Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Die große Bauaufgabe der Zukunft“

November 2024

Gerald A. Matt traf den Architekten Dietmar Eberle zum Gespräch. Eberle ist Mitbegründer der Vorarlberger Baukünstler und wohl einer der erfolgreichsten österreichischen Architekten. Er baut mit seinem Büro weltweit. Zu seinen Großprojekten zählen Hochhäuser in Peking, das Genfer WHO-Gebäude, die Erweiterung des Wiener Flughafens, aber auch mehr als 600 fertiggestellte Projekte – davon 400 Wohnbauten mit mehr als 20.000 Wohneinheiten. Dietmar Eberle war auch Professor und Dekan für Architektur an der renommierten ETH Zürich.

Als ich Dich anlässlich einer Ausstellungs-eröffnung von Ruth Schnell in Deinem Bürogebäude in Lustenau besuchte, war ich fasziniert. Ein Gebäude ohne Klimaanlage und ohne Heizung, das sich selbst heizt und auch konstant die Temperatur hält. Wie geht das überhaupt? 
Das Konzept haben wir mittlerweile für mehr als 40 Gebäude in Frankreich, in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich, aber auch in Wien für eine Privatuniversität umgesetzt. Das Geheimnis ist einfach. Der Gebrauch eines Gebäudes, sprich die Menschen, die Maschinen – wie Kaffeemaschinen, Kühlschränke, Computer – und vor allem das Kunstlicht produzieren Wärme. Jede Kilowattstunde Strom, die man in ein Gebäude einleitet, wird in Wärme umgesetzt. Jeder Kubikmeter Frischluft, den wir zum Atmen in Gebäuden brauchen, lässt sich in Kühlung übersetzen, wenn die Außentemperatur – speziell in den Nächten – niedriger ist als die Innentemperatur. Da geht es entscheidend auch darum, das Verhältnis von Frischluft, CO2-Verbrauch von Menschen und Temperatur immer wieder auszutarieren. Dies ist nicht zuletzt möglich, weil Gebäude immer besser isoliert und luftdichter gebaut werden. Eine Randbemerkung: Der Mensch produziert zwischen 800 Kilogramm und 1,2 Tonnen CO2 pro Jahr – das ist ungefähr gleich viel wie ein kleiner Mittelklassewagen bei 12.000 km im Jahr durch die Verbrennung produziert. Dieses Austarieren erfolgt mittels Sensoren, Software und elektrisch bedienten Fenstern. 

Ist das ein massentaugliches Konzept für die Zukunft? Ist es nicht mit sehr hohen Kosten verbunden?
Ja – es ist ein massentaugliches Konzept, durch den Einsatz von Software, die dazu führt, dass das Gebäude auf seine in ihm und außerhalb von ihm befindlichen Bedingungen reagiert. Das heißt, wir ersetzen klassische Hardware von Heizungen, Kühlungen, Lüftungsanlagen durch den Einsatz von Computern und Sensoren, die zielgenau auf die Rahmenbedingungen reagieren. Ich halte dieses Konzept für extrem zukunftstauglich, weil es aktiv die natürlichen Rahmenbedingungen nutzbar macht. Es lässt sich auf jegliche Form von Gebäudetyp adaptieren und in unterschiedlichen Klimatas anwenden.

Du hast in einem Interview einmal gesagt: ‚Häuser im Sinne des Klimaschutzes zu bauen reicht nicht. Das ist keine Lösung für die Zukunft.‘
Heute betreiben wir Klimaschutz, Reduktion des Energieverbrauchs und des CO2-Footprints hauptsächlich mit technischen Lösungen wie Wärmepumpen, Solaranlagen, Geothermie, etc. Wir übersehen dabei die kurze Lebensdauer und den hohen Betriebsaufwand von technischen Lösungen. Ist es wirklich sinnvoll, dass wir Technologien verwenden, die wir in spätestens 20 Jahren wieder mit hohem Aufwand ersetzen müssen? Das alles um die Welt langfristig vor einer Klimakatastrophe zu retten. Es geht darum, den Lebenszyklus von Gebäuden zu begreifen. Ich bin wahnsinnig froh, dass es zumindest in Deutschland nun eine Lebenszyklusnorm gibt – nicht wie in Österreich –, die ihre Betrachtungen ökonomisch, ökologisch, CO2-Fußabdruck, etc. auf 50 Jahre ausrichtet. 

Lebenszyklus, Lebensdauer, da sind Altbauten gar nicht so schlecht. Bedeutet das auch, dass wir nicht nur in der Dimension des Neubaus, sondern auch in der Dimension des Recyclings denken müssen?
Ich glaube, die große Bauaufgabe der Zukunft wird sein, die jetzt bestehenden Gebäude neu zu interpretieren, umzunutzen, komfortabler zu machen und sie zu ertüchtigen. Der Wohnbedarf in Europa pro Kopf ist enorm gestiegen, aber er hat sich auch urbanisiert. In Zukunft wird er, wie beispielsweise in China, stagnieren oder abnehmen. Die Erwartung ist, dass China im Jahr 2050, also in nur einer Generation, unter einer Milliarde Einwohner haben wird und sich dadurch, die Frage nach der Quantität komplett anders stellt.

Du hast ja mit Eberhard Tröger das Buch „Dichte Atmosphäre. Über die bauliche Dichte und Bedingungen der mitteleuropäischen Stadt“ herausgegeben. Wie siehst Du heute die Frage der Verdichtung? 
Unter Dichte verstehen wir, wie viel Quadratmeter oberirdische Nutzfläche in Relation zur Grundstücksfläche gebaut werden können, und von wie vielen Menschen diese benutzt werden. Die höchste Dichte, also die effektivste Bodennutzung der Geschichte, hatten wir im Mittelalter, als ganz niedrig gebaut wurde – drei bis vier Geschosse. Die zweithöchste Dichte erzielten wir in der Gründerzeit. Im 20. Jahrhundert haben wir die Bodennutzung kontinuierlich verringert. Wenn man untersucht, wo die Leute am liebsten leben, gibt es nur zwei Dichte-Kategorien. Entweder in vornehmen Einfamilienhausgebieten mit Grundstücken weit über 1000 Quadratmeter oder in dichten Zentren, in fast mittelalterlichen Städten. Entscheidend dafür ist das Lebensgefühl, das bestimmt wird durch die Atmosphäre des öffentlichen Raumes – das, was zwischen den Gebäuden entsteht. Das ist ja das, was die Leute berührt, wo man sich zu Hause fühlt, und darum heißt das Buch auch ,Dichte Atmosphäre‘. 

Ich darf nochmals zurückkommen, auf die Dichte-Diskussion. Je höher die Dichte, umso anspruchsvoller die Fragen an die Architektur, an den Ausdruck, an die Materialität, an die Geometrie. Damit die Architektur jene Atmosphäre generiert, in der sich die Leute wohlfühlen?
Ich selber habe viel in China gebaut und ich habe überhaupt sehr viele Hochhäuser gebaut in meinem Leben. Das ist nicht so ein Problem. Aber man muss sehen, dass man mit einem Hochhaus nicht hohe Flächeneffizienz produziert. Das Hochhaus hat ein Problem, dass es zu viel Beschattung produziert. Und in diesem beschatteten Bereich, ohne Zugang zur Besonnung, kann man eigentlich nicht mehr leben. Also man kann jene beschatteten Flächen nur zum Arbeiten – unter schlechten Bedingungen – verwenden. Das ist ein großes Problem – speziell, wenn man versteht, dass über 65 Prozent aller Gebäude jeder Stadt sich mit Wohnbau beschäftigen. Die restlichen 35 Prozent aller Gebäude beinhalten alle anderen Funktionen wie Schulen, Krankenhäuser, Büros, Betriebsstätten, etc. von denen wiederum viele eine entsprechende Besonnung benötigen. 

Nach dem Studium und zwei Jahren in Teheran bist Du nach Vorarlberg zurückgekehrt, Du standest an der Spitze der Vorarlberger Baukünstler. Was unterscheidet, ganz banal gefragt, einen Baukünstler von einem Architekten?
Vorweg lehnten wir die Bürokratisierung von Architektur, die Verpflichtungen, Gesetze und Rahmenbedingungen der österreichischen Kammer ab. Für viele Architekten ist auch Bauen einfach ein Broterwerb, für uns aber Lebenszweck. Uns hat die Leidenschaft und Ambition für gute Architektur zusammengehalten. Auch wenn das in sehr unterschiedlichen architektonischen Ausdrucksformen praktiziert wurde.

Hat Architektur in Deiner Familie eine Rolle gespielt?
Nein. Als Kind habe ich nicht einmal gewusst, dass es den Beruf Architekt überhaupt gibt, aber ich war immer wahnsinnig fasziniert, wenn ich zuschauen konnte, wie irgendetwas entsteht – ob das eine Brücke, ein Häuschen, eine Stadt war.

Du hast den Terminal 1 am Flughafen Wien, noch in der Kooperation mit Baumschlager gebaut. Das Projekt wurde rechtzeitig und kostengerecht fertiggestellt, dagegen steht die Horrorgeschichte des Berliner Flughafens mit seinen endlosen Verzögerungen und Kostenexplosionen. Was habt Ihr richtig gemacht?
Ein großes Projekt braucht immer eine gute Struktur, ein gutes Team – sowohl auf Auftraggeber- wie auch auf Auftragnehmer-Seite – mit klaren Aufgabenverteilungen. Aber es braucht trotzdem den Architekten und seine Vision. Der große Fehler, der in Berlin gemacht wurde, war, dass sie den Architekten gekündigt haben. Ich muss jetzt klar sagen, dass der Flughafen Wien rechtzeitig fertig und der Flughafen Berlin acht Jahre zu spät fertig wurde, liegt im Wesentlichen an der Qualität der Entscheidungsstrukturen bei diesen hochkomplexen Großprojekten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wurde Norbert Steiner zum Projektmanager des Flughafens berufen. Die Fertigstellung im Rahmen der vorgegebenen Bedingungen ist dem Projektmanagement von Norbert Steiner zu verdanken. Wir haben uns in die Augen geschaut und gesagt, machen wir es jetzt fertig oder nicht. Und es hat funktioniert.

Stimmt es, dass sie Dich sogar angefragt haben, beim Berliner Flughafen dann zu helfen?
Ja, die Pikanterie dabei war ja, dass eigentlich der Flughafen Berlin und der Flughafen Wien beide genau das gleiche Eröffnungsdatum hatten. Das war der Beginn des Sommerflugplans 2012, aber da hatte ich einmal genug von Flughäfen.
Gibt es so etwas wie einen Signaturbau, also einen Bau, in dem sich Deine Haltung, Deine Ideen so verdichten, dass man sagen kann, der steht exemplarisch für das gesamte Werk?
Nein, das gibt es nicht. Es gibt in der Architektur zwei ganz unterschiedliche Haltungen. Es gibt eine Architektur, die auf die Person und deren Handschrift konzentriert ist. Und es gibt eine Architektur, die das Gebäude als einen Beitrag zur Verbesserung des Kontextes sieht. Ich verstehe meine Arbeit als kontextuell. 

Das Prestige von Architektur, besser gesagt: Architekten, wird sehr oft mit sogenannten Monumenten verbunden, meist öffentliche symbolisch aufgeladene Gebäude wie etwa Museen …
Handschriften sind besser verknüpft mit Monumenten. Das Monument hat die Aufgabe, nicht die Atmosphäre des Alltags, in dem die Menschen leben, zu generieren, sondern die Atmosphäre des Sonntags zu erwecken. Und darum sage ich immer etwas zynisch: Es gibt Sonntagsarchitektur und es gibt Alltagsarchitektur.

Wo würdest Du Dich einreihen beziehungsweise gibt es ein Monument, das Du gebaut hast? 
Ich bin ein klassischer Alltagsarchitekt und hatte das Glück, dass ich das, was ich wollte, auch mein Leben lang machen konnte. Das war auch meine Ambition. Ich wollte nie ein Monument machen und wahrscheinlich könnte ich es auch gar nicht. 

Ich darf auf etwas Programmatisches in Deinen Texten verweisen: „In der hohen Bindung von Ressourcen und der zeitlichen Dimension der Gesellschaft liegt die Bedeutung von Stadt und Gebäude, liegt die Verantwortung des Architekten. Die persönliche Kreativität enthebt den Architekten somit nicht an der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Das ist eigentlich schon ein klares Leitthema, eine klare Richtlinie.”
Ja. Das ist das Programm, das meine Architektur ausmacht. Sie ist geprägt von dieser Idee des 20. Jahrhunderts – mit immer weniger Aufwand ein hohes Maß an Funktion und Wirkung zu erzeugen. Diese Geschichte der Reduktion in der europäischen Kultur entspricht ein wenig der Geschichte der Armut, aus der ich selber stamme – aus dem Bregenzerwald. Diese Armut stellt die Frage aus dem Wenigen, was man hat, das höchste Maß an Nutzung zu generieren.  Wo bauen wir und für wen, welche Mittel stehen uns zur Verfügung, also für welches kulturelle und gesellschaftliche Umfeld bauen wir und was können wir dazu beitragen?

Was würdest Du einem jungen Architekten heute raten? Was soll er machen? 
Er muss mit beiden Füßen auf den Boden stehen. Und gleichzeitig muss er den Kopf über den Wolken haben. Das ist gar nicht so einfach, oder?

Dietmar Eberle, herzlichen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.