Erika Geser-Engleitner

* 1964, is a sociologist, empirical social researcher and lecturer at the Vorarlberg University of Applied Sciences. She leads numerous national and international research projects in the field of health and social affairs. 

Zur Gegenwart und Zukunft des Älterwerdens im ländlichen Raum

Oktober 2021

In den diesjährigen Hittisauer Landgesprächen dreht es sich um die Zukunft des Älterwerdens in ländlichen Lebensräumen. Ein Altern, das nicht selten verklärt, kontrovers, sicher emotional und wenig datenbasiert dargestellt wird. Von Mehrgenerationenfamilien, die ihre alten Mitglieder nicht in Betreuungseinrichtungen „abschieben“, ist die Rede, von helfenden nachbarschaftlichen Beziehungen, aber auch von Alters­armut, wenn die Ehe nicht bis zum Tod gehalten hat. Von Vereinsamung, weil die 24-Stunden-Personenbetreuung bewirkt, dass sich Angehörige zurückziehen (können), und von sozialen Sanktionen, wenn man anders leben möchte als die Mehrheit.
Der soziale und demographische Wandel hat selbstverständlich auch nicht vor ländlichen Räumen Halt gemacht. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Angleichung der Lebensformen, der Werthaltungen und des Freizeit- und Konsumverhaltens an die „städtischen“ Regionen. Durch die Schrumpfung des primären Sektors, die gestiegenen Mobilitätserfordernisse im Ausbildungs- und Erwerbsleben, die Technisierung und Globalisierung, die gestiegene Frauen­erwerbsquote und den Bedeutungsverlust von (religiösen) Wertesystemen veränderte sich das gesamte Leben inklusive der informellen Ökonomie und der Netzwerke im ländlichen Raum. 

Tradition und Moderne

Und trotzdem gibt es – noch – Unterschiede zwischen überwiegend urbanen und überwiegend ländlichen Regionen. In der Gegenwart kann von „Restbeständen der traditionellen Vergemeinschaftung“ – wie strukturelle Bedingungen, Lebensstile, Werthaltungen – vermengt mit neuen Entwicklungen zu eigenständigen Phänomenen gesprochen werden. Eine Gleichzeitigkeit von Tradition und Moderne. 
Über die Folgen gibt es unterschiedliche Thesen. Die einen meinen, dass in ländlichen Regionen die Dorfgemeinschaft durch die Mobilitätsdynamik erodiert und eine wenig differenzierte Gesellschaft bleibt, die schwer Anschlussmöglichkeiten für Personen mit „abweichender“ Lebensweise bietet, in der spezielle Angebote schwer erreichbar sind und soziale Kontrolle intensiv bleibt. Eine Gegenthese vertritt die Auffassung, dass Individuen und Netzwerke im ländlichen Raum anpassungsfähig sind. Durch die Ungleichzeitigkeit im Modernisierungsprozess kommt es zu einer kulturell anregenden und politisch erregten Provinz. Die Ambivalenzen verändern alte Machtverhältnisse und Denkweisen und produzieren neue Ungleichzeitigkeiten. 
Bezogen auf das Thema Altern sind wohl weniger die Differenzierungen Stadt-Land von Bedeutung, sondern die Frage, ob Regionen wachsend oder schrumpfend sind. Denn in Regionen mit schrumpfender Bevölkerung ziehen die Jungen weg und die Älteren sind einer besonders prekären Situation ausgesetzt.
Vorarlberg ist diesbezüglich in einer glücklichen Lage. Fast allen Regionen Vorarlbergs wird auch in den nächsten Jahrzehnten ein Wachstum prognostiziert. Ausnahmen sind Blumenegg/Großes Walsertal und das Montafon. 

Räumlich und sozial

Altern hat eine soziale und räumliche Dimension. Alter ist eine soziale Konstruktion und kann nicht als biologisch eindeutiges Merkmal aufgegriffen werden. Alter wird nicht mehr als Verfall, Krankheit und Rückzug vom gesellschaftlichen Leben begriffen. Durch die Ausdehnung der Lebensphase Alter durch immer längere Lebenszeit werden Ältere als aktive, am Leben teilnehmende Menschen erfasst. Es haben sich die Altersbilder gewandelt. Die Babyboomer gelten als die „Neuen Alten“. 
Besonders auf sie wird gesetzt, wenn es um eine aktive Gestaltung ihres Alters geht. Es wird davon ausgegangen, dass besonders diese Generation trotz des Ruhestands noch einer regelmäßigen Beschäftigung inklusive einem ehrenamtlichen Engagements nachgehen wird, weil sie zum Teil auf das Geld angewiesen sein wird – etwa alleinstehende Frauen –, aber auch, weil ihnen die Arbeit Spaß macht, weil sie körperlich und geistig fit bleiben möchten und ihnen der Kontakt zu anderen Menschen wichtig ist. 

Zentrales Thema Gesundheit

Der Gesundheitszustand der 65- bis 85-Jährigen ist heute wesentlich besser als vor 20 oder 30 Jahren. Verbesserte Lebensbedingungen und medizinischer Fortschritt erhöhten die Lebenserwartung. Die Auseinandersetzung mit gesundheitlichen Risiken und den Möglichkeiten der Prävention ist in einem hohen Maße eine Frage der sozialen Schicht. 
Hinsichtlich der Gesundheitsprävention kann auch in ländlichen Regionen in den vergangenen Jahren von einer Bewusstseinsveränderung gesprochen werden. Die Anzahl der Bewegungsangebote für Personen in der zweiten Lebenshälfte wurde zahlreicher. Maßnahmen zur geistigen und körperlichen Gesundheitsprävention sind in den ländlichen Regionen Vorarlbergs sicherlich noch ausbaufähig – etwa Sturzprävention. 
Als Herausforderung im Alter gilt die Pflegebedürftigkeit. Mit zunehmendem Alter, insbesondere wenn die 70er Jahre überschritten sind, treten altersbedingte körperliche Einschränkungen und Beschwerden häufiger auf. Die Übergänge hin zu einer Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit und damit zum Angewiesensein auf Andere ist fließend. Pflegende Angehörige sind in diesem Zusammenhang unverzichtbar. Gesellschaftliche Vorstellungen, dass Kinder die Betreuung der Eltern zu übernehmen haben, prägen das Verhalten in ländlichen Regionen noch stärker als in urbanen Gebieten. 

Eine besondere Bedeutung

Aber auch Betreuungsangebote sind aufgrund begrenzter Nachfrage in ländlichen Regionen schwerer umzusetzen als in urbanen Gebieten. Eine besondere Bedeutung kommt gerade in ländlichen Regionen aufgrund der Wohnsituation den Personenbetreuenden (24-Stunden-Hilfen) zu. 2019 waren bei 23 Prozent der Pflegegeldbeziehenden der Stufe 3 und höher 24-Stunden-Hilfen involviert. Umgerechnet zeigt sich, dass 2019 in Vorarlberg 3167 Vollzeitäquivalente durch die 24-Stunden-Hilfen erbracht wurden – und 2326 Vollzeitäquivalente durch das gesamte (!) Pflege- und Betreuungspersonal inklusive Zivildiener (stationäre Langzeitpflege, Hauskrankenpflege und Mobile Hilfsdienste inklusive Dienste für Menschen mit Behinderung). 

Kein städtisches Phänomen

Mangelndes Betreuungs- und Pflegepersonal ist kein Phänomen der städtischen Regionen. Auch in ländlichen Regionen können Pflegebetten nicht belegt werden, weil zu wenig Personal vorhanden ist. Angesichts der Erwartungen der derzeit 60- bis 75-Jährigen – die im Falle einer Betreuungsbedürftigkeit vermehrt auf professionelle Dienste setzen und weniger auf Familienangehörige – und einer gravierenden Zunahme der älteren Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren, gilt es gesamtgesellschaftliche Anstrengungen zu unternehmen, um diese Herausforderungen zu meistern. 
Auf der Mikroebene gilt es, die Eigenverantwortung bezüglich Gesundheit und Adaption der Wohnbedingungen (alternsgerecht) zu stärken, um möglichst lange selbstständig leben zu können. Es wird in Zukunft auch mehr Geld für Betreuung und Pflege ausgegeben werden müssen. 

Was zu tun ist

Auf Ebene der Gemeinden und Landesregierung gilt es, Überlegungen anzustellen, wie die Eigenverantwortung gestärkt und gefördert werden kann, und wie kommunale Rahmenbedingungen – beispielsweise medizinische und pflegerische Versorgung, Gestaltung des öffentlichen Raums – optimiert werden können. Es gilt, altersgerechte ländliche Gemeinden zu denken und zu gestalten, mit einer Vielfalt an unterschiedlichen Lebens- und Alternsentwürfen und der gestalterischen Energie insbesondere der Babyboomer als Betroffene der nahen Zukunft. Eine sozialräumliche Orientierung bei sämtlichen Angeboten und deren Weiterentwicklung ist notwendig. 
Gesamtgesellschaftlich gilt es, weg vom „Kostendenken“, hin zu „Investitionsdenken“ zu gelangen. Der weit überwiegende ländliche Raum in Vorarlberg ist – hinsichtlich der älteren Bevölkerung – nicht als problemzentrierter Raum wahrzunehmen. Sehr wohl gilt es aber, die Herausforderungen von gesellschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklungen und die Balance zwischen Tradition und Moderne anzunehmen und im Sinne einer lebendigen Gemeindekultur zu gestalten.

Land|Gespräche|Hittisau

„Ziemlich gute Jahre. Die Zukunft des Älterwerdens im ländlichen Raum“

Samstag, 9. Oktober 2021, 13 bis 18 Uhr im Ritter-von-Bergmann-Saal 

Vortragende
Erika Geser-Engleitner, Sozialwissenschaftlerin
Daniela Egger, Kulturschaffende und Projektleiterin bei connexia
Heike Bischoff-Ferrari, Professorin für Altersmedizin an der Universität Zürich
Ludwig Hasler, Philosoph, Physiker und Erfolgsautor

Die Teilnahme ist kostenlos, doch eine Anmeldung erforderlich und möglich unter tourismus@hittisau.at oder 05513 6209-250.

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