Christiane Mähr

Unternehmens- und Kommunikationsberaterin

Sehnsucht – oder: Ein Sommer wie damals

Juli 2021

Früher war auch nicht alles besser. Dennoch setzt man Jahre später oft die rosarote Brille auf und erinnert sich sehnsüchtig an die guten alten Zeiten – seit Corona sowieso. Stellt sich die Frage: Können wir unsere Sehnsucht nutzen, um die Welt von morgen besser zu machen?

Frühmorgens stieg man in das schon am Vorabend vollgepackte Auto. Manchmal war es sogar noch dunkel, was die Vorfreude auf den Urlaub im Süden noch größer werden ließ – zumindest bei uns Kindern. Den Eltern ging es einzig darum, all den anderen Urlaubern möglichst viele Kilometer voraus zu sein. Dass man schlussendlich doch fast immer irgendwo im Stau gestanden ist, hat man aus den Erinnerungen an die fabelhaften Ferien in Lignano oder sonst wo an der italienischen Riviera verdrängt. Andere wiederum zog es in den heimischen Süden, an einen der herrlich warmen Kärntner Seen vielleicht oder in die Berge zum Wandern. Oft ließ man sich im selben Hotel nieder.
So wussten Mama und Papa, was sie erwartet. Der Nachwuchs traf alle Sommer wieder dieselben Kinder, und man wurde für einige Wochen zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, um danach ein Jahr lang nichts voneinander oder nur alle paar Wochen per Brief das Neueste zu erfahren. Ja, damals gab es noch Brieffreundschaften – so richtig mit Hand geschrieben, ins Kuvert gesteckt, Briefmarke draufgeklebt, und ab ging die Post. Dann hieß es: Warten. Denn die Antwort war nicht nur einen Klick entfernt.

Nostalgisch betrachtet

All diese Erinnerungen – und viele zum Teil unbewusste mehr – lassen eine Sehnsucht in uns hochkommen. Nicht nur nach einem Sommer wie damals, sondern nach der „guten alten Zeit“. Dass früher nicht alles besser war, ist so gut wie jedem bewusst. Das war schon vor Corona der Fall. Und einige sind sich auch darüber im Klaren, dass es so, wie es vor der Pandemie war, nicht mehr weitergehen konnte und kann. Dennoch hat Corona so stark wie nie zuvor Sehnsüchte in fast jedem von uns (wieder) hervorgerufen. Viele schwelgen dabei gar nicht so sehr in Kindheitserinnerungen, sondern wollen schlichtweg die Zeit vor Corona zurückhaben. Die Menschen sehnen sich danach, ohne Ein- und Beschränkungen, ohne Vorschriften und Verbote, ohne Masken und den „3 G“ ihr Leben zu leben. Die Normalität – was immer das sein mag – ist in den Mittelpunkt der Sehnsucht gerückt.
Wie aber können wir dieses ungestillte, innige und zudem oft schmerzliche Verlangen befriedigen? Und vor allem: Was wollen uns unsere Sehnsüchte sagen? Per definitionem ist Sehnsucht ein inniges Verlangen nach Personen, Sachen, Zuständen oder Zeitspannen. Sie ist mit dem Gefühl verbunden, den Gegenstand der Sehnsucht nicht erreichen zu können, und somit an sich Ausdruck einer grundsätzlichen Unzufriedenheit. Entsprechend steckt in diesem Gefühl auch eine tiefe Leidenschaft. Kann es sein, dass Sehnsucht Leiden schafft? Oder ist das schlichtweg „Wortklauberei“?
Fakt ist: In der Sehnsucht steckt meist etwas Nostalgisches, ja fast schon Schmerzhaftes. Und man darf sich durchaus fragen: Warum tun wir uns das an? Im Englischen ist das Wort Sucht übrigens kein Teil der Sehnsucht – wie auch immer es übersetzt wird: ob longing, yearning, hankering, desire oder nostalgia. All diese Wörter haben ebenfalls etwas Trauriges, etwas Sehnendes, etwas Verlangendes. Niemals jedoch ist es eine Sucht. Warum sind wir im deutschsprachigen Raum süchtig nach der Vergangenheit und hegen gleichzeitig den Wunsch nach stetigem Fortschritt? Laufen wir vielleicht Gefahr, uns in einer Art „Suchtspirale“ zu verfangen, die uns unweigerlich und immer mehr in den Abgrund zieht? Oder aber schöpfen wir aus dieser sehnsüchtigen Betrachtung der Vergangenheit derart viel Kraft, sodass wir uns eine bessere Zukunft erschaffen können?

Mutmacher Sehnsucht

In Tennessee Williams Klassiker „A Streetcar Named Desire” – oder zu Deutsch „Endstation Sehnsucht“ – geht es unter anderem um die Konfrontation zwischen rückwärtsgewandter Nostalgie und progressivem Zukunftsoptimismus. Und nein, Sehnsucht sollte nie nur ein Nachtrauern vergangener Tage sein. Vielmehr gilt es, aus dem nostalgisch und traurig angehauchten Verlangen Mut zu schöpfen und ins Tun zu kommen. Wie also können wir dieses Sehnen ins Morgen tragen? Wie können wir aus der schöpferischen Kraft der Sehnsucht nach dem Gestern eine kraftvolle Vision für das Morgen erschaffen? Wie können wir die rosarote Brille, mit der wir den Blick in die Vergangenheit richten, nutzen, um uns in eine positive, eine bessere Zukunft zu katapultieren? Eine Zukunft, die wir selbst gestalten, in der wir selbst ins Tun kommen?
Die Antworten auf all diese Fragen sind nicht nur vielfältig, sondern vor allem sehr persönlich. Bei dem einen geht es um rein private Dinge, der andere sehnt sich beruflich nach Veränderung oder gar nach einem kompletten Neuanfang. Manchen geht es um die eigene Gesundheit, anderen um das Wohlergehen unseres Planeten. Welche Bereiche unseres Lebens auch immer ins Zentrum unserer Sehnsüchte gerückt werden, entscheidend ist, dass wir herausfinden, was wir tatsächlich im Morgen und Übermorgen begehren. Und dabei dürfen wir durchaus konkret werden. Denn sich schlichtweg ein besseres Leben zu wünschen, bringt niemanden weiter. Die Vergangenheit war ebenso wenig schwarz oder weiß, sondern kunterbunt, wie das Leben halt so ist.

Endstation Zukunft

Schwelgen wir nicht nur in den Erinnerungen, während wir auf bessere Zeiten warten! Nutzen wir doch die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“, um eine andere, eine neue, eine noch bessere Zukunft zu kreieren – für uns und die nächsten Generationen! Schließlich sollen sich Letztere ja auch irgendwann nach besseren Tagen sehnen und aus den Erinnerungen an den unbeschwerten Familienurlaub am Strand oder in den Bergen Kraft schöpfen können.

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