Herbert Motter

Kultur im Land - weit auf engem Raum

Juli 2016

Internationale Leuchttürme, lebendige Kulturinitiativen auf Gemeindeebene und eine engagierte freie Szene an Kunstschaffenden: Die Kulturlandschaft in Vorarlberg ist mit der einer Großstadt vergleichbar. Und doch hört die Diskussion über den Stellenwert von Kultur und die Wertigkeit von Kunst für die Gesellschaft auch hierzulande nicht auf.

Vorarlberg strotzt vor kultureller Buntheit – von Musik und Literatur, darstellender und bildender Kunst bis zu Museen und Archiven, Heimat- und Brauchtumspflege und der Erhaltung des baukulturellen Erbes. Es ist alles da, was ein Land an kulturellen Aktivitäten braucht. Selbst das Kulturbudget steigt im Vergleich zu anderen Bundesländern. Sieht doch alles gut aus, oder?

Werfen wir zunächst einen Blick zurück. Entstanden ist diese Vielfalt in den vergangenen 40 Jahren, trotz der Widerstände konservativer Kräfte, trotz einer bornierten Werte- und Geisteshaltung der Vorkriegsgeneration, die sich nach 1945 fortsetzte, und trotz Politikern wie Ulrich Ilg oder Herbert Kessler und deren Gefolgsleuten, die für ein ausgeprägt katholisches Weltbild und eine restaurative Grundhaltung standen. Zensur­politik prägte zunächst die Kulturaktivitäten auf Landesebene. Der Großteil des verfügbaren Geldes floss in die Bregenzer Festspiele, eine freie Szene gab es nicht. Den Festspielen, die damals operettenerstarrt waren, oblag quasi ein Veranstaltungsmonopol während der Sommerzeit. Eine Ungeheuerlichkeit, in dieser Zeit daneben Kultur machen zu wollen, Kunst zu zeigen.

Der langjährige ORF-Kulturleiter und heutige Veranstaltungs- und Kommunikationschef des Vorarlberg Museum, Manfred Welte, beschreibt die Situation folgendermaßen: „Damals herrschte eine riesige Angst, dass Einflüsse von außen das sittliche, moralische und katholische Weltbild gefährden könnten. Eine junge, kritische Generation von Studienrückkehrern fühlte sich in dieser geistigen Erstarrung und Enge gar nicht wohl. Auch den Künstlern ging diese Wertehaltung gehörig gegen den Strich.“ Es folgte ein gesellschaftlicher Konflikt, dem Zeitgeist der 68er geschuldet: das Katholisch-Konservative gegen die jungen Wilden. Durch diese Reibungen entstand Spannendes. Eine bis dato zumeist geschlossene Welt mit all ihren Abgrenzungs- und Abschottungstendenzen war nicht länger aufrechtzuerhalten. Das Flint-Festival 1971 bildete eine erste Zäsur.

Auch der ORF spielte eine nicht unwesentliche Rolle, war eine Art Sammelbecken für diese Künstler und Kulturproduzenten, bot Plattformen. Daraus entwickelte sich in den 1970er-Jahren eine Jugendhauskultur, zahlreiche Kulturinitiativen wie das Theater am Saumarkt in Feldkirch, der Verein allerArt in Bludenz oder der Spielboden in Dornbirn entstanden.

Der wirtschaftliche Boom des Landes folgte parallel. Der damalige Kulturlandesrat Guntram Lins erkannte den Zusammenhang von Wirtschaftsstandort und Kulturangebot. In den 1980er- und 1990er-Jahren hat er einiges in Bewegung gebracht, vorausschauend agiert und zahlreiche ganzjährig tätige Kulturinitiativen im Land gefördert. Ohne Lins gäbe es kein Kunsthaus und auch keine Neuorientierung der Bregenzer Festspiele. Manfred Welte: „Beim Kunsthaus hat sich gezeigt, dass Kultur kein basisdemokratischer Prozess ist, eine Abstimmung zum Kunsthaus hätte vielleicht fünf bis zehn Prozent Pro-Stimmen ergeben. Lins hat das dennoch mutig durchgezogen.“ Zu Recht, wie sich herausstellte: Das Kunsthaus in Bregenz ist heute einer der Leuchttürme im Land, mit rund 50.000 Besuchern jährlich und einem weltweit anerkannten Renommee.

In Laufe dieser Jahre ist nicht nur das kulturelle Angebot beachtlich gewachsen, sondern auch das kulturpolitische Klima hat sich stark gewandelt. „Unbestritten gibt es heute in Vorarlberg eine über politische Parteigrenzen hinaus geteilte Einschätzung, den Status quo in Kunst und Kultur als Ausdruck einer offenen Zivilgesellschaft wertzuschätzen“, heißt es in der aktuellen Kulturstrategie des Landes.

Eine Bestandsaufnahme

Die Fülle an kulturellen Angeboten ist inzwischen enorm, eindrucksvoll im Kalender der Zeitschrift „Kultur“ abgebildet. Zusammengezählt sind es 300 bis 400 Veranstaltungen pro Monat. Allein die Vielzahl an Bühnen sowie Ausstellungs- und Veranstaltungsräumlichkeiten ist beachtlich: 957 dieser Standorte listet „Kultur“ für Vorarlberg auf – wahrlich erstaunlich bei 96 Gemeinden. Vorarlberg verfügt über 50 Museen. Die meisten haben einen aktiven Museumsverein als Träger oder Unterstützer im Hintergrund, mit einem großen Engagement an Freiwilligenarbeit.

Welte: „Das Angebot ist riesig, eigentlich großstädtisch, sowohl in der Breite als auch in der Spitze. Das ergibt sich neben den Leuchttürmen wie Bregenzer Festspiele, Kunsthaus, Landestheater und Vorarlberg Museum über die Vereine, Kulturinitiativen und auch Gemeinden, die eine gewisse Konkurrenz für die Initiativen bedeuten und mit einer ganz anderen Infrastruktur daherkommen.“ Irgendwann wurde es modern, dass jede Gemeinde einen herzeigbaren Veranstaltungssaal braucht und dieser auch bespielt werden soll. „Auch diese kommunale Einkaufspolitik hat zu einer gewissen Fülle an Angeboten geführt.“

Für Künstler Marbod Fritsch ist das Angebot sehr reichhaltig, mit dem kritischen Zusatz, dass es sich als leicht konsumierbar, aber dafür wenig tief bzw. anspruchsvoll darstellt.
„In einigen Bereichen gibt es sogar zu viel des Gleichen. Meistens erleben wir – der Mentalität des Vorarlbergers entsprechend – etwas ‚Ghörigs‘, Solides. Und das möglichst immer von den gleichen Akteuren. Eine Platzhirsch/kuh-Kultur sozusagen.“

Beachtliche Vielfalt auf kleinstem Raum

Als kleines Bundesland hat Vorarlberg eine erhebliche Zahl an über die Grenzen hinaus beachteten Autorinnen und Autoren hervorgebracht. Zur besseren Vernetzung und Koordination aller literaturproduzierenden und -vermittelnden Einrichtungen wurde im Herbst 2015 die Initiative Netzwerk Literatur ins Leben gerufen.

Vorarlberg kann auf ein gut ausgebautes Musikschulwesen bauen. Zusammen mit dem Landeskonservatorium wird eine musikalische Ausbildung auf hohem Niveau garantiert. Dazu kommen ein sehr aktives Chor- und Blasmusikwesen und eine individuell organisierte Rock- und Jazz-Szene. Eine Sonderstellung nimmt das Symphonieorchester Vorarlberg ein. Neben dem Flaggschiff Landestheater besteht darüber hinaus eine lebendige freie Szene von professionellen Theatern, die über keine feste Spielstätte verfügen. 84 Amateurtheatergruppen agieren aktuell im Land.

Bregenzer Festspiele und Schubertiade sind die dominierenden Anbieter im Klassikbereich, dazu gesellen sich Festivals, meist mit einem spartenübergreifenden Programm, etwa der „Walserherbst“ im Großen Walsertal, „septimo“ im Montafon, die „poolbar“ und die noch jungen „Montforter Zwischentöne“ in Feldkirch oder „Caravan“ in Lustenau und Bregenz. Vorarlbergs Bildende Künstlerinnen und Künstler haben ihren Platz vorrangig in den Sammelausstellungen und Personalen der Berufsvereinigung in Bregenz sowie bei „KunstVorarlberg“ in Feldkirch. Mit dem Magazin4 in Bregenz, dem Kunstraum Dornbirn, der Johanniterkirche und dem Palais Liechtenstein in Feldkirch, der Galerie des Vereins allerArt in Bludenz sowie dem Kunstforum Montafon in Schruns gibt es weitere weitgehend öffentlich finanzierte Ausstellungsorte für internationale und regionale Kunst. 16 private Kunstgalerien existieren laut Kulturbericht des Landes. „Auch im Bereich Film tut sich über das ,Filmwerk‘ derzeit einiges. Überhaupt wird die Kreativindustrie immer wieder unterschätzt“, erklärt Wilfried Nussbaummüller, Leiter der Kulturabteilung des Landes.

Die meisten größeren Orte in Vorarlberg verfügen inzwischen über Kulturinitiativen und Kulturzentren. Exemplarisch zu nennen wären die Kammgarn in Hard, das Kulturforum Bregenzerwald, der Kulturverein Bahnhof in Andelsbuch, der Spielboden in Dornbirn, das Theater am Saumarkt in Feldkirch, die Artenne in Nenzing, die Propstei St. Gerold sowie die Vereine kult pur in Nüziders und allerArt in Bludenz. Sie sehen sich heute als regionale Kulturvermittler, die niederschwellig einen Raum der Rezeption und Partizipation von Kunst und Kultur anbieten. „Sie arbeiten intensiv mit engagierten Menschen im Kunst- und Kulturbereich zusammen. Die dazu notwendige ideelle und materielle Infrastruktur gilt es zu fördern. Die Stärken der Kulturinitiativen liegen in der Unterstützung von kulturellen Initiativen vor Ort, im Anbieten von Ressourcen, in den Kooperationen mit den Einrichtungen und Institutionen, als Proberäume, Produktionsstätten, aber auch als Impulsgeber durch die Präsentation zeitgenössischer Kunst“, sagt Sabine Benzer vom Theater am Saumarkt und betont: „Die Dichotomie von Angebots- und Nachfrageseite, von KünstlerInnen auf der einen und denjenigen, die Kunst wahrnehmen und konsumieren, auf der anderen Seite, wie das Kulturstrategiepapier des Landes das feststellt, scheint aus der Perspektive einer Kulturinitiative ungeeignet und nicht mehr zeitgemäß. Längst werden ,Do it yourself‘ und ‚Prosumer‘-Modelle diskutiert und praktiziert. Die Vielfalt von Kultur zeichnet sich auch aus durch das Aufbrechen einer reinen Zweiteilung in Produzenten und Konsumenten.“ Für Benzer sollte sich eine nachhaltige Förderung auch daran messen lassen müssen.

Förder- und Kommissionssystem

Vorarlbergs Kulturpolitik ist in erster Linie auf ein Förder- und Kommissionssystem aufgebaut. Nussbaummüller: „Es existieren sieben Kommissionen, in denen in Summe 50 Leute mitarbeiten und mitdiskutieren.“ Die Realität sei, dass das Geld immer zu wenig ist. „Es gilt darauf zu achten, wo sind Entwicklungsfelder, wo sind die Bereiche, in denen Handlungsbedarf besteht.“ In Vorarlberg wurde das Kulturbudget im Gegensatz zu anderen Ländern immer wieder erhöht. 21,3 Millionen Euro waren es 2015, um 200.000 Euro mehr als 2014. Aber auch die Bittsteller um den Förderkuchen sind immer mehr geworden.

„Ein Rückzug der öffentlichen Hand ist derzeit noch nicht spürbar, da hat man auch ganz bewusst auf die freie Szene geschaut, die aber dennoch ab und zu den Frust hat, weil viel Geld in die landeseigenen Einrichtungen fließt. Doch das ist logisch: Wenn man diese Strukturen schon aufgebaut hat, wird man sie nicht verhungern lassen“, hält Welte fest. Irgendwann werde es sich aber nicht mehr ausgehen, und dann müsse klar sein, was man künftig will – davor fürchten sich die Zuständigen verständlicherweise. Hier wär Mut der Politiker, wie damals von Landesrat Lins, gefordert. Drastisch formuliert es Künstler Harald Gfader: „Die inhaltliche Entwicklung der Kunst- und Kulturpolitik darf nicht allein der Politik, den Kulturapparaten und ihren Vertretern überlassen werden. Mainstream-Denken und materielle Interessen berühren zunehmend nicht nur das individuelle Schaffen, sondern greifen schleichend in die künstlerische Freiheit ein.“

„Wenn wir das Kulturangebot und die damit verbundene notwendige Förderung nur noch unter dem Aspekt der berühmten Umwegrentabilität sehen, dann rauben wir der Kunst den wichtigsten Parameter: die ,Nutzlosigkeit‘ im Sinne einer ökonomischen Auswertung“, bemängelt Marbod Fritsch. Massentauglichkeit als ein Kriterium sei das Ende einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft, eine Zensur auf Umwegen.

Für Welte muss das oberste kulturpolitische Ziel die Offenheit sein, Dinge entstehen zu lassen. „Bei uns herrscht gleich die Angst vor zu hohen Kosten. Ich habe oft den Eindruck, man ist stattdessen froh, wenn nichts entsteht.“

Kritische Auseinandersetzung fehlt

Grundsätzlich müsse auch die Frage erlaubt sein, warum es kaum dezidierte Kunst gegen Zeitumstände oder Vorgänge im Land gibt und warum der Künstler lieber ein ästhetisch zurückgezogenes Spiel in seinem Schaffen praktiziert. Eine zunehmende Individualisierung wäre eine Erklärung, der wirtschaftliche Druck der Künstler eine andere. Und auch der Vorwurf des sich Arrangierens liegt in der Luft. Künstler Gfader will erst gar nicht von einer Vorarlberger Kulturszene, die diskursiv, wertschätzend, aber auch kontroversiell sein sollte, sprechen, sondern höchstens von einem Milieu, in dem versucht wird, möglichst nahe am Trog zu sitzen.

Für Christoph Thoma, den künftigen Direktor für Kultur, Tourismus und Veranstaltungen der Esterházy Betriebe in Eisenstadt, fehlen eine klare kulturpolitische Strategie und ein intellektueller Diskurs in der Öffentlichkeit darüber. Die aktuelle Kulturstrategie sei nett gemeint, bringe aber keine Klarheit. Die Kritik reicht querbeet von zu vage bis zu utopisch, weil ganz einfach die Rahmenbedingungen nicht vorhanden sind.

Thoma fragt sich, wo im Land eigentlich produziert wird: „Der Humus für Produktion fehlt. Wo sind die Orte, an denen Kunst entwickelt wird, an denen Kunst scheitern darf, wo du Raum und Zeit bekommst, zu experimentieren? Damit mangelt es an der Fähigkeit von Kultur, sich kritisch über gesellschaftspolitische Phänomene zu äußern.“ Kulturvermittlung kommt vor Produktion, lautet die Schelte. „Es fehlen sowohl die Akteure als auch das Publikum für Grenzüberschreitendes, Fragmentarisches oder Experimentelles. Und wenn, dann findet diese Auseinandersetzung nur sporadisch als Import statt“, ergänzt Fritsch. Auch Manfred Welte ortet einen Rückgang der Eigenproduktionen gegenüber früheren Jahren und einen Mangel an Kunst im öffentlichen Raum.

Kritik übt Kulturmanager Thoma auch am fehlenden Wechselspiel von freier Kulturszene und etablierten Institutionen. „Da gibt es zu wenig Netzwerk, zu wenig Austausch.“
Auffallend sei auch die Zurückhaltung der Wirtschaft, Kultursponsoring zu betreiben. Fritsch dazu: „Ich vermisse das Engagement großer heimischer Unternehmen im regionalen Kunst- oder Kulturbereich. Das hätte Vorbildwirkung, nicht nur für die Mitarbeiter. Im Vergleich zur Wirtschaftsleistung schaut es da wirklich sehr dürftig aus.“ Auch Welte glaubt, dass den Unternehmern der Wert und die Bedeutung von Kunst- und Kultursponsoring für die Region zu wenig bewusst sind.
Letztendlich scheint es unmöglich, sich der Kultur zu entziehen, weil sie den Alltag oft auf kaum wahrnehmbare Art und Weise dirigiert. Zugänge sind vorhanden, und entschieden wird im Fall des „zu viel vom Gleichen“ auf dem freien Markt. Allerdings sollte Kultur immer eine gerechte Chance der Entfaltung bekommen. Die spannende Grundfrage wird immer sein: Was leistet Kultur und Kunst für unsere Gesellschaft, für uns? Das kann wohl nur jeder für sich beantworten – als kritische Kulturkonsumentin, als kritischer Kulturkonsument.

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