Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Sozialdemokratische Politik? Eine Vermisstenanzeige

Juli 2023

Wie kommt es, dass ich die sozialdemokratische Partei für die wichtigste und wertvollste Partei halte, sie aber in den vergangenen 40 Jahren nur einmal gewählt habe? Um die beiden Fragen zu beantworten, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Arbeiterbewegung, aus der sich die 1889 gegründete sozialdemokratische Partei herausentwickelt hat, eine Reaktion und Antwort auf die das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert beherrschende „soziale Frage“ war. Die Verelendung der Massen beschäftigte im 19. Jahrhundert Gelehrte und Politiker gleichermaßen, mit einiger Verspätung sogar den Papst. 1918 konnten die Sozialdemokraten in der verzweifelten Situation nach Kriegsende erstmals (gemeinsam mit Christlichsozialen und Großdeutschen) die Regierungsverantwortung übernehmen. Es gelang ihnen eine Umverteilung großen Stils, nicht nur auf dem Papier: Der Achtstundentag, Urlaubsansprüche, Betriebsräte, die Sozialisierung von Betrieben wurden durchgesetzt, die Todesstrafe wurde abgeschafft, der Adel verboten und die Entkonfessionalisierung der Schule (Glöckel-Erlass, 1919) eingeleitet. Nach dem Bruch der Koalition 1920 konzentrierte sich die Politik der Sozialdemokraten auf Wien, wo sie eine starke Mehrheit hatten. Hier setzte die Partei gegen erbitterten Widerstand der Gegner im Rahmen einer modernen Kommunalpolitik einige große Projekte um, die heute unter dem Begriff „Das rote Wien“ weltberühmt sind, man denke an den sozialen Wohnbau mit über 60.000 neuen Wohnungen, medizinische Versorgung, Sozialfürsorge, Kindergärten und Schulreformen. Gegen den österreichischen Faschismus der Christlichsozialen, die 1933 das Parlament entmachteten, den Verfassungsgerichtshof ausschalteten und per Verordnungen regierten, war die Partei machtlos. Sie wurde nach dem unglückseligen Februaraufstand 1934 aufgelöst, viele sozialdemokratische Politiker für Monate inhaftiert, auch der Bürgermeister von Wien, Karl Seitz.
Nach Kriegsende 1945 war es gerade der jener mittlerweile 75-jährige Sozialdemokrat Karl Renner, der schon 1918 Staatskanzler gewesen war und nun wiederum Leiter einer provisorischen Staatsregierung wurde. Ihm gelang in den ersten, sehr chaotischen Monaten bis zu den Wahlen im November ein Drahtseilakt zwischen den Westmächten und den Sowjets. Bei den ersten Nationalratswahlen erwiesen sich jedoch die – als ÖVP neugegründeten – Christlichsozialen als die Stärkeren. Sie blieben es bis 1970. 
Die Sozialdemokraten hatten durch Emigration und Krieg einen erheblichen Teil ihrer jungen Intelligenz verloren. Doch ausgerechnet einem Intellektuellen jüdischer Herkunft, der in Schweden im Exil gewesen war, gelang während der ÖVP-Alleinregierung ab 1966 eine Neuorientierung: Durch das Engagement sozialwissenschaftlicher, juristischer, kultureller und ökonomischer Kompetenz wurde die Partei für Regierungsaufgaben befähigt („Kampagne der 1400 Experten“). Bruno Kreisky – während des autoritären Regimes 1936 im Sozialistenprozess zu einem Jahr Kerker verurteilt – war nach 1945 für Österreich zunächst als Diplomat, ab 1953 als Staatssekretär im Außenministerium tätig gewesen, auch als Mitglied jener Delegation, die den Staatsvertrag von 1955 ausverhandelte. Ab 1970 verantwortete seine Regierung zahlreiche Reformen: Die wichtigsten waren jene des Familienrechts, des Strafrechts und nicht zuletzt jene der Bildungsinstitutionen. Letztere gipfelte in der umstrittenen Verteilung von Gratis-Schulbüchern, eröffnete aber vielen den Zugang zur universitären Bildung. Die „Kreisky-Ära“ war einerseits geprägt von einem gesellschaftlichen und kulturellen Aufbruch, andererseits eine Zeit, in der die Partei selbst vernachlässigt wurde: Eine Schicht politischer Funktionäre verlor erfolgstrunken den Kontakt zur Parteibasis. Der Parteikassier, der im Wohnviertel die Mitglieder persönlich besuchte, verschwand. Stattdessen wurden die Mitgliedsbeiträge per Erlagschein gezahlt. Erste Skandale zeigten, dass nicht alle, die Ämter und Mandate übernommen hatten, über die nötige charakterliche Eignung und die fachliche Kompetenz verfügten. Finanzminister Androsch musste 1980 zurücktreten, weil seine Steuerberatungsfirma Staatsaufträge erhalten hatte, Falschaussagen im AKH-Untersuchungsausschuss erzwangen 1988 seinen Rücktritt als CA-Generaldirektor. Den SPÖ-Wahlkampf 1983 prägte folgerichtig der Slogan: „In Zeiten wie diesen: Nicht herumreden, nicht schimpfen, nichts Unmögliches versprechen, keine dummen Fragen stellen!“ Gewerkschaftsbosse und Betriebsräte bedienten sich aus den Kassen ihrer Organisationen, einzelne Funktionäre hatten gleichzeitig nicht nur politische Mandate inne, sondern auch Parteiämter, Funktionen in Gewerkschaften und Verbänden und erhielten dementsprechende Bezüge. Dazu kam eine nicht enden wollende Reihe von Begünstigungen (noch Jahre später wurde „Penthouse-Sozialismus“ 2006 zum Wort des Jahres gekürt) und Machtmissbrauch, um Freunde zu schützen. Zwei prominente SPÖ-Minister, der des Inneren und jener des Äußeren, hatten versucht, die Strafverfolgung von Udo Proksch im Fall Lucona zu verhindern. Sie traten 1989 zurück.
Drastische Folgen hatte die Unfähigkeit, wichtige Positionen mit kompetenten und integren Fachleuten zu besetzen, im Bereich der – mit der Gewerkschaft eng verflochtenen – Genossenschaftsbewegung, die seit dem 19. Jahrhundert in der Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle gespielt hatte. Sowohl die Konsumgenossenschaft als auch die 1922 von Karl Renner gegründete „Arbeiterbank“, die spätere Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG), gingen unter, weil man weder fähige Personen engagierte noch in der Lage war, die Geschäftsgebarung zu kontrollieren. Die Konsumpleite im Jahr 1995 war lange jene mit dem größten finanziellen Verlust in Österreich überhaupt. 
Ein zentrales Problem der SPÖ in der Kreisky-Ära und den Folgejahren bestand in ihrer Haltung zur Verstaatlichten Industrie. Die Chance, einen wichtigen Teil der Schwerindustrie im öffentlichen Interesse nicht nur zu verwalten, sondern gewinnbringend zu führen und damit zu zeigen, dass nicht nur private Unternehmer erfolgreich wirtschaften können, wurde vertan. Die Verstaatlichte wurde von den Parteien und Gewerkschaften benützt, um gemäß dem Proporzsystem ihre Gefolgsleute unterzubringen (bis 1966 regierte die große Koalition, dann die ÖVP bis 1970 allein), um staatliche Interessen durchzusetzen, etwa die Senkung der Arbeitslosenzahl zu erreichen. Das erforderte immer höhere staatliche Zuwendungen, um Defizite abzudecken. Erst als zusätzlich mit gigantischen Spekulationsverlusten (etwa der VOEST-Tochter Intertrading) die roten Zahlen extrem bedrohlich wurden, wurde das Ende der Verstaatlichten 1985/86 eingeleitet. Privatisierung und Deregulierung lauteten die Schlagworte der späten 1980er Jahre. Dagegen hatte sich die SPÖ lange gewehrt, Finanzminister Ferdinand Lacina entließ nun jedoch den gesamten Vorstand und beendete den Missstand, die Unternehmensführung unabhängig von fachlicher Kompetenz allein der politischen Loyalität unterzuordnen. Der Komplex der Verstaatlichten wurde zerlegt und sukzessive (teil-)privatisiert. Ähnliche Verhältnisse hatte es im weitgehend verstaatlichten Bankensektor gegeben, auch hier führten diverse Skandale und Beinahepleiten (Länderbank) zu Fusionen und Deregulierungen, letztendlich zu Privatisierungen.
Besonders schmerzhaft war, dass das Versagen im Banken- und Genossenschaftssektor und in der Verstaatlichten Industrie die wirtschaftliche Inkompetenz der Partei bewies. Wer den Kapitalismus kritisiert, sollte alternative Projekte nicht in die Pleite führen. Noch gravierender aber war, dass die Sozialdemokratie auf die zentralen Herausforderungen der Jahrzehnte ab 1980 nicht adäquat zu reagieren vermochte: Auf die ökologische Frage und die Migration. Das ließ die Grünen entstehen und führte andererseits zum Erstarken der migrationsfeindlichen FPÖ. Zugegeben: Beide Probleme waren und sind auf nationaler Ebene kaum zu lösen und ihre Komplexität ist schwer vermittelbar. Politiker, die redlich grundsätzliche Weichenstellungen versuchen, haben es unendlich schwer, wenn sie sich gegen vereinfachende Slogans der Gegner durchsetzen müssen. Doch die mangelnde Kompetenz und das Desinteresse der SPÖ – sowohl Ökologie als auch Migration betreffend – war und ist erschreckend. Wo lagen die Ursachen? Die traditionelle Organisationsform der Partei hatte sich mit den politischen Erfolgen und auch den Wahlerfolgen nicht weiterentwickelt. Die vielgerühmte Parteibasis aber wurde durch Vernachlässigung ausgedünnt und schließlich bedeutungslos. Jene Funktionäre, die es über die berüchtigte Ochsentour nach oben schafften, waren meist kontur- und manchmal auch charakterlose und gar nicht selten unfähige Berufspolitiker, denen die eigene Karriere das Wichtigste war. Es bedurfte schon einer tiefen Existenzkrise, dass die Parteioberen sich daran erinnerten, dass die Partei aus Mitgliedern besteht. Die legendären Vorfeldorganisationen waren aufgrund diverser sozialer Veränderungen verkümmert, sie rekrutierten sich hauptsächlich aus Personen, die beitreten mussten, um entsprechende Stellen in Schulen, Universitäten oder in der Verwaltung zu erhalten. Und dazu kam, dass mit dem Verschwinden der vielgescholtenen Parteipresse, vor allem der Arbeiter-Zeitung, jene Intelligenz ihre Artikulationsmöglichkeit verlor, die in der Partei seit ihrer Gründung 1889 eine wichtige Funktion gehabt hatte. Sämtliche soziale Medien vermochten nicht, dieser intellektuellen Verelendung gegenzusteuern.
Die 1983 vom Soziologen Ralf Dahrendorf vorgebrachte These, dass das „sozialdemokratische Jahrhundert“ zu Ende gehe, weil das Versprechen, der Arbeiterklasse zum sozialen Aufstieg zu verhelfen, weitgehend eingelöst sei und jede große Partei nur noch „sozialdemokratisch“ regieren könne, hat sich als frommer Wunsch erwiesen. Inzwischen hatten sich längst neuartige Machtgebilde in Form von medialen Netzwerken, politischen Allianzen und sozialen Bewegungen angekündigt. Das Dahinsiechen der altehrwürdigen Partei hatte und hat tiefliegende innere Gründe. Ihr zunehmendes Verschwinden aus den Debatten und Diskursen – vor allem: aus der Politik insgesamt – stärkt jedoch Kräfte, denen man sich als Staatsbürger nicht anvertrauen sollte. 
Das Wahlkampfmotto von 1983 („In Zeiten wie diesen … keine dummen Fragen stellen“) hatte mich davon abgebracht, die SPÖ zu wählen, die Ereignisse in der Hainburger Au und die weiteren Skandale bestärkten diesen Entschluss. Erst 2017 wählte ich zähneknirschend die SPÖ, um Sebastian Kurz zu verhindern, was glücklicherweise nicht gelang, weil es diesem die Gelegenheit bot, sich selbst zu erledigen. Was mich in Zeiten wie diesen dazu bringen könnte, noch einmal die SPÖ zu wählen? Jedenfalls nicht die Überlegung, Kickl & Co. damit zu verhindern.

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