Herbert Motter

Wir stecken in der Nationalismusfalle

Mai 2024

„Die Welt von morgen: Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde“ ist das Manifest eines leidenschaftlichen Europäers. Schriftsteller Robert Menasse (69) verteidigt in seinem neuesten Werk die europäische Idee und lädt dazu ein, die systemischen Widersprüche der Europäischen Union kritisch zu hinterfragen und zu überwinden. Menasse sagt: Entweder gelingt der Aufbau einer post-nationalen Demokratie oder es droht ein Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten und damit eine „weitere Niederlage der Vernunft“. Wir trafen den Autor, der dieser Tage seinen 70. Geburtstag feiert, zu einem Gespräch in St. Arbogast.

 

In einer nicht gerade schmeichelhaften Rezension Ihres neusten Buches der NZZ am Sonntag wurden Sie vor Kurzem als „letzter Europäer“ bezeichnet. Ärgert Sie so etwas?
Die Rezension war durchaus wohlwollend, so weit ein Journalist wohlwollend sein kann, der alles, was er nicht versteht, mit herablassender Ironie abhandelt. Geärgert hat mich, dass er sich mit „Bruhaha“ über etwas lustig machte, was ich gar nicht geschrieben habe. 

Was hat er Ihnen denn unterstellt?
Ich trete für einen europäischen Pass ein, der die nationalen Pässe ersetzen soll. Habe das auch begründet. Aber er hat behauptet, ich will, dass jeder Europäer eine symbolische Bestätigung bekommen soll, dass er Europäer sei, und dieses Papier kann er sich dann rahmen und übers Bett hängen. Mich ärgert eine solche Dummheit. 

Bleiben wir bei Ihrem Vorschlag. Ein europäischer Pass als europäische Identifikation.
Man könnte mit einem Stichtag damit beginnen, dass jeder Mensch, der in Europa zur Welt kommt, einen europäischen Pass bekommt. European citizenship, mit Geburtstort, aber ohne Nationalität. Mit der Generation, die damit aufwächst, würde das doch bewusstseinsmäßig etwas machen. Wenn man ein europäisches Bewusstsein entwickeln will, dann wäre das eine ganz einfache Maßnahme, die noch dazu nichts kostet.

EU-Bürger ist nicht gleich EU-Bürger, sie kritisieren ja immer wieder die fehlende Gleichheit gerade in Bezug auf das Wahlrecht ...
Die gibt es auch nicht. 30 Prozent der in Wien lebenden Menschen, die arbeiten und Steuern zahlen, haben kein Wahlrecht. EU-Bürger haben je nach den jeweiligen nationalen Gesetzen ganz verschiedene Zugänge zu ihrem europäischen Wahlrecht, und ein Wahlrecht dort, wo sie in einem anderen Mitgliedstaat leben, haben sie oft gar nicht. Das ist absurd.

Mit dem Thema EU scheint man hierzulande nicht viel zu gewinnen. Beschäftigen Sie sich, auch in Romanen, mit Europa, weil es sonst niemand tut?
Das ist nicht der Grund. Ich mache es, weil es meinem Selbstverständnis als Schriftsteller entspricht, mich mit meiner Zeitgenossenschaft auseinanderzusetzen. Ein Roman ist doch nichts anderes als Zeit in Erzählung gefasst, so dass Zeitgenossen sich erkennen und spätere uns verstehen. Heute kann man als Europäer seine Zeitgenossenschaft nicht reflektieren, wenn man sich nicht klarmacht, wie sehr die Europäische Union in unser aller Leben hineinspielt. Wenn ich daher erzählen will, wie wir heute leben, was für Probleme, welche Hoffnungen, welche Herausforderungen, welche Sehnsüchte wir haben und woran wir scheitern, dann muss ich die EU mitreflektieren, muss ich EU miterzählen. 

Der Historiker Christopher Clark hat bei einer Eröffnung der Salzburger Festspiele einmal gesagt, die EU ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Er in Australien versteht das, wir in Österreich nicht.
Ursachen dafür gibt es einige. Es beginnt damit, dass alle darauf eingeschult und gewohnt sind, bei Wahlen national zu denken. Niemand denkt daran, dass die Regierung, die am Ende bei Wahlen rauskommt, auch eine europapolitische Verantwortung hat. Aber Kanzler und Minister werden dann Sitz und Stimme im Europäischen Rat haben. Und umgekehrt, wenn wir dann zur Europawahl aufgerufen sind, können wir nur nationale Listen wählen. Da sind wir wieder in einer Nationalismusfalle, weswegen die Kandidaten, die sich der Wahl stellen, auch keine Europathemen ansprechen, sondern wieder nur innenpolitische Themen.

Ihren Schriften lässt sich entnehmen, die derzeitigen EU-Organisationen werden dem Ursprung nicht gerecht, wie sie damals die Gründerväter der Europäischen Union geplant haben.
Als einziger Kontinent auf diesem Planeten haben wir supranationale Institutionen entwickelt, das war ein riesiger historischer Fortschritt. Dass internationale Organisationen nichts bewirken, sieht man am Beispiel der UNO. Die 1947 von ihr verabschiedete Menschenrechtserklärung ist eine Empfehlung, die auch nicht von allen Staaten ratifiziert wurde, übrigens nicht einmal von den USA. Die europäische Menschenrechtscharta ist im Verfassungsrang. Man kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein, wenn man sie nicht ratifiziert hat. Und der Unterschied zur UNO ist auch, bei einem Menschenrechtsbruch gibt es in Europa ein Gericht, bei dem man das einklagen kann. Mit der Empfehlung der UNO kann man zum Salzamt gehen. 

Supranationale Institutionen sind daher ganz was anderes ...
Ja, vom Anspruch her sind das Institutionen, die Gemeinschaftsrecht entwickeln, statt bloß unverbindliche und wirkungslose Kompromisse zwischen nationalen Interessen. Was das für eine enorme Bedeutung hat, geht nicht und nicht in die Köpfe der Menschen hinein, weil institutionell alles so aufgestellt ist, dass man immer wieder an die Panzerglastüre Nationalismus rennt.

Weil dann wieder die Nationen etwa im Europäischen Rat sich letztendlich alles untereinander ausmachen?
Die Mitgliedstaaten haben sich immer eine letzte Entscheidungshoheit vorbehalten; dies ist das institutionelle Problem der Europäischen Union. Diejenigen, die sich vertraglich darauf geeinigt haben, Gemeinschaftspolitik zu machen, sind gleichzeitig die, die sie immer wieder blockieren. Es ist verrückt, einzigartig in der Geschichte des Parlamentarismus, dass eine parlamentarische Mehrheit nicht reicht, dass eine Initiative zum Gesetz wird. Es müssen dann erst die Vertreter der Nationalstaaten zustimmen. Die sind sozusagen eine Personalunion von Bock und Gärtner. 

Jetzt wird man das Gefühl nicht los, dass es immer Krisen braucht, damit die EU funktioniert.
Wenn eine Krise eine bestimmte Dramatik erreicht hat, dann wird bei Gefahr des sonstigen Untergangs doch etwas möglich, was zuvor noch kategorisch ausgeschlossen wurde. Selbst der Gründungsmoment war schon die Antwort auf eine Krise. Und zwar auf die Konsequenzen der brutalsten Menschheitsverbrechen und Kriege, die es je gegeben hat. Es gab die krisenhafte Erfahrung, dass Friedensverträge nichts nützen.

Wie ist das zu verstehen?
Schauen Sie sich den von Herrn Putin unterschriebenen Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen Russland und der Ukraine an. Wirkt der? Allen Aggressionskriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind Friedensverträge vorangegangen. Aber Friedensverträge waren Termingeschäfte; die haben Zeit zum Aufrüsten gegeben. Das haben die Gründerväter des europäischen Einigungsprojekts begriffen. Das heißt, keine Friedensverträge, sondern Verflechtung der Nationen, und Entwicklung supranationaler Institutionen, die erste war die hohe Behörde der Montanunion zur Kontrolle über die kriegswichtigen Güter Kohle und Stahl.

Aber das allein hat noch nicht dazu geführt, dass wirklich das Konkurrenzdenken zwischen europäischen Nationen verschwunden wäre?
Weil man viele, viele Jahre in der politischen Entwicklung der Europäischen Union verloren hat. Jahre, in denen man geglaubt hat, am Status quo besteht eine gewisse Balance und wir müssen das nur noch verwalten. Doch genau diese Haltung und gleichzeitig die nationalistischen Blockaden gegenüber sinnvollen weiteren Schritten haben dazu geführt hat, dass wieder neue Krisen und Probleme entstanden sind.

Scheinbar haben wir keine Politiker, die das wirklich begreifen?
Es war nicht immer so; die Gründergeneration hat gewusst, was sie tut. Fortschritte waren nur deshalb möglich, weil Menschen am Werk waren, die wirklich europäisch dachten und die Einsicht in die Notwendigkeit hatten, europäische Gemeinschaftspolitik zu ermöglichen. Das war so bis zur Generation Kommissionspräsident Jacques Delors, als letzten Ausläufer noch Jean-Claude Juncker; in Österreich Franz Vranitzky oder Erhard Busek.

Sie sagen, die Überwindung des Nationalismus muss eine postnationale Demokratie sein. Gibt es zwischen dem Nationalismus und dem vorgeschlagenen Weg nichts dazwischen?
Nein, dazwischen sind die kleinen Schritte. In Europa große Schritte zu machen, ist erwiesenermaßen unmöglich. Da gibt es zu viele blockierende Traditionen.

Weil es Europa an echter Demokratie fehlt?
Immer wird gesagt, Europa ist ein demokratischer Kontinent. Aber niemand kann erklären, was Demokratie ist. Niemand. Jeder glaubt, Demokratie ist wählen gehen. In den 27 Staaten der Europäischen Union existieren 27 vollkommen unterschiedliche Demokratiemodelle. Mit der Wahlarithmetik von einem Land käme in einem anderen eine völlig andere Regierungskonstellation heraus.

Die Antwort darauf?
Wir müssen eine gemeinsame Demokratie entwickeln, in der die 27 verschiedenen Modelle aufgehoben werden, und die dazu führt, dass auch der Gleichheitsgrundsatz endlich eingelöst wird, was politische Partizipationsmöglichkeiten der europäischen Bürgerinnen und Bürger betrifft. Das ist etwas vollkommen Neues. Das hat es noch nie in der Geschichte einer nachnationalen Demokratie gegeben.
Kritiker behaupten, das könne nicht gehen.
Für diese habe ich eine wichtige Information. Das, was sie kennen und was ihnen vertraut ist und was ihnen logisch vorkommt, hat es vorher auch nicht gegeben. Sich das einmal vor Augen zu führen, genügt.

Angenommen, es würde Europa wirklich gelingen, diese nachnationale Demokratie herzustellen. Wie müsste Europa in der globalen Welt dann auftreten?
Europa hat in Sonntagsreden immer den Anspruch formuliert, ein Vorbild für die Welt zu sein. Je konsequenter und stringenter wir eine gemeinsame europäische Demokratie entwickeln, desto klarer muss auch sein, dass sie auf dem Fundament unserer Werte und der Menschenrechte steht, und nicht als ideologische Behübschung. Wenn Europa begänne, seine behaupteten Werte ernst zu nehmen, würde sich schon viel ändern.

Tut Europa das denn nicht?
Wir verkaufen und verraten unsere höchsten Werte, weil wir wirtschaftliche Verluste oder diplomatische Verwicklungen fürchten. Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Und dann ist da ein Journalist, der ein Kriegsverbrechen aufdeckt, und der von der Nation, die das Kriegsverbrechen begangen hat, verfolgt und mit dem Tod bedroht wird. Julian Assange. Und das Friedensprojekt Europa, in dem journalistische Freiheit ein hoher Wert ist, kann ihm kein Asyl geben? Aus Angst vor diplomatischen Verwicklungen mit den USA. Anderes Beispiel: Wir wollen mit unseren Werten nicht von Russland, einem Land das einen Aggressionskrieg führt, Gas und Öl beziehen. Gut. Sagen aber im nächsten Satz, unsere neuen strategischen Partner sind die Saudis. Muss man da mehr erklären?

Aktuell feiert der Nationalismus Renaissance. Sie nennen es den Zombie-Tanz der Geschichte, schreiben aber, die Nationalisten können nicht liefern.
Können sie auch nicht. Weil die großen Krisen, die großen Probleme, die Herausforderungen, vor denen wir stehen, alle transnational sind. National lösen könnten sie das Umschreiben von Schulbüchern, die Rücknahme von Frauenrechten, ein Verbot von Ausländervereinigungen. Das heißt, das Einzige, was sie können, ist Kulturkampf. Das, was aber die Menschen wirklich bedroht, die großen internationalen, transnationalen Krisen, können sie in nationaler Souveränität nicht bewältigen. Das ginge nur durch Gemeinschaftspolitik. Sie  verhindern die Lösung, weil sie Gemeinschaftspolitik blockieren. 

Gibt es ein Rezept, wie man dem Rechtsruck begegnen kann?
Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich hätte gern ein Rezept. Die Stimme der Aufklärung ist leise. Sagen Sie den Mitläufern der Nationalisten, dass sie betrogen werden. Sie lachen Sie aus. Aber sie werden nicht bloß betrogen, sie sind nicht nur die künftigen Opfer. Die Mitläufer sind die Täter. Am Ende sitzen sie in der Misere, in Trümmern, dann wird wieder eine Lehre daraus gezogen und das europäische Einigungsprojekt neu begonnen, und sie werden ganz fleißig Wiederaufbau machen – und nicht einmal Scham haben. Sie werden sagen: Wir haben es nicht leicht gehabt. Aber jetzt geht es aufwärts.  

Vielen Dank für das Gespräch!

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