Wiedersehen der alten Erfahrungsräume ist allerdings desillusionierend: „Man soll seine Erinnerungen nicht besuchen, es ist immer enttäuschend.“ Aber die Streifzüge durch die heimatliche Region führen auch zu neuen Entdeckungen, etwa zur Rolle des alle drei Jahre veranstalteten Schützenfestes in einem Nachbarort.
Wie ein Ethnologe beobachtet der Besucher das Zeremoniell. Der Schützenoberst und seine Truppe mit den geschulterten Holzgewehren, der Schützenkönig in Paradeuniform mit den Insignien seiner Würde – alle spielen ihre Rollen mit heiligem Ernst. Die Mitgliedschaft im Schützenverein ist für die Männer des Dorfes Ehrensache. Und ein Insider gibt erläuternde Hinweise, zum Beispiel über den Unterschied zwischen Stadt und Land: „In der Stadt bist du, wenn du fünf Bier getrunken hast, ein Alkoholiker. Im Dorf bist du der Fahrer.“
Die Reise zurück in das Land der Kindheit gewinnt eine spezielle Bedeutung durch häufige Besuche bei der alten Mutter, die jetzt in einem Heim lebt und das Bett nicht mehr verlassen kann. Der Sohn begleitet sie in der letzten Phase ihres Lebens. Die Mutter war immer im Ort geblieben. Sie hatte, anders als ihre älteren Brüder, keine Ausbildung erhalten, sondern ihre eigenen Eltern versorgt. Dafür erbte sie das Haus. Erst der Sohn hatte sich aus solchen Traditionsketten gelöst und in der großen Stadt ein neues Leben begonnen. Als Journalist hat er sich in Berlin einen Namen gemacht. Mobilität statt Stabilität – Mutter und Sohn führen ein Leben im Kontrast. Die Kapitel über die Mutter zeugen von nachgetragener Liebe und sind besonders beeindruckend. Es ist kein Zufall, dass dieses Buch sowohl der Mutter als auch der Großmutter des Autors gewidmet ist.
Wolfgang Büscher kann seine berufliche Prägung auch als Waldbewohner nicht verleugnen. Als er von der Nazi-Vergangenheit des Großvaters des jetzigen Erbprinzen erfährt, geht er diesen Informationen nach und erfährt viele biografische Details. Aber auch in diesem Fall zeigt er sich als Chronist, der Nähe und Distanz wohl zu dosieren weiß.
Dieses Buch zeugt von bemerkenswerter Weltklugheit. Erstaunlich allerdings, dass ein Vorgänger an keiner Stelle erwähnt wird: Henry David Thoreau, der sich vor gut 170 Jahren in eine Hütte am Walden-See in Concord/Massachusetts zurückgezogen und darüber ein grandioses Buch geschrieben hat. In viele Sprachen übersetzt, wird es immer wieder neu aufgelegt.
Buchtipp
Wolfgang Büscher
Heimkehr
Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2020, 204 Seiten
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