Verena Konrad

Kunsthistorikerin und Architekturtheoretikerin

(Foto: © Darko Todorovic)

Wer baut und gestaltet die Welt?

Juli 2019

Die Wanderausstellung „Legislating Architecture – Architecting after Politics“ hat im November 2018 im Vorarlberger Architekturinstitut in Dornbirn Premiere gefeiert. Im Zentrum der Ausstellung stand der gleichnamige Film „Architecting after Politics“, der Einblicke in den globalen Immobilienmarkt gibt. Die oberste Devise der Macher, das Berliner Architekturbüro Brandlhuber+ und der Regisseur Christopher Roth, lautet: „Nicht jammern!“ Stattdessen werden die Zuseher aufgefordert, Argumente für einen Wandel zu finden, diese zu schärfen und anzuwenden. Eine Aufforderung, die sich nicht nur an Architekten richtet.
Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts im Gespräch mit Arno Brandlhuber und Olaf Grawert (Brandlhuber+ und station+ ETH Zurich)

„Architecting after Politics“ ist der dritte Teil einer Reihe, die mit „Legislating Architecture“ und „The Property Drama“ begann. Wie kommt es, dass ein Architekturbüro mit einem Regisseur Filme macht? 

Brandlhuber: Das hat mit unserem Verständnis von Architektur zu tun. Zum einen verstehen wir uns als kollaborative Praxis. Wir glauben, dass erst im Dialog und in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber gute Projekte entstehen, die konkrete Antworten auf Fragen liefern. Im Laufe der Zeit kam es deshalb zu unterschiedlichen Kollaborationen – mit Musikern, Künstlern, Autoren und Wissenschaftlern. Zum anderen glauben wir, dass Architektur auch immer ein Argument für etwas sein muss. Gebaute Architektur hat das Potential, sehr konkrete Antworten auf spezifische Fragestellungen zu geben. Zum Beispiel darauf, wie man auf verändernde Lebensmodelle reagieren und/oder diese Veränderung begleiten kann. 

Grawert: Gleichzeitig gibt es aber auch Fragen, die mit gebauter Architektur nicht oder nur schwierig zu beantworten sind. Deshalb verstehen wir Publikationen, Ausstellungen und eben auch Filme als Teil unserer Architekturproduktion. Und offen gesagt, auch als Teil unserer Verantwortung gegenüber unserer Disziplin, unserem Berufsstand, aber auch gegenüber der Gesellschaft. Die Zusammenarbeit mit Christopher Roth, Regisseur und Künstler, hat uns neue Wege eröffnet, ein noch breiteres Publikum zu erreichen. Denn gute Filme erzählen auch immer eine Geschichte, und plötzlich werden Architektur und die Themen und Zusammenhänge dahinter verständlich. 

Inhaltlich und formal bauen die Filme aufeinander auf. Während die ersten beiden Teile mit einer Länge von jeweils rund 30 Minuten noch kürzer ausfallen, ist der dritte Teil mit 90 Minuten fast abendfüllend. Auch die Themen vertiefen sich und münden in die Frage: „Who architects?“ Wer baut und gestaltet die Welt? Wie kam es zu dieser Genese? 

Grawert: Die ersten beiden Filme entstanden für Biennalen – in Venedig und Chicago. Das ist zuvorderst eine tolle Gelegenheit, Inhalte zu produzieren, für die es keinen offensichtlich wirtschaftlichen Markt gibt. So ehrlich und pragmatisch muss man sein: Wer unterstützt Filme, die das Paradigma des freien Marktes in Frage stellen? Nur wenige. Gleichzeitig muss man auf das Biennale-Publikum reagieren: Die Besucher haben wenig Zeit und wollen alles sehen, das heißt, die Filme müssen schnell und mitreißend sein, damit die Zuseher möglichst viel mitnehmen und im Idealfall länger bleiben als gedacht. „Architecting after Politics“ ist nun Teil einer Wanderausstellung, die an verschiedenen Orten Halt machen wird – das erlaubt eine langsamere und vertiefte Erzählweise, die mehrere Themen aufgreift. 

Brandlhuber: Der erste Teil, „Legislating Architecture“, handelt von Gesetzen und Normen, über die sich Architekten und Architektinnen gerne beklagen und die oftmals als Ausrede herhalten müssen. 
Der Film zeigt Beispiele, in denen Architekten die Legislative als Entwurfswerkzeug verstehen und durch einen geschickten Umgang mit Gesetzen auf diese rückwirken. „Gesetze gestalten!“ war auch der zweideutige Untertitel der gleichnamigen Ausgabe der deutschen Architekturzeitschrift ARCH+. Der Film selbst ist eher eine Sammlung als eine lineare Erzählung, was, wie zuvor erwähnt, sehr gut für das Format einer Biennale funktioniert. Aus dieser inhaltlichen und filmischen Auseinandersetzung mit Gesetzen entstand dann der zweite Film, „The Property Drama“. Im Kern steht die Bodenfrage, das heißt: „Wem gehört der Boden?“ und warum? Diese Frage kristallisierte sich im Laufe der Arbeiten zum ersten Teil heraus, denn die Verfügbarkeit von Land ist die Grundvoraussetzung einer jeden Architektur. Das mag banal klingen und, wenn man es ausspricht, wird fast jeder zustimmen, jedoch begreifen nur wenige die Tragweite dieses Befunds. Für den Film sprachen wir unter anderem mit dem ehemaligen SPD Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Er bringt es auf den Punkt und stellt „Boden mit Luft und Wasser, alles nicht vermehrbare Güter“ gleich. Deshalb plädierte er bereits seiner Zeit als Oberbürgermeister Münchens und Vorsitzender des Deutschen Städtetags und später in seiner Funktion als Bundesminister (für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau) für eine hundertprozentige Abschöpfung von leistungslosen Wertzuwächsen. Weil es nicht sein kann, dass notwendige Investitionen vergesellschaftlicht werden, Gewinne jedoch privat bleiben. 

Könntet ihr ein Beispiel nennen?

Brandlhuber: Ein Beispiel wäre der Bau einer notwendigen Straße, die in der Folge zur Umwidmung einer landwirtschaftlichen Fläche in Bauland führt. Über Nacht steigt der Wert des Landes ohne das Zutun des Eigentümers um ein Vielfaches an. Diese leistungslosen Zuwächse hätten laut Vogel abgeschöpft werden müssen. Für diesen Vorschlag fand sich jedoch nie eine politische Mehrheit und das Thema wurde Jahrzehnte nicht angesprochen – weder von den Sozialdemokraten noch von den Konservativen. Mit gravierenden Folgen: Vogel bringt im Gespräch über die Preisentwicklung von Wohnbauland in München, zwischen 1950 und 2018, die unglaubliche Zahl von „36.000 Prozent“ ins Spiel. 

Grawert: Die Immobilienmarktberichte der Stadt München belegen diesen Wert. Und auch wir als Architekturbüro sind täglich mit den Konsequenzen fehlerhafter Liegenschaftspolitik konfrontiert. Um Budgetlöcher zu füllen, wurden in Berlin wie in vielen europäischen Kommunen städtische Wohnungen und Bauland im großen Maßstab privatisiert. Die Veräußerung im Höchstbieterverfahren war gängige Praxis und hat Mitschuld an den steigenden Immobilienpreisen hier und andernorts. Der Preis pro Quadratmeter Bauland ist in Berlin in den vergangenen zehn Jahren um rund 1500 Prozent gestiegen. Die Konsequenzen daraus sind nicht nur für Architekten verheerend, sondern auch für Bewohner und im Umkehrschluss auch für die Immobilieneigentümer und Investoren! Um leistbaren Wohnraum zu schaffen, haben Architekten nur zwei Möglichkeiten: die Reduktion des baulichen Standards und/oder der Wohnungsgrößen. Denn die Kosten für Bauland verbrauchen bereits einen Großteil des zur Verfügung stehenden Kapitals. Weil der Renditedruck so hoch ist, steigen die Miet- und Kaufpreise pro Quadratmeter immer weiter an. Die Konsequenz: Nur wenige können sich noch Immobilien in den Metropolen leisten. 

Brandlhuber: An diesem Punkt setzt „Architecting after Politics“ an und fragt: „Who architects?“ Wer baut und gestaltet unsere Umwelt? Denn erst, wenn wir die Mechanismen und Zusammenhänge hinter unserer gebauten und ungebauten Umwelt verstehen, können wir handeln und alternative Modelle vorschlagen. Deshalb zeigt der dritte Film Beispiele alternativer Praxen im Umgang mit (Immobilien)Eigentum. Er weist auf die gesellschaftliche Verantwortung von Eigentümern hin. In Deutschland formuliert das Grundgesetz dazu den Artikel 14: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Das Grundgesetz richtet sich an alle, nicht nur an Eigentümer, sondern auch an Architekten als Gestalter neuer Modelle. 

„Gestalter neuer Modelle“, das klingt nach einem Rollenverständnis von Architekten über das Angebot einer Dienstleistung und rein wirtschaftlichen Praxis hinaus. Was wäre ein Beispiel und wie äußert sich dieses Verständnis in der Architektur? 

Brandlhuber: Architektur ist mehr als ein gebautes Objekt. Wenn wir Architektur systemisch denken, kann sie zum Argument für neue Wege des Zusammenlebens werden. Wenn wir über die Verknappung von Wohnraum und steigende Kosten sprechen, klingt das erstmal nach einem urbanen Phänomen. Tatsächlich können wir die Auswirkungen jedoch überall sehen, auch in ländlichen Gebieten steigen die Preise und die Nachfrage nach neuen Modellen. 

Grawert: Ein Beispiel ist das Projekt IBeB der Berliner Architektinnen ifau / HEIDE & VON BECKERATH auf dem ehemaligen Blumengrossmarkt-Areal. Das Grundstück wurde von der Stadt im Konzeptverfahren vergeben, das heißt der Zuschlag ging nicht an den Höchstbietenden, sondern richtete sich nach dem Nutzungskonzept, in diesem Fall eine Selbstbaugenossenschaft mit einer Mischung aus Miet- und Eigentumswohnungen. 

Brandlhuber: In diesem Beispiel kommen viele Themen zusammen, von sozialer Durchmischung im Gebäude-Maßstab bis zur gesellschaftlichen Verantwortung der Kommunen, Investoren und Architekten. Wir denken, Ziel muss sein, Heterogenität in jedem Maßstab zu ermöglichen – nicht nur in der Stadt, im Quartier, sondern bis ins Gebäude selbst. Heterogenität, soziale Durchmischung, ist dabei sicherlich nicht der bequeme Weg und für Investoren selten die erste Wahl. Darüber sprechen im Film Daniela Brahm und Les Schliesser vom Berliner Projekt ExRotaprint Gmbh. Als gemeinnützige GmbH ist ExRotaprint den selbst gesteckten gemeinnützigen Zielen verpflichtet. 

Grawert: Als Architekten sind wir verpflichtet, solche wirtschaftliche und rechtliche Modelle zu kennen, weiterzudenken und anzuwenden. Erst wenn wir darüber sprechen – in Interviews, Ausstellungen, Publikationen und Filmen – und Projekte danach realisieren, werden sie zur Normalität. Denn bis dato gelten solche Projekte als Ausnahme und werden in ein links-aktivistisches Eck gestellt. Dabei blenden sie wirtschaftliche Aspekte und Interessen keineswegs aus, doch denken sie Kapitalismus gesamtgesellschaftlich, was im Sinne des Werterhalts im Eigeninteresse der Eigentümer liegen sollte. 

Brandlhuber: Nicht entweder ökonomisch oder gemeinwohlorientiert, sondern sowohl als auch. 

Ein Schauplatz im Film ist Lech in Vorarlberg. Warum eignet sich der Ort als Fallbeispiel und welche globalen Phänomene und Zusammenhänge werden dort sichtbar? 

Brandlhuber: Als wir an „The Property Drama“ arbeiteten, stießen wir auf das Thema der katholischen Soziallehre. Spricht man über Eigentümer – global und lokal – landet man schnell bei der katholischen Kirche, die, je nach Rechenmodell, den Platz 1 belegt. Das Thema wurde in einem Gespräch von dem Bodenrechtsexperten und Gründer des Instituts für Bodenmanagement, Dr. Egbert Dransfeld, noch einmal aufgegriffen. Er spricht bei der „Bodenfrage“ und dem Ruf nach Vergemeinschaftlichung von Land, nicht von einem linken Projekt, sondern von einem ursächlich konservativen Projekt. Dabei bezieht er sich auf die katholische Soziallehre nach Oswald von Nell-Breuning, der auch an der Stella Matutina in Feldkirch gelehrt hat. Daraus entstand ein Interesse für die Region und das hiesige Bewusstsein im Umgang mit Grund und Boden. Aus einem geplanten Artikel über Initiativen wie vau | hoch | drei oder den Verein für Bodenfreiheit wurde dann der Film samt Ausstellung. Lech eignet sich als Fallbeispiel besonders gut, weil dort globale und vermeintlich urbane Phänomene verhandelt werden. 

Soll heißen?

Brandlhuber: Lech hat heute die gleichen Probleme wie Berlin: Hohe Nachfrage versus niedriges Angebot führt zu steigenden Preisen. Bauland ist knapp, wenn auch aus anderen Gründen, und wird aufgrund der hohen Nachfrage zum Luxusgut. Den Nachkommen wird damit die Lebensgrundlage entzogen. Für einen Otto Normalverbraucher ist ein Haus in Lech heute unbezahlbar. Der Tourismus ist somit Fluch und Segen zugleich. Er zieht eine urbane, wohlhabende Klientel an, die erwartet, in 1444 m Höhe das gleiche Angebot wie in unseren Städten vorzufinden. Beugen sich die Betriebe diesem Druck, müssen sie weiterwachsen. Mehr Angebot, braucht mehr Fläche, braucht mehr Personal, braucht mehr Unterkünfte usw. Da wirkt der selbstgewählte Leitspruch Lechs „Mehr Raum, mehr Zeit“ fast schon zynisch. Eine Diskussion über alternative Eigentums- und Betriebsmodelle wäre so wichtig. Das erwähnte Projekt – IBeB – mit Querfinanzierung von Eigentums- und Genossenschaftswohnungen würde sich hervorragend für nachhaltigen Tourismus eignen: Ein Teil des Hauses sind Ferienwohnungen, die Mietwohnungen für Lecher und Lecherinnen querfinanzieren. Oder das Modell der Erbpacht: Bestehende Hotels würden ohne Grundeigentum verkauft, lediglich das Nutzungsrecht würde vergeben werden. Somit blieben die längerfristigen Interessen der Dorfgemeinschaft gewahrt. Denn jeder ist willkommen, wenn er oder sie einen Beitrag zur Gemeinschaft leistet. Es gibt diese Modelle, an einem Tisch ausverhandelt und vertraglich geregelt. Ganz nüchtern verhandeln sie die Grenzen zwischen privat und öffentlich neu aus. 

Grawert: Damit endet auch der Film, mit einem Ausblick in die Zukunft. Es geht um das Interesse internationaler Technologiekonzerne an Immobilieneigentum. Das bringt uns wieder zum Thema der Chancengleichheit. Unternehmen wie Google oder Amazon aus den USA, aber auch Alibaba und Baidu aus China, haben Ressourcen und Möglichkeiten jenseits des Nationalstaats, geschweige denn einer Dorfgemeinschaft. Ihr unternehmerisches Interesse an unseren Städten sollte uns an einen Tisch bringen und die Grenzen zwischen privat und öffentlich neu verhandeln lassen. Denn das betrifft nicht nur Architekten, sondern uns alle.

Vielen Dank für das Gespräch!

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