Martin Purtscher

* 12. November 1928 in Thüringen, war von 1987 bis 1997 Landeshauptmann von Vorarlberg und davor seit 1974 Präsident des Vorarlberger Landtags. In seiner Antrittsrede als Landeshauptmann am 9. Juli 1987 hatte der studierte Jurist mit dem Themenkomplex Europa, den Vorarlberger Illwerken sowie der Gründung der Fachhochschule Vorarlberg seine politischen Schwerpunkte festgelegt. Insbesondere auf europapolitischer Ebene tat sich Purtscher von Anfang an als Verfechter eines Beitritts zur EG hervor.

mehr europa wagen!

Juli 2021

Die europäische Gemeinschaft ist in einer entscheidenden Phase.

Das Umfeld der EU hat sich dramatisch verändert. Auf der Weltbühne ist der Aufstieg Asiens offenkundig; zwei Drittel der Welt werden diktatorisch oder autokratisch regiert, nur ein Drittel liberal und demokratisch. Die neben den USA für die europäische Gemeinschaft wichtigsten Machtplayer gehören nicht zu den liberal regierten Staaten. Vor allem China wird das künftige Weltgeschehen entscheidend mitbestimmen, das Reich der Mitte hat im Jahr 2021 bereits eine Milliarde Menschen mehr als alle 27 Länder der Europäischen Union zusammen. China ringt mit den USA nicht nur um die wirtschaftliche Vormachtstellung. Doch wo bleibt da Europa?
Sicherlich ist die europäische Gemeinschaft in einer entscheidenden Phase, denn kritische, gigantische Entscheidungen stehen bevor: die Ziele des Corona-Wiederaufbaufonds und dessen Kontrolle, der Abbau der hohen Arbeitslosigkeit, die Prozesse zur Wiederankurbelung der Wirtschaft, die Bewältigung der Riesen-Defizit-Budgets der Länder, das Verfahren der künftigen Bestellung der EU-Organe, die richtige Quotenregelung für die Zuwanderung, die Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips, das wichtige Lösungen lähmt. Aber eben vor allem: Die EU darf sich in der neuen Weltordnung mit ihren Machtverlagerungen – China versus USA – nicht in die Peripherie drängen lassen, sondern muss ein wichtiger Akteur, ein potenter Mitgestalter bleiben! Es gilt, im Wettbewerb die EU auch künftig als enorme Wirtschaftsmacht noch wahrnehmen zu können.
Was ist also zu tun? Das bisherige Beharren auf nationaler Zersplitterung der Außenpolitik ruft beispielsweise dringend nach einer Vertiefung der EU durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die erkennbare Haltung der EU gegenüber der Außenwelt erzwingt eine außenpolitische Plattform der Regierungschefs, deren Sprecher ein wirklicher EU-Außenminister wäre. Die berühmte Frage, „wen muss ich anrufen, um die EU-Meinung zu erfragen?“ offenbart die Dringlichkeit einer Aussage-kräftigen und -ermächtigten EU-Repräsentanz! 
Wichtig erscheint mir auch, eine Partnerschaft mit Russland anzustreben, trotz der durch die Krim- und Ukraine-Krise entstandenen Entfremdung. Russland ist europäisches Kulturland – Schriftsteller, Musiker, Maler und andere haben Europas Kultur bereichert. Die EU sollte die Idee Gorbatschows einer Freihandelszone von Wladiwostok bis Gibraltar mit einer globalen, gemeinsamen Sicherheitsallianz aufgreifen. 
Freihandelsabkommen mit Japan, Australien, Singapur und Mexiko würden diese Märkte für beide Seiten öffnen. Die mit der Türkei seit vielen Jahren geführten Beitrittsgespräche können durch die autokratische, antidemokratische Entwicklung mit Richtung der Staatsführung im Sinne des Koran mit Scharia nicht zu einem Beitritt führen. Die bisherige sinnvolle wirtschaftliche Koordination könnte vertieft werden, sofern nicht unerfüllbare Bedingungen daran geknüpft werden. Eine Partnerschaft mit Afrika ist unerlässlich, ein Kontinent mit einer explosiven Bevölkerungszunahme. Die EU darf Afrika, dessen vor allem aktive Elemente der Bevölkerung mit ihrer großen Sprengkraft sich im wohlhabenden Europa eine neue Heimat suchen, nicht den dort seit langem sehr aktiven Chinesen überlassen. Der indische Subkontinent mit der größten Demokratie der Welt und den meisten englisch-sprechenden Bewohnern ist Europas Ressource für Technologie und Geisteswissenschaften.
Europa ist mehr als eine 2500 jährige Historie von Tragödien und Triumphen: Europa ist eine Idee und eine Kultur- und Wertegemeinschaft. Doch in der Entwicklung der Gemeinschaft gab und gibt es mehrere Krisen, ausgelöst durch interne und externe Einflüsse. 
Zwei Beispiele: So wurde eine Vertrauenskrise beispielsweise durch die sträfliche Vernachlässigung des im Vertrag von Maastricht verankerten Subsidiaritätsprinzips bewirkt. Banale Vorschriften (etwa die Traktorensitz-Gestaltung) erregten viel Unmut und waren – aus meiner Sicht – teils auch eine Auswirkung von zu vielen Kommissaren. Eine interne, gravierende Belastung durch nationale Befindlichkeiten ist der „Wanderzirkus des EU-Parlaments“ zwischen Straßburg und Brüssel, der mit jährlich über 200 Millionen Euro nicht nur einen enormen finanziellen Aufwand erfordert, sondern auch viel Zeit beansprucht.
Kleinliche Regelungsvorschriften weckten destruktive Kräfte, aber auch manche Kritik an der Globalisierung gaben dem Nationalismus Auftrieb. Die nationalen Egoismen waren der Humus für Protestbewegungen. Doch die nationalistischen Tendenzen können nicht die Zukunft Europas sein! Wie der US-Soziologe Daniel Bell richtig analysiert, ist der Nationalstaat von heute „zu klein für die Lösung der großen Probleme – und zu groß für die kleinen Probleme.“
Die im Frühjahr 2021 erfolgte Befragung der Europäer zu ihrer Einstufung der EU ergab eine ernüchterndes Ergebnis: Nicht einmal die Hälfte der Österreicher vertrauen der europäischen Gemeinschaft! Nur in Griechenland (63 Prozent) und in Ungarn (59 Prozent) ergab die Befragung noch ein höheres Misstrauen; in allen anderen Staaten ist das Vertrauen in die Union dagegen gestiegen, trotz Büchern wie „Götterdämmerung“ von Ivan Krastev oder „China am Ziel – Europa am Ende?“ von Christoph Leitl. 
Doch an die Skeptiker der Gemeinschaft ist die Frage zu stellen: Haben sie auf die unbestrittene, deutliche Wohlstandsverbesserung durch die Teilnahme am Binnenmarkt, auf die Freizügigkeit des Reisens vom Nordpol bis Gibraltar, auf die Vorteile des Euro und andere spürbare Vorteile völlig vergessen? Selbst die NZZ – die Elitezeitung der Schweiz – schreibt, dass die Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt „eine Erfolgsgeschichte“ ist! In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat die EU bewiesen, auch große Krisen bewältigen zu können. Aber es ist vor allem das Dreiviertel-Jahrhundert Frieden auf diesem einst so blutgetränkten Kontinent, das die EU als Friedensgemeinschaft als entscheidende Errungenschaft auszeichnet.
Der Europatag im heurigen Mai war der Auftakt zu einer Teilnahme aller EU-Bürger und Bürgerinnen am Prozess der Zukunftsgestaltung der EU. Im kommenden Jahr sollen die Resultate in einer Zukunftskonferenz präsentiert und die entsprechenden Entschlüsse getroffen werden. Ich hoffe, dass sich viele mit Anregungen und Vorschläge in die Zukunftsdiskussion einbringen im Sinne der Worte von Willy Brandt: „Wir müssen mehr Europa wagen!“

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