Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Provokationen eines Denkers

April 2024

Was hat uns Immanuel Kant, 300 Jahre nach seiner Geburt am 22. April 1724, heute noch zu sagen? Philosoph Otfried Höffe (80), von der NZZ in Fragen von Moral und Ethik „eine große akademische Instanz“ genannt, rät im Interview, Kant mit einer offenen Neugier zu lesen, für dessen auch heute noch provokative Gedanken. Von Kant, dem Philosophen der Aufklärung, könne man lernen, selbstständig und gründlich zu denken, sagt Höffe: „Aufklärung ist und bleibt eine nie abgeschlossene Aufgabe.“

Herr Professor, wenn sich jemand mit Kant, 300 Jahre nach dessen Geburt, auseinandersetzen will: Wo beginnen, wo ansetzen?
Zu empfehlen sind mehrere Ansätze. Kants Lebensweg zum Beispiel: Ein Handwerkersohn wird Kosmopolit. Oder Kants geradezu überwältigende Wissbegier, die in Verbindung mit gedanklichem Bohren und immer Tiefer-Bohren damals wie heute zu provokativen Gedanken führt. Oder der zutiefst demokratische Grundzug seines Denkens: Keine Privilegien für niemanden, keine Diskriminierung der Vernunft jedes Menschen. Man sollte Kant mit einer offenen Neugier für seine oft ungewohnten Gedanken lesen.

Sie sprechen von Kants unbändiger Wissbegier. Ist uns heute diese Neugier, diese Wissbegier abhandengekommen?
Einer pauschalen Schelte unserer Zeit schließe ich mich nicht an. Sowohl bei Kindern als auch in den Wissenschaften findet sich glücklicherweise immer noch eine unbegrenzte Neugier. Die Gegenphänomene gibt es leider auch, Menschen, die im eigenen Erfahrungshorizont verbleiben. Zum Beispiel interessieren sich Sozialwissenschaftler heute mehr für die Faktoren, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden, als dass sie auf jene Mechanismen neugierig wären, die trotz aller Herausforderungen unsere Demokratie zusammenhalten. Wir alle sollten im Lebensweg und im Denken des Weltbürgers Kant auf Entdeckung gehen, statt alles schon zu wissen, und natürlich besser zu wissen. 

Leben wir heute, um den Philosophen sinngemäß zu zitieren, in einer bereits aufgeklärten Zeit, oder nach wie vor in einer Zeit, in der Aufklärung Not tut?
Aufklärung ist und bleibt eine nie abgeschlossene Aufgabe. Der Mensch braucht immer wieder den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Ferner brauchen wir Mut und Verstand, um uns gegen jeden Versuch einer Moralpolizei zu wehren.

Apropos. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Kants Fragen und Antworten „auch heute noch provokativ und radikal“ seien. Beispielsweise?
Der Mensch verdankt die Gebote und Verbote der Moral keiner äußeren Autorität, auch keiner Gottheit, sondern seiner eigenen Vernunft. 

Was hat Kant in Sachen Moral denn heute noch mitzuteilen?
Kant bringt unser aller moralisches Bewusstsein auf den Begriff. Den berühmten kategorischen Imperativ hält er nicht für eine neue Moral, sondern lediglich für eine neue Formel der uns allen vertrauten Moral. Dazu hat er ein schönes Gedankenexperiment entworfen: Man stelle sich vor, von einem Fürsten aufgefordert zu werden, wider eines ehrlichen Mannes ein falsches Zeugnis abzugeben. Verweigert man das falsche Zeugnis, so werde man am Galgen aufgehängt. Wie wir tatsächlich handeln würden, wissen wir nicht; das müssen wir schlicht einräumen. Aber wir wissen, dass zu lügen moralisch falsch wäre. Und in diesem Wissen realisieren und bekräftigen wir unser moralisches Bewusstsein. Wir haben dieses Bewusstsein, allen moralischen Verstößen, die wir begehen, zum Trotz. Wenn wir uns hinreichend Mühe machen und ehrlich genug sind, statt uns etwas vorzumachen, wissen wir, was moralisch geboten und verboten ist. Das ist heute nicht anders als es vor Jahrhunderten war und in Jahrhunderten sein wird.

Kants berühmte Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Ergänzt um: Was ist der Mensch? Sind es diese Fragen, mit denen sich der Mensch auch heute noch beschäftigt? Beschäftigen sollte?
Beide Antworten treffen zu. Jede dieser Fragen drängt sich im Verlaufe unseres Lebens immer wieder auf, gelegentlich mit einer existenziellen Wucht. Besser ist, sich die Fragen frühzeitig gründlich überlegt zu haben. Und für kluge Antworten empfiehlt sich, bei Kant in die Lehre gegangen zu sein.

Nehmen wir die beiden bekanntesten Zitate Kants. „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Und: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Übersetzen wir seine Zitate in eine heute passende Sprache? Und illustrieren beide an einem gegenwärtigen Problem?
Für das erste Zitat, den kategorischen Imperativ, drängt sich das Lügen-Verbot auf. Man kann vernünftigerweise keine Welt wollen, in der die vorsätzliche Unwahrheit zum Gesetz geworden ist. Man kann keine Welt wollen, in der Aussagen, sowohl die eigenen als auch die der Mitmenschen, ausnahmslos und grundsätzlich Lügen sind. Die Glaubwürdigkeit würde zerstört. Diese Zerstörung würde uns zutiefst treffen, und Kommunikation nicht mehr möglich machen. 

Und was ist mit dem zweiten Zitat?
Man möge den Mut haben, sich auch in dieser weithin säkularen Gesellschaft zu überlegen, ob es nicht doch Argumente zugunsten der Annahme einer Gottheit geben kann, und dann fragen, um welchen Gottesbegriff es sich dann handelt. Auch das ist eine von Kants Provokationen: Selbst in unserem angeblich nachmetaphysischen Zeitalter kann weder die Existenz Gottes noch seine Nichtexistenz bewiesen werden.

Kant sagt: „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Aus Faulheit und Feigheit nicht selbst zu denken, daran hat sich in den 300 Jahren seit seiner Geburt wohl nur wenig geändert.
Schon der Gedanke des mündigen Bürgers müsste ein Gegenargument sein. Auch bleibe ich bei meiner Skepsis gegen pauschale Gegenwartskritik. Wenn ich auf die Generation meiner Enkel schaue, auf mancherlei Gespräche mit diesen Zehn- bis Zwanzigjährigen, so sehe ich viel Mut und Mühen, selbst zu denken. Auch in Zeitungen, manchmal auch in Diskussionsrunden des Fernsehens kommen unbequeme Zeitgenossen, die noch selbst denken, zu Wort. Lässt man sie aber häufig genug und prominent genug zu Wort kommen? Hier setze ich ein Fragezeichen.

Kant, 1724 im preußischen Königsberg, heute Kaliningrad, geboren, hat seine Geburtsstadt respektive die nähere Umgebung niemals verlassen. Und doch nennen Sie ihn einen Weltbürger, einen Kosmopoliten, warum?
Auch darin liegt eine erhebliche Provokation: Weltbürger ist nicht, wer als Geschäftsmann an vielen Orten der Welt derselben Tätigkeit nachgeht, oder als Tourist rund um die Welt fliegt. Weltbürger wird man nicht durch den Jet-Set, sondern durch Neugier und Wissen. Entscheidend ist, sich für die globalen Verschiedenheiten zu interessieren. In seiner unbändigen Wissbegier hat sich Kant für die Verschiedenheiten der Flora und Fauna, der Geografie und für unterschiedliche Lebensgewohnheiten und Mentalitäten genauso interessiert wie für die Französische Revolution und für spezielle Naturphänomene wie etwa das Erdbeben von Lissabon, die Monsunwinde oder die Saturnringe. Er hat sich in Königsberg, einem damals bedeutenden Handelshafen, in Gesprächen mit ausländischen Kaufleuten kundig gemacht, hat wissenschaftliche Veröffentlichungen und Reiseberichte studiert. Auf diese Weise ist Kant Vorbild, wie man ortsgebunden und doch ein Kosmopolit sein kann.

Die selbsternannt Korrekten unserer Zeit mühen sich trotzdem, den Philosophen zu desavouieren, schimpfen ihn – gemessen an heutigen Moralmaßstäben – einen Rassisten und Frauenfeind…
Bei der Kant-Lektüre bringen diese Zeitgenossen nur vorgefasste Meinungen mit, Kant muss also Rassist, Frauenfeind und Verteidiger des Kolonialismus gewesen sein. Dass diese Ansichten falsch sein könnten, wollen sie nicht wissen. Und vor allem sind sie nicht hinreichend neugierig auf die für Kant eigentümlichen Gedanken und deren mögliches Provokationspotenzial. Diese Zeitgenossen wollen nicht etwa von einem der größten Denker des Abendlandes lernen. Allen Ernstes glauben sie, eine der bedeutendsten geistigen Persönlichkeiten der Menschheit mit ihrer kleinlichen Besserwisserei beurteilen zu können, noch lieber, sie vor ein geistiges Strafgericht zu zerren, in dem aller Unparteilichkeit zum Trotz der Schuldspruch schon vorab feststeht.

Sollen wir den Philosophen selbst nochmals bemühen? „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“
Urteilskraft ist etwas anderes. Man kann die richtigen Grundsätze haben, und trotzdem unfähig sein, sie hier und jetzt sachgerecht anzuwenden. 

Ist es denn überhaupt zulässig, zu fragen, was uns Kant heute noch sagen kann? Oder reißt man den alten Philosophen damit aus einer Zeit, aus seinen Umständen?
Wir müssen uns sogar fragen, was Kant uns heute noch zu sagen hat. Das ist doch der Sinn von Klassikern sowohl in der Literatur und der Musik als auch in der Philosophie. Kant ist schon menschlich ein überzeugendes Vorbild. Vor allem aber ist er ein Denker, der in seiner unbändigen Wissbegier, in seiner von keiner Autorität – außer der gemeinsamen menschlichen Vernunft – beirrbaren Forschungslust und in zahlreichen, bis heute überzeugenden Einsichten, immer wieder Staunen und Bewunderung erregt. Nach Schopenhauer ist Kants „Kritik der reinen Vernunft“ das bedeutendste Buch, das jemals in Europa geschrieben wurde. Von Kant, diesem wunderbaren Geschenk an die Menschheit, können wir lernen, wie man selbstständig und gründlich denkt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Otfried Höffe, * 1943 in Leobschütz, ist emeritierter Ordinarius für Philosophie an der Universität Tübingen, hat aber noch eine Teilprofessur an der renommierten Tsinghua Universität in Peking inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Aristoteles und Kant sowie Moralphilosophie, angewandte Ethik und Politische Philosophie. Von ihm sind mehr als dreißig Monographien erschienen.

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