„Von jedem Internetnutzer existiert ein Dossier“
Yvonne Hofstetter (49), Unternehmerin, Autorin und Expertin für Künstliche Intelligenz, sagt im „Thema Vorarlberg“-Interview, dass Internetgiganten längst von jedem einzelnen Internet-User ein eigenes Dossier angelegt hätten. Hofstetter über Smartphones, die „Spione in der Manteltasche“ und naives Unverständnis der Menschen: „Es ist uns überhaupt nicht klar, was da alles vermessen und gespeichert wird.“
Verschicken Sie sensible E-Mails, Frau Hofstetter?
Ganz sensible Sachen wie das Manuskript meines neuen Buches verschicke ich nur mit der normalen Post. Ansonsten verschlüssle ich E-Mails. Weil absolut alles, was wir dem Internet anvertrauen, weitererzählt wird. Absolut alles.
Constanze Kurz, die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, hat gesagt, dass man zu niemandem ehrlicher sei als zum Suchfeld von Google …
Stimmt. Der Mensch sucht nur, was seinem Interesse entspricht. Und an dem, was Sie tun, denken, fühlen und planen, sind Google, andere Suchmaschinen und soziale Netzwerke interessiert. Anhand der Daten, die sie eingeben, werden Sie profiliert. Und wenn Sie einmal profiliert sind, dann weiß man, wie Sie sich in der Zukunft verhalten werden. Man darf sich da keiner Illusion hingeben: Google ist weit mehr als nur eine Suchmaschine. Google ist ein internationaler Konzern, der eine Vielzahl verschiedener Hochtechnologien, auch militärische Technologien, unter einem Dach vereint: künstliche Intelligenz, Militärroboter, Drohnen, Datenbrillen. Google startet im Grunde genommen die Totalüberwachung.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Sie wissen alles“, es sei erschreckend, dass niemand die Weltmachtsfantasien dieses Konzerns stoppe. Weltmachtsfantasien?
Wir wären gut beraten, die Äußerungen, die aus dem Silicon Valley kommen, ernst zu nehmen. Da heißt es: Die Demokratie gehört abgeschafft. Und wenn dort Programmierer sagen, dass der Mensch nicht mehr sei als eine Maschine, die man perfekt steuern könne, dann sind das Ansichten, die mit unserem europäischen Verständnis insbesondere von Menschenwürde überhaupt nicht vereinbar sind. Denn ein anderer Begriff für Menschenwürde ist die Selbstbestimmung. Und wenn ich dem Menschen die Selbstbestimmung abspreche, dann brauche ich – im Verständnis der Technologiegiganten – auch keine Demokratie mehr. Auf das zielen Google und andere aus dem Silicon Valley ab. Sie wollen dem Menschen die Selbstbestimmung nehmen, indem sie ihn steuern, indem sie ihn manipulieren. Das sind deren Vorstellungen. So soll die Welt funktionieren!
Nehmen wir ein Beispiel …
Beinahe jeder hat inzwischen ein Smartphone. Ein Smartphone ist allerdings kein Telefon. Es ist ein Messgerät. Um zu verstehen, wie das funktioniert, kann man sich an der Hurrikan-Forschung in den USA orientieren: Flugzeuge setzen Sensoren ab, die alles Mögliche messen und eine Vielzahl von Daten erheben. Diese Daten werden gesammelt und analysiert, daraus wird eine Wetterprognose erstellt und vorhergesagt, in welcher Geschwindigkeit und Stärke der Hurrikan auf die US-Ostküste treffen wird. Die große Verführung ist nun, das, was bei Naturphänomenen funktioniert, auch auf die Gesellschaft zu übertragen. Dazu braucht man ebenfalls Sensoren. Und im Jänner 2007 hat Apple diese Sensoren über uns abgeworfen – mit der Markteinführung des iPhones. Seither trägt jeder diesen Spion in der Manteltasche freiwillig mit sich herum.
Spion in der Manteltasche?
Dass ein Smartphone Kamera, Mikrofon, Telefon und Geo-Positionssensoren enthält, ist bekannt. Im iPhone und in anderen Smartphones sind allerdings auch Sensoren installiert, an die Sie niemals denken würden. Beispielsweise sind Temperaturmesser enthalten. Töne werden registriert, die unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegen, und die beispielsweise in bestimmten TV-Werbesendungen gesendet werden: Nachdem Sie Ihr Smartphone beim Fernsehschauen meistens neben sich auf dem Sofa liegen haben, kann das Smartphone hören, welche Werbung Sie anschauen, und verknüpft das direkt mit Ihrem Profil. Und: Mit wem Sie telefonieren, wann Sie telefonieren, all das wird ebenfalls mitgeschnitten. Aus diesen Metadaten Ihres Telefonverhaltens wird berechnet, welchen Charakter sie haben. Sind Sie zuverlässig? Haben Sie Depressionen? Da geht es noch nicht einmal um den Gesprächsinhalt, nur darum, um welche Uhrzeit Sie mit wem telefoniert haben. Es ist uns überhaupt nicht klar, was da alles vermessen und gespeichert wird!
Sie äußern an mehreren Stellen in Ihrem Buch Ihr Unverständnis darüber, wie gedankenlos die vernetzte Welt die Totalüberwachung hinnimmt.
Erst langsam fällt der Groschen, was da alles passiert. Es ist allerdings schwierig zu verstehen, weil der Schaden erst zeitverzögert eintritt. Was ich heute beispielsweise auf Facebook poste oder like, kann auch erst in ein paar Jahren Folgen nach sich ziehen, wird dann gedanklich aber nicht mehr darauf zurückgeführt. Denn die Datenauswertung findet algorithmisch statt; Computerprogramme finden aus Ihren Daten und Rohdaten unter Umständen Korrelationen heraus, auf die Sie als Mensch nie kommen würden.
Oft heißt es: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. Ist das falsch?
Dieser Satz ist ganz schlimm! Den muss jeder Mensch aus seinem Wortschatz streichen! In diesem Satz äußert sich ein völliges Missverständnis darüber, wofür Analysten die Daten und Rohdaten überhaupt brauchen und einsetzen. Es geht überhaupt nicht darum, in ihrer Vergangenheit zu graben und zu schauen, was Sie früher angestellt haben. Die Vergangenheit ist vollkommen egal. Es geht um die Zukunft. Die Rohdaten werden erhoben, um Ihre Zukunft steuernd zu beeinflussen! Diese großen Datenverarbeitungsunternehmen, diese Internet- und Technologiegiganten, träumen von der globalen Konsumentensteuerung. Sie geben offen zu, dass sie wissen wollen, wer Sie sind, was Sie denken, was Sie fühlen, damit sie ganz gezielt manipulierend eingreifen können – in Ihre Zukunft! Der Konsument soll gesteuert werden. Und wenn Sie Daten von sich preisgeben, machen Sie sich quasi zum Freiwild. Sie überlassen die Rechte an Ihrer Zukunft und Ihrer Selbstbestimmung anderen. Sie geben Ihre Rechte aus der Hand – die Rechte, finanziell souverän zu agieren, sexuell souverän zu agieren, von Algorithmen nicht diskriminiert zu werden. All das geben Sie in die Hände von Technologiegiganten, die dort manipulierend eingreifen.
Aber wer, bitteschön, soll denn an all diesen Daten interessiert sein?
Die Daten werden nicht von Menschen ausgewertet, sondern von Maschinen. Profile werden erstellt, Profile eines jeden einzelnen Menschen. Und die Unternehmen, die diese Profile erstellen, brauchen – um ihr Ziel der globalen Konsumentensteuerung zu erreichen – Daten, viele Daten. Je mehr Daten sie von den Menschen bekommen, umso besser. Damit handeln internationale professionelle Datenbroker. Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Technologiegiganten wollen mit diesen Daten die Gesellschaft umgestalten. Und sie machen das vollkommen unreguliert, quasi in Anarchie. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Informationskapitalismus – einer neuen Form des Kapitalismus, die hier als Ideologie mit der Digitalisierung einhergeht. Und auch da bitte ich Sie, sich keiner Illusion hinzugeben …
Inwiefern?
Vor drei Jahren wurde bekannt, dass allein der US-Datenbroker Acxiom im Jahr 2013 Dossiers von 700 Millionen Internetnutzern vorliegen hatte. Darunter waren 44 Millionen deutsche Dossiers und vermutlich Dossiers von vier, fünf Millionen Österreichern. Das heißt, man kann davon ausgehen, dass es von jedem Menschen, der irgendwann einmal im Internet war, ein Profil gibt, ein Dossier. Wie einst bei der Stasi! Jeder Internetnutzer hat dort seine Akte, und in dieser Akte sind bis zu 3000 einzelne Eigenschaften über die jeweilige Person gespeichert, berechnet durch die Algorithmik, durch die Auswertung der Rohdaten. Und das Problem ist, dass den Menschen gar nicht klar ist, dass diese Daten und Informationen existieren und dass sie Kreise ziehen. Denn diese Dossiers werden weiterverkauft.
An wen?
Große Arbeitgeber, große Konzerne kaufen diese Daten für Millionen von Euro oder Dollar. Und in den Dossiers steht alles drin: Ob Sie zuverlässig sind oder depressiv, ob Sie Eigenheimbesitzer sind, wie groß Ihre Familie ist, wie hoch Ihr Finanzbedarf ist, ob sie Kredite haben. Ob sie gesund sind. Welche sexuelle Orientierung Sie haben, ob Sie beispielsweise lieber einen jungen oder einen alten Ehepartner haben. Nur ein Beispiel: Wenn Sie männlich sind und auf Facebook Britney Spears oder „Desperate Housewives“ liken, dann schließen die Computerprogramme, die Algorithmen von Facebook, dass Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit homosexuell sind. Die Menschen drücken „like“ bei Facebook, und ihnen ist gar nicht klar, dass diese likes zusammengeführt und neue Informationen daraus abgeleitet werden.
Nun gibt es allerdings Menschen, die sich dem Digitalen verweigern – und bedacht sind, möglichst wenige Spuren im Internet zu hinterlassen. Nützt das?
Relativ wenig. Das ist leider so. Ich rate den Menschen zwar, datensparsam zu sein: Je weniger Daten Sie von sich preisgeben, desto weniger lässt sich über Sie herauslesen. Aber wenn Sie das Internet benutzen, hinterlassen Sie Spuren. Außerdem geht die Tendenz in die Richtung, dass immer mehr Daten nicht kooperativ, nicht freiwillig erhoben werden. Das Problem beginnt schon bei den Cookies. Die geben ihrem Computer eine unverwechselbare ID, eine unverwechselbare Kennzeichnung. Und damit sind Sie durch das ganze Internet hindurch verfolgbar. Facebook folgt Ihnen beispielsweise durch das gesamte Netz, da müssen Sie nicht einmal bei Facebook angemeldet sein. Und so entsteht ein digitaler Zwilling im Internet. Das können Sie gar nicht vermeiden. Und Sie wissen nicht einmal, ob diese Daten richtig oder falsch sind! Sie kennen Ihr eigenes Dossier nicht.
Die Technologie, die zur Anwendung kommt, kommt aus der Rüstungsindustrie.
Richtig. In der Rüstungsindustrie sind diese Technologien schon in den 1990er-Jahren zum Einsatz gekommen, hauptsächlich in Form der sogenannten Multisensor-Datenfusion. Informationen werden erzeugt, und auf Basis dieser Informationen wird Kontrolle erzeugt, wird steuernd eingegriffen. Diese Methoden sind vom Militär in die Wirtschaft gelangt. Dort werden sie nun verfeinert und ausgebaut, mit immensen Investitionen. Google hat für Forschung und Entwicklung ein jährliches Budget von sechs bis sieben Milliarden Dollar. Im Übrigen gibt es enge personelle Verschränkungen zwischen dem Pentagon und Google …
Und Europa ist von den USA abhängig, und wie die USA agieren, hat ja unter anderem Edward Snowden hinreichend aufgezeigt …
Wir sind vollkommen abhängig von US-amerikanischen Technologien! Die meisten von uns haben ein iPhone oder vielleicht noch ein Samsung, aber da ist Google Android drauf, und sie nutzen Whatsapp und Facebook und Amazon. Die sind alle im Silicon Valley ansässig, kommen aus einem komplett anderen Rechts- und Verfassungsverständnis, und dieses andere Verständnis ist ja in den Produkten mit implementiert. Übrigens: China hat sich von den USA unabhängig gemacht, hat eigene Technologien entwickelt. Die chinesischen Produkte sind genauso groß wie die der Amerikaner. Aber wir nutzen sie nicht, weil wir der chinesischen Zensur zu Recht misstrauen. Aber bei US-Produkten haben wir gar keine Bedenken – obwohl spätestens seit Snowden allgemein bekannt ist, in welchem Ausmaß überwacht wird. Das nehmen wir einfach hin. Das ist komisch.
Das erschreckende Zukunftsszenario, das George Orwell in „1984“ entworfen hat, ist also längst Realität geworden? Mit dem Unterschied, dass der Mensch heute unbemerkt überwacht wird?
Ganz genau. Die digitale Revolution ist eine stille Revolution. Und das Stille ist das Gefährliche. Denn wir merken gar nicht, was da schleichend vor sich geht, bis es dann so weit gekommen ist, dass wir in unserem eigenen Leben eigentlich gar nicht mehr viel zu sagen haben werden. Wir werden unsere Lebensentwürfe nicht mehr leben können, weil diese Überwachung unsere Souveränität so einschränkt, dass wir uns nicht mehr bewegen werden können. Das ist das Zukunftsszenario, in das wir steuern.
Vielen Dank für das Gespräch!
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