Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Vermisst jemand den Verkehr?“

März 2023

In Bregenz ist die größte Fußgängerzone des Landes in Betrieb gegangen, große Teile der Innenstadt sind autofrei geworden. Dagegen regt sich auch Widerstand. Architekt Roland Gnaiger (71) sagt im Interview, dass die Besucherströme zurückkehren werden und die Stadt insgesamt immens an Wert gewinnt. Der emeritierte Universitätsprofessor im Gespräch über neue Qualitäten, verlorene Empfindungen – und den einstigen Irrweg der „autogerechten Stadt“.

Salopp gefragt, Herr Professor: Kennen sie irgendjemanden, der den Stau in der Kirchstraße vermisst?
Das ist eine gute Frage! (lacht) Vermisst jemand den Verkehr?

Es regt sich allerdings auch Widerstand. 
Dass sich gegen Fußgängerzonen und jegliche Art der Verkehrsberuhigung Widerstände organisieren, kennen wir seit 40 Jahren, seit es Maßnahmen zur Rückgewinnung der Städte für ihre Bewohner und Bewohnerinnen gibt. Das gilt ja auch für andere Fälle, in denen individuelle Privilegien eingeschränkt werden. Das Recht, überall mit dem Auto zu fahren, ist eine Freiheit, die allerdings massiv auf Kosten der Freiheit und Lebensqualität sehr vieler geht. Klarerweise geht es nicht darum, die Versorgung der Geschäfte, Einsatzfahrzeuge oder bewegungsgehemmte Menschen in ihren Mobilitätserfordernissen einzuschränken.

Geschäftsleute beklagen Umsatzrückgänge und eine geringere Kundenfrequenz.
Ja, anfänglich gibt es im Zuge von Straßenrückbauten da und dort Geschäftseinbußen. Die haben mit der generellen Verunsicherung, mit den Erschwernissen durch Baustellen und den notwendigen Eingewöhnungsphasen zu tun. Die Kirchstraße in Bregenz war über ein Jahr auch wegen eines Haus­umbaus gesperrt. Natürlich verringert das die Kundenfrequenz. Aber innerhalb eines Jahres kehren die Besucherströme zurück. Fast in allen Fällen verstärkt. Dadurch steigern sich in Folge auch die Gewinne der Kaufleute. Am Kornmarktplatz oder am Leutbühel wurden die Widerstände einst von Geschäftsleuten und Anrainern angeführt, die heute zu den größten Profiteuren zählen.

Gegner sagen, dass auch die Immobilien weniger wert würden.
Genau das Gegenteil ist der Fall! In Wien etwa steigen die Immobilienpreise rund um die verkehrsberuhigten Straßen am allermeisten. Man darf nur die Verkehrsberuhigung nicht zu klein anlegen. In Bregenz ist sie im Augenblick groß genug. Die betreffenden Immobilien werden also an Wert gewinnen, was wir in sozialer Hinsicht allerdings nicht mehr brauchen.

Haben wir denn das autofreie Zentrum im Laufe der Jahre verlernt?
Wir wissen gar nicht mehr, wie sich das Leben in den Städten und Dorfzentren anfühlte, als diese noch den Fußgängerinnen, den Radfahrern, den Alten und den Kindern „gehörten“. Alle wurden vom Individualverkehr an die Ränder und in Nischen gedrängt. Und es ist nicht nur der Platzanspruch, nicht zuletzt auch der parkierenden Fahrzeuge, es sind auch der Lärm, die Abgase und die Bewegungs- und Sichtbehinderung durch Autos, die uns ein Leben in den Zentren vermiest haben. 

Der motorisierte Verkehr …
… hat das gefahrlose, unbedrängte und mußevolle Flanieren und Einkaufen in den Städten verunmöglicht. Die Besetzung der Straßenebene durch den PKW-Verkehr ließ Erdgeschoßzonen, Geschäftsflächen und Ortszentren vergammeln, hat Häuser entwertet und die Karriere der Einkaufszentren an Ortsrändern und in Gewerbezonen befördert. Fußgängerzonen sind das beste Mittel, um dieser Fehlentwicklung zu begegnen. Bei einer gewissen Größe verkehrsberuhigter Zonen liegt der Kipppunkt, ab dem profitieren eine ganz Stadt und alle ihre Geschäftsleute von dieser Entwicklung. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, wie einst der Hauptverkehrsstrom über den Leutbühel geleitet wurde und der gesamte Kornmarktplatz zugeparkt war, alte Fotos sind hilfreich, um sich das zu vergegenwärtigen.

Wie kam es denn zu diesem Irrweg?
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde, insbesondere auch von Architekten, die „Autogerechte Stadt“ propagiert. Welch unfassbarer Irrtum! Damit haben wir Stadtteile und ganze Städte zerstört und die Tradition der wunderbaren „Europäischen Stadt“ mit Füßen getreten. Noch heute leiden wir unter diesen Konzepten. Nur solange die individuelle Motorisierung nicht massentauglich wurde, sah das erstrebenswert aus. Der Einfluss der Architekten und Städtebauer ging jedoch ziemlich schnell zurück; vielleicht, hätten sie nicht so einseitig agiert: Zu den wahren Herrschern über die Stadtgestalt wurden die Verkehrsplaner. 

Und das sieht man auch in Bregenz.
Das gesellschaftlich gut abgesicherte Ziel der Verkehrsplaner war es, der individuellen Motorisierung zu einem raschen Durchbruch zu verhelfen. Dafür mussten möglichst viele Widerstände hinweggeschafft und Schneisen geschlagen werden, um dem Auto den kürzesten, schnellsten, das heißt auch geradesten Weg quer durch die Städte und an jeden Ort zu gewährleisten. Der Leutbühel ist ein Beispiel dafür, zwei Häuser wurden dem Verkehr geopfert. In diesem Denken waren Fußgängerinnen und Radfahrer nicht existent. Erinnern Sie sich beispielsweise, dass am Zebrastreifen Fußgängerinnen noch nicht so lange Vorrang genießen? Diese technoide Ausrichtung war es, die zahllose Städte nachhaltiger zerstörte als es die Kriege davor vermochten. Doch was uns viel zu wenig bewusst ist …

Ja, bitte?
Uns ist viel zu wenig bewusst, dass der schleichende Rückgang der Lebensqualität in den Zentren uns eine zweifache Misere beschert hat: die Flucht der Bewohner an die Siedlungsränder ins sogenannte Grüne, und damit verbunden die weiten Wege, sowie den gewaltigen Flächenfraß, der den Abstand der „zurückgebliebenen Städter“ zu den wirklich grünen Räumen zunehmend vergrößerte. Im Bregenz der 1960er-Jahre kam man von überall in weniger als fünf Minuten Fußweg in den Naturraum. 

Und wie war das früher? Beispielsweise in Ihrer Kindheit?
Als Kind in Bregenz war mein Spielplatz die Straße. Wir haben mit Kreide Spielfelder am Asphalt markiert. Wenn pro Stunde ein Auto durchfuhr, sind wir ausgewichen. In „unserer“ Straße haben in den 1960er-Jahren zwei Autos parkiert. Heute sind es 200. Die Autos haben uns den öffentlichen Raum enteignet. An ein Spiel auf der Straße ist nicht mehr zu denken. Nehmen wir nur einmal die Perspektive von Kindern, Jugendlichen und Alten ein! Sie leiden darunter am meisten. Der Jammer ist, die meisten wissen nicht mehr aus eigener Erfahrung, wie wunderbar es sich in Städten leben lässt, wenn sie großzügige Angebote an gefahrlosen, ruhigen öffentlichen Straßen und Plätzen bereithalten, wie sehr das Lebensgefühl und das soziale Leben davon angefacht würden. Das freie, ungefährdete Bewegen und Begegnen, in für alle Schichten niederschwellig erreichbaren öffentlichen Räumen ist auch ein Salz der Demokratie. Dort wo – und sei es versuchsweise – nur für einen Tag Autofreiheit angesagt wird, leben Menschen auf. Für die Teilhabe der Bürgerinnen am gesellschaftlichen Leben, für die Durchmischung unterschiedlicher Alters- und Sozialgruppen und deren Austausch, Integration und Entfaltung ist öffentlicher Raum unverzichtbar. Natürlich leistet das nur der autofreie öffentliche Raum. Auf einer übergeordneten Ebene geht es nochmals um mehr.

Sie sprechen den Klimawandel an.
Ja. Der motorisierte Verkehr hat an unseren Klimaproblemen einen enorm hohen Anteil. Ein Drittel des CO2-Ausstoßes ist dem Verkehr geschuldet. Elektrisch betriebene Autos verderben im Betrieb zwar nicht die Luft, aber ihr Platz­anspruch ist um nichts geringer. Wo also fangen wir mit dem erforderlichen „Umbau“ an? Denn mit Recht wird darauf hingewiesen, dass Menschen, die als Pendler am Land, abseits von Arbeitsangeboten und sozialer Infrastruktur leben, nicht die Ersten sein können, die ihr Mobilitätsverhalten verändern. Wer sollte es also sein? Wohl Menschen nah den Ballungsräumen, mit guten öffentlichen Verkehrsangeboten und/oder kurzen Wegen zu allen Arten der Alltagsversorgung, zu den sozialen und kulturellen Angeboten! Wer in der Bregenzer Oberstadt wohnt, mit 300 Meter Luftlinie zum Stadtkern, ist ohnehin privilegiert. Und wir dürfen nicht vergessen: mit der Verkehrsberuhigung tun sich ganz neue Möglichkeiten auf. Die technische Entwicklung bietet faszinierende neue Bewegungsformen, für ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Das E-Bike und die Scooter sind erst der Anfang. Ich habe eine beeindruckend große Sammlung an Bildern von neuen Fahrzeugen und Mobilitätsformen: von Lastenfahrrädern, Rikscha-ähnlichen Gefährten, Rädern, die nicht kippen können, für weniger sportliche oder körperlich nicht so fitte Menschen. Manch einer muss auf dieses Glück erst gestoßen werden. Für viele tun sich die Alternativen erst auf, wenn sich dafür eine Notwendigkeit ergibt, etwa durch den Rückbau einer Straße. 

Und wie ist das bei Ihnen selbst?
Ich wohne in Bregenz, nahe beim Friedhof Blumenstraße. Jahrzehntelang bin ich ins Stadtzentrum über die Kirchstraße gefahren. Die Sperre der Kirchstraße bedeutet für meine Familie zwei Kilometer „Umweg“ ins Zentrum. Die Folge war unsere Verhaltensänderung. Wir gehen heute zu Fuß oder fahren mit dem Rad und genießen die Freiheit und Ruhe und die Zufallsbegegnungen in der viel attraktiveren „neuen“ Kirchstraße. 

Was also ist zu tun? In Bregenz und in anderen Städten?
Wenn wir die großen Qualitäten der Europäischen Stadt zurückgewinnen wollen müssen wir den Irrweg der „Autogerechten Stadt“ korrigieren und diese auf neuem, zeitgemäßem Niveau in eine „Menschengerechte Stadt“ zurückverwandeln. Gemessen an den Auswirkungen für unser aller Leben und die Umwelt ist der Aufwand dafür gering. Der Lohn sind wunderbare, lebendige Städte, Orte die gegenüber einem Leben im „Speckgürtel“ viele Vorteile haben. 

Und doch gibt es Menschen, die die Maßnahmen wieder rückgängig machen wollen …
Wer wollte heute noch, dass der Kornmarktplatz in Bregenz, die Marktstraße in Hohenems oder das Feldkircher Altstadtzentrum wieder zu einer von Autos dominierten Verkehrsfläche wird? Immer wieder ist es das gleiche: nach einiger Zeit der Um- und Eingewöhnung ist für alle ein Rückbau zur Autostadt unvorstellbar. Sollte es in Bregenz den heutigen Gegnern der Verkehrsbefreiung tatsächlich gelingen, die Ausweitung der Fußgängerzone zurückzudrehen – was eigentlich nicht mehr vorstellbar ist –, dann wäre dies ein Pyrrhussieg. Die Entwicklung würde damit nur um Jahre verzögert, denn aufzuhalten ist sie nicht. Wir müssen wissen: Von der Ausdehnung verkehrsberuhigter Bereiche werden auf längere Sicht alle Akteure einer Stadt beschenkt. Das Gesamtniveau wird gehoben und damit auch die Kaufkraft.

Man macht in Bregenz also die Verfehlungen der vergangenen Jahrzehnte rückgängig?
Ja. Aber auf einem neuen Niveau.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Roland Gnaiger

* 1958 in Hard, ist Kulturmanager, Publizist und Gast­professor an der Universität für ange­wandte Kunst Wien.

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