Martin Purtscher

* 12. November 1928 in Thüringen, war von 1987 bis 1997 Landeshauptmann von Vorarlberg und davor seit 1974 Präsident des Vorarlberger Landtags. In seiner Antrittsrede als Landeshauptmann am 9. Juli 1987 hatte der studierte Jurist mit dem Themenkomplex Europa, den Vorarlberger Illwerken sowie der Gründung der Fachhochschule Vorarlberg seine politischen Schwerpunkte festgelegt. Insbesondere auf europapolitischer Ebene tat sich Purtscher von Anfang an als Verfechter eines Beitritts zur EG hervor.

„EUROPA ERWACHE!“

Juni 2021

Europa erwache!“ – Diesen flammenden Appell hatte Winston Churchill 1946 in seiner historischen Rede in der Universität Zürich an die europäischen Länder gerichtet, nach den schmerzlichen Erfahrungen des zweiten Weltkrieges den Frieden durch Gründung von „vereinigten Staaten“ in Europa zu sichern. Die große Sehnsucht nach Frieden aber hatte schon Jahrhunderte zuvor große Denker zu ähnlichen Forderungen bewogen, beispielsweise Abé de Saint Pierre, Rousseau, Kant, Mazzini, Viktor Hugo, Berta von Suttner und andere.
Ein Historiker hat ermittelt, dass auf diesem blutgetränkten, europäischen Kontinent im Laufe der letzten 500 Jahre 132 Kriege stattgefunden haben. Das Gründungsmotiv der europäischen Gemeinschaft war nach den 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges Frieden, das durch die Angst vor der Bedrohung durch den Kommunismus verstärkt wurde. Spenglers Buch „Untergang des Abendlandes“ oder Toynbees „Große Weltgeschichte“ sahen Europa im 20. Jahrhundert in seiner Endphase.
Die Missachtung, ja Ablehnung der Grundwerte durch die diktatorischen Systeme des Kommunismus und des Nationalsozialismus, deren Klassenhass und Rassenwahn führten zu einem Inferno von Morden und Kriegen, zu einem „satanischen Requiem“ mit über 100 Millionen Toten. Sir Carl Popper schrieb in die „Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ zu Recht, dass „alle Heilslehren, die den Himmel auf Erden versprochen haben, zur Hölle führten“.
Die europäische Gemeinschaft ist eine Friedensgemeinschaft: Seit 76 Jahren genießen wir Frieden, doch diese wichtigste Errungenschaft ist vergessen, weil – außer für jene, die noch Kriegszeiten erlebten – Frieden eine Selbstverständlichkeit ist.
Doch Europa ist mehr als eine 2500 jährige Historie von Tragödien und Triumpfen: Europa ist eine Idee: Die EU ist auch Kultur- und Wertegemeinschaft. Kein Kontinent hat durch seine geistigen Kräfte so viel Einfluss auf andere Kontinente ausgeübt.
Die fundamentalen Wurzeln Europas werden oft mit den drei historischen Hügeln symbolisiert: Akropolis (Athen) – die Philosophie der Griechen mit der Idee der Freiheit – Capitol (Rom) – die Philosophie des Ordnungsprinzips und des Rechtssystems der Römer– Golgotha (Jerusalem) – die Ethik des Christentums mit der unantastbaren Menschenwürde: Freiheit, Ordnung, Menschenwürde sind die Bausteine europäischer Kultur, ergänzt mit der Aufklärung in Richtung Säkularisierung und Humanismus im Sinne des „sapere aude“ (Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!). Jaques Delors, Präsident der Gründerzeit schlug vor, der europäischen Gemeinschaft eine „Seele“ zu geben, und er hat die Kirchen und Religionsgemeinschaften eingeladen, sich am Integrationsprozess zu beteiligen. Am Beginn der europäischen Einigung ging die Bindungskraft von Kultus und Kultur aus, doch trotz der Historie und den christlichen Gründervätern konnte sich die katholische Kirche nicht mit einem Hinweis auf die christlich-abendländischen Wurzeln in der Präambel der EU durchsetzen. Und wir dürfen ruhig dazu sagen, dass gerade der Bodensee eine der Quellen des Abendlandes war, in der die drei Ströme der Antike zusammenflossen. Von der Reichenau und von St. Gallen ging nicht nur eine Glaubensbotschaft aus, sondern auch eine neue Kultur, ein neues, ein europäisches Bewusstsein, das damals zeitgemäß in der Idee eines übernationalen Heiligen Römischen Reiches konkretisiert wurde. 
Die Gründerväter der EU hatten Visionen, die der Realität leider nicht standhielten, vor allem die Werte der Solidarität und Toleranz. Ein Identitätsbruch entstand durch die Globalisierung, die Öffnung zur Welt, die manchen Bürgern suspekt erscheint. Dies führte zu mehreren Krisen in der Entwicklung der Gemeinschaft, ausgelöst durch interne und externe Einflüsse. 

Der europäische Kontinent in Friede, Freiheit und Gerechtig­keit ist weder voll verwirklicht noch für immer gesichert.

Eine Stärkung der EU durch Erweiterung sollte nicht nur die Position Europas in der sich wandelnden Welt erfahren, sondern den vom Real-Sozialismus befreiten Ländern die Rückkehr zu westlichen Werten sichern. Doch die Osterweiterung um zehn Länder ab 2004 erwies sich bei der Integration einiger ehemaliger Sowjetsatelliten, vor allem von Rumänien und Bulgarien, als Problem. Aus meiner Sicht wurde vor allem versäumt, als Bedingung für den Beitritt die Aufhebung, zum mindesten eine wesentliche Erweiterung des Einstimmigkeitsprinzips, das wichtige Problemlösungen lähmt, durchzusetzen.
In Erwartung der vielen Milliarden, welche die Nettoempfänger Polen und Ungarn erhalten, wären die grundlegenden Werte der Rechtsstaatlichkeit wohl nicht in Frage gestellt worden. 2008/2009 gelang es noch in der Weltwirtschaftskrise, den Euro zu schützen, doch die Blockade der Einstimmigkeit behindert essenzielle Zukunftsentscheidungen. Die Lehren aus der Osterweiterung sind für die zu überlegenden Erweiterungsschritte zu beachten. Die weiche Südostflanke Europas, in der die Chinesen stark investieren, ist zu stabilisieren. Sind bereits erfolgte Zusagen vertretbar und realisierbar?
Die EU hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine Reihe von Krisen bewältigt: Euro-Krise, Überschuldung der Südstaaten, Migration, Brexit, Pandemie – trotz vieler Zentrifugalkräfte. Während die Euro-Krise ein Konflikt zwischen Nord- und Südeuropa ist, bedeutet die Krise der Migration einen Konflikt zwischen West- und Osteuropa. Bei der Lösung der Migration (klare Trennung zwischen Asylwerbern und Zuwanderern), ist auf den Abstieg Japans zu verweisen, das sich gegen Zuwanderung verschloss. Es ist ein deutlicher Fingerzeig, dass eine dynamische Wirtschaft bei stagnierender Bevölkerung neue vitale Impulse braucht.
Der europäische Kontinent in Friede, Freiheit und Gerechtigkeit ist weder voll verwirklicht noch für immer gesichert. Es ist auch unsere Aufgabe, an der EU-Gemeinschaft, die uns ein Dreiviertel-Jahrhundert Frieden und Wohlstand gebracht hat, mitzuarbeiten im Sinne des berühmten Kennedy-Appells: Fragt nicht nur, was Europa für uns tun kann, fragt, was wir für Europa tun können! Ein Beitrag zum Beispiel wäre schon, die Argumente der EU-Skeptikern zu widerlegen. 
Die Meisterung dieser Vielzahl von zu erwartenden Krisen im Geiste der Solidarität und Toleranz wird über die Zukunft der Gemeinschaft entscheiden. Europa ist nicht „am Ende“, wohl aber in einer „Feuerprobe“ von Herausforderungen im Sinne des Appells: Europa erwache!
Ich habe Vertrauen in die Zukunft der EU, die so viele kritische Hürden überwunden hat, und ich bleibe Optimist im Sinne der Worte der Zuversicht Hölderlins: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

Im zweiten Teil seines Europa-Essays schreibt Alt-Landeshauptmann Martin Purtscher in der Juli-Ausgabe über aktuelle europäische Herausforderungen und Problemfelder.

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