Verena Konrad

Kunsthistorikerin und Architekturtheoretikerin

(Foto: © Darko Todorovic)

Ein Dach für viele

Dezember 2016

Der Wohnungsbau ist eine der wichtigsten Aufgaben in Architektur und Städtebau. In den letzten Monaten hat sich durch zunehmenden Druck am Wohnungsmarkt deutlich gezeigt, welche gesellschaftlichen Fragen sich dabei auftun.
Die Zugänglichkeit des Wohnungsmarkts für einkommensschwache Menschen, die Verfügbarkeit von leistbarem Wohnraum generell, aber auch die nachhaltige Entwicklung von sozial verträglichem Wohnraum im Quartiersmaßstab waren Themen, die breit diskutiert wurden. Dahinter stehen Fragen wie: Wie soll sich Zusammenleben gestalten? Welche Wohnformen fehlen am Markt? Ist Gemeinschaft und „soziale Nachbarschaft“ auch über Grundstücksgrenzen hinaus denkbar?

Wohnen im Jahr 2016 in Vorarl­berg hat viele Gesichter. Nur die wenigsten schaffen es auf irgendwelche Titelseiten oder in einschlägige Magazine. Das alltägliche Wohnen geschieht in vielfältigen Zusammenhängen. Kaum etwas davon ist standardisiert, das Meiste gewachsen, weit weg von idealtypischen Vorstellungen. Wohnpraxis ergibt sich aus einer Balance aus Notwendigkeiten und Möglichkeiten.

Ein Trend und seine Geschichte

Der neu erwachte Trend zur Gemeinschaft hat seine prägendsten Ausformungen da, wo es am meisten spürbar ist: beim Wohnen und beim Eigentum. Kaum andere Themen schaffen es, dermaßen zu polarisieren. Das Modell Baugruppe entwickelte sich in genau diesem Vakuum.

Wirklich neu ist es nicht, das Zusammenleben im Verband von Familie, Freunden, Wahlgemeinschaften. Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen erlebt in unregelmäßigen Abständen immer wieder eine Renaissance. Wo einst die Großfamilie oder das Dorf der soziale Bezugsrahmen waren, sind es heute vor allem Wahlverwandtschaften: Freunde, Gleichgesinnte, einzelne Familienmitglieder, die gemeinsam bauen und wohnen. Dabei sind die Ansätze so vielfältig wie diese Gemeinschaften selbst. Die Ansätze reichen vom Selbstbau bis hin zum schlüsselfertigen Objekt, von bewusst geplanten Individualprojekten bis hin zur Übernahme bestehender Strukturen. Nicht alle Gemeinschaften zeigen sich als solche. Manche bestehen rein als pragmatische Klammern und Organisationsformen, andere erproben sich mit wohlüberlegten Formen des Zusammenlebens als alternative Gesellschaftsformen.

Seit den 1990er-Jahren sind Baugruppenmodelle – Menschen, die sich zusammentun, um Wohnraum selbst zu errichten – ein anhaltender, wenn auch in der Breite nur wenig rezipierter Zugang zur Wohnraumbeschaffung, vor allem aber zur Schaffung bestimmter Wohnkulturen, in denen Gemeinschaft als Wert angestrebt wird. Eine der Keimzellen war Tübingen. Im „Französischen Viertel“ der Stadt, einer ehemaligen Kaserne, stellte die Stadt Grundstücke für alternative Wohnprojekte zur Verfügung. Seit 1993 ist dort Wohnraum für 6500 Menschen entstanden. Über Stuttgart, München, Hamburg, Leipzig und Berlin machte das Modell Schule, in jeweils individuellen Ausprägungen. Die Vielfalt des gemeinschaftlichen Bauens zeigt sich in seinen Erscheinungsformen – von der Einfamilienhaussiedlung über das Mehrfamilienhaus und kleinere bis größere Wohnhäuser bis hin zu ganzen Quartieren ist das Phänomen vor allem dort spürbar, wo der Wohnungsmarkt eine Beschränkung kennt: Knappheit des Grundes, zu wenig verfügbare Wohnungen in Miete wie Eigentum, zu wenig kostengünstiger Wohnraum, und vor allem: zu wenig kostengünstiger Wohnraum für individuelle Bedürfnisse. Das Phänomen zeigt sich am deutlichsten in Städten, vermehrt aber auch in ländlichen Regionen. Die Ansprüche sind dabei sehr ähnlich, Maßstab und Wohntypologien wechseln. In Vorarlberg sind es vor allem Mehrfamilienhäuser und kleinere Wohnanlagen, die bereits früh eine Realisierung erfuhren – noch lange bevor der Trend die großen Städte erfasste. Die „cooperative“, eine Planungsgemeinschaft, hat bereits in den 1980er-Jahren Projekte geschaffen, die kostengünstig, mit hohem Selbstbauanteil und veränderbar in vielen Details Wohnraum für Gemeinschaften schuf. Auch jüngere Projekte zeigen, dass diese Entwicklung nie abgerissen ist. Dennoch gibt es eine nicht zu leugnende Realität: Nicht alle Versuche, Wohnprojekte und Baugruppenprojekte zu realisieren, gelingen. Planen und Bauen ist aufwendig. Gemeinschaft macht vieles leichter, nicht alles.

Grundthema bei vielen Wohn- und Bauprojekten ist das Wachsen „sozialer Nachbarschaften“. Dies reicht von alltäglicher Nachbarschaftshilfe bis hin zu gemeinsam genutzten Einrichtungen wie Fahrradpark, Carsharing, Einkaufsservice, Kinderbetreuung, betreutem Wohnen, Gästezimmer, Bibliothek, Waschküche, Gastronomie … manche Einrichtungen davon auch benutzbar für das Umfeld. Klingt ein bisschen wie Schlaraffenland, ist aber an vielen Orten bereits Realität. Projekte wie die „Kalkbreite“ in Zürich oder das „Wohnprojekt“ in der Krakauer Straße in Wien-Mitte zeigen, was möglich ist. Als Gruppe zu bauen, hat einige Vorteile. Der Quadratmeterpreis sinkt spürbar, Ansprüche werden radikal hinterfragt, ebenso Wertsysteme, die Entscheidungen beeinflussen. In der Gruppe ist vieles möglich, was allein nicht denkbar wäre, von Investitionen bis hin zur Ressourcennutzung. Diese betrifft vor allem den Umgang mit Grund und Boden, aber auch Energiethemen.

Selbstbestimmung und Mitwirkung

Mitwirkung ist ein zentrales Kriterium. Diese will „gelernt“ sein. Die Arbeit in der Gruppe ist ein dynamischer Prozess, der Begleitung braucht. Mittlerweile ist daraus ein eigener Beruf entstanden: Mediator im Baugeschäft. Auch einige Architekturbüros haben sich auf partizipative Planung spezialisiert. Ziel ist, dass Bauherren mehr Einfluss auf die Gestaltung ihrer Wohnung nehmen können. Oberstes Credo und Klammer all dieser Projekte ist Selbstbestimmung. Ursache und Wirkung dieses Phänomens sind eine Individualisierung des Wohnens innerhalb eines Gemeinschaftsgefüges und ein konsequentes Reflektieren sozialer Verantwortung beim Erstellen neuer Räume, auch über die eigenen vier Wände, idealerweise auch über die Grundstücksgrenze hinaus, ins Quartier hinein. Gerade in Städten zeigt sich, dass Baugruppenprojekte durch ihre Reflexion auch zu einem Verdichten der Innenstädte mit wertvollen sozialen und kulturellen Impulsen beitragen. Nicht selten entsteht durch Baugruppen eine Aufwertung des Wohnumfelds durch gezielte Maßnahmen nach außen – nicht immer sind diese Effekte nur positiv. Gentrifizierung ist in den Städten ein Problem.

 

Ausstellung Daheim | Bauen und Wohnen in Gemeinschaft

Eine Ausstellung im Vorarlberger Architektur Institut widmet sich derzeit dem Thema des gemeinschaftlichen Bauens und Wohnens. Bis zum 21. Jänner sind dort 17 in Europa verwirklichte Projekte von Baugruppen, Genossenschaften und Wohnungsbaugesellschaften in ausführlicher Dokumentation einzusehen. Ein kleines Bild- und Textarchiv beleuchtet das Thema in seiner historischen Dimension mit ausgewählten Projekten der letzten 30 Jahre. Darüber hinaus widmet sich die Ausstellung Themen wie Organisations- und Rechtsformen und stellt damit Fragen nach gemeinsamem oder individuellem Eigentum. Die von Annette Becker und Laura Kienbaum kuratierte Ausstellung ist eine Produktion des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt am Main und wird von einer gleichnamigen Publikation im Birkhäuser-Verlag begleitet, die im Handel erhältlich ist. www.v-a-i.at

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