Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von der Schönheit des Landes – und unterschiedlichen Perspektiven

September 2019

Ob Bodensee oder hochalpine Landschaften – Vorarlberg hat’s.
Ob weitläufiges Rheindelta oder enge grüne Täler – Vorarlberg hat’s. Ob junge Architektur oder lebendige Kultur – Vorarlberg hat wirklich alles. Was für ein Glück für die Vorarlberger – und für uns Urlauber.

Reiseführer „Vorarlberg“, Merian-Verlag

Es gibt in Vorarlberg schöne Punkte, und es gibt zugegebenermaßen auch hässliche, maßgeblich im zersiedelten Rheintal. Aber in der Gesamtheit ist unser Land, selbst für kritische Geister gesprochen, schön zu nennen. Eingeteilt in fünf geologische Zonen, unterteilt in verschiedene Talschaften, finden sich in Vorarlberg Punkte unglaublicher Schönheit. „Wer auf der Suche ist nach der wunderbaren Harmonie von Naturvielfalt, von Artenreichtum, Lebens- und Landschaftsräumen“, dem seien Vorarlbergs Naturschönheiten empfohlen, heißt es etwa auf der Homepage von Vor­arlberg-Tourismus. 14 Punkte sind dort gelistet, exemplarisch, vom Gottesackerplateau im Kleinwalsertal, dem Biosphärenpark im Großwalsertal bis hin zum Steinernen Meer im Lechquellengebirge. Zwei der gelisteten Punkte, der Formarinsee und der Körbersee, waren 2015 respektive 2017 im Rahmen einer ORF-Sendung zu Österreichs schönsten Plätzen gekürt worden, pathetische Beschreibungen inbegriffen. Apropos. 
Der „Spiegel“ hatte in jüngerer Zeit viel über Österreich geschrieben, über die Bundesregierung und deren Ende, einer der Artikel begann ebenfalls ungewöhnlich pathetisch. Es hieß: „Wer Österreich von Westen her betritt, bei Bregenz am Bodensee, gerät mit ein wenig Glück in eine jener Wetterlagen zwischen Wasser und Gebirge, die Bilder von fantastischer Schönheit mitbringen. Es stehen sich dann oft Regenfronten und klare Himmel gegenüber, weil die Berge das Wetter scheiden, oder es ziehen dichte Nebel über den Boden wie magisch glühender Dampf.“ Helmut Tiefenthaler, Geograph und Autor, hatte einst folgende Worte gewählt: „In den Landschaftsformen zwischen Bodensee und Piz Buin kontrastieren in abwechslungsreichen Variationen Eindrücke von Weite und Enge, Höhen und Tiefen, Sanftheit und Schroffheit, Sonnen- und Schattenseiten, Üppigkeit und Kargheit, verspielter Heiterkeit und erhabenem Ernst.“

Die Entdeckung der Landschaft

Ein ästhetisches Bewusstsein für Natur und Landschaft, im heutigen Sinn, entsteht in Vorarlberg erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, Anfang des 19. Jahrhunderts; analog zu den Entwicklungen in anderen Ländern. „Nicht, dass Menschen vorher die Natur nicht gesehen oder nicht geliebt hätten, im Gegenteil“, schreibt Germanist Michael Hutter. Allerdings sei Natur „immer in praktischem oder moralischem Bezug auf die Menschen gesehen“ worden, „der ästhetische Sinn für die Natur erwachte erst an der Schwelle zur Neuzeit, als sich die Menschen von der christlichen Verneinung des Diesseits zu befreien begannen.“ Dieses neue, ästhetische Empfinden breitet sich in Vorarlberg freilich nur langsam aus, sagt der Historiker Manfred Tschaikner: „Es beginnt mit einer anderen Sicht auf die Berge, mit einer anderen Wahrnehmung der heimischen Gefilde.“ Schritt für Schritt dringt das neue Bewusstsein für die Schönheit von Landschaften in den allgemeinen Diskurs ein, zögerlich und elitär, von oben nach unten. Wie sich auch der Tourismus laut Tschaikner „ständisch“ entwickelt: „Was Adelige im 18. Jahrhundert bei ihren Reisen in die Berge an seelischer Erhebung erleben, erschließt sich in den folgenden Jahrzehnten in immer stärkerem Maße dem Bürgertum und gegen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich auch dem einfachen Menschen.“ 

„Was über Jahrhunderte hin ungesehen und unbeachtet blieb oder das feindlich abweisende Fremde war, wird zum Großen, Erhabenen und Schönen; es wird ästhetisch zur Landschaft“, Joachim Ritter, Philosoph, im Essay „Landschaft“, 1963
Es gibt wohl nur wenige, die Natur und Landschaft in Vorarlberg so gut kennen wie Walter Vonbank. Seit 65 Jahren fotografiert der gebürtige Frastanzer das Land, und er sagt von sich selbst, auf Nachfrage: „Ich meine, dass es mir gelungen ist, mit meinen hochauflösenden Panoramafotos und Einzelaufnahmen einen beachtlichen Teil von der Schönheit Vorarlbergs zu zeigen.“ Die Schönheit des Landes, auch das sagt der 85-Jährige, sei „geprägt von der Unregelmäßigkeit der Erhebungen, von Bergen, Hügeln und Tälern und von der Harmonie der Farben.“

Walter Vonbank, bei seiner Arbeit stets von Gattin Waldtraud begleitet, hatte mit 20 Jahren mit dem Fotografieren begonnen. Und je mehr er fotografiert habe, desto mehr habe er in der Natur gesehen und wahrgenommen an Schönheiten und an Einzelheiten: „Wenn man sich für das Schöne öffnet, wenn man es sehen will, dann entdeckt man, welch Wunderwerk Natur und Landschaft sind, in Einzelheiten und in der Gesamtheit.“ Ein Seminar in den 1960ern habe ihn da tief geprägt, ein Seminar mit dem Titel „Sehen lernen“. 

Sehen zu lernen, heiße beispielsweise, Formen und Farben wahrzunehmen, auf das Licht zu achten, die verschiedenen Jahreszeiten richtig zu nutzen, wobei Vonbanks liebste Jahreszeit der Herbst ist: „Im Oktober, wenn die Natur färbt, die Farben harmonieren und nur noch wenige Menschen unterwegs sind, dann ist das fantastisch.“ Sehen lernen heißt auch geduldig sein. „Es braucht Geduld, um die Schönheit einer Landschaft und den optimalen Standpunkt für die Fotoaufnahmen zu erkunden“, sagt Walter Vonbank. Oft ging das Ehepaar ein dutzend Mal zu einem bestimmten Ort, „etwa zum Lünersee, weil wir einen gewissen Grad der Spiegelung festhalten wollten, eine leichte Unruhe im Wasser.“
„Die meine Seele berühren“

Dabei ist die Wahrnehmung einer Landschaft nicht alleine auf das Sehen beschränkt. Sehe sie eine Landschaft, die sie als besonders schön empfinde, „dann muss ich innehalten, muss den Augenblick regelrecht einsaugen in mich“, erklärt Waldtraud, „es gibt solche Punkte, die meine Seele berühren, die dann tagelang in mir bleiben, von denen ich tagelang zehre.“ Stefan Sagmeister, der Grafiker, sagt im Interview mit Thema Vorarlberg, dass es zur Wahrnehmung von Schönheit alle Sinne brauche, „vor allem das Auge“, aber auch „das Ohr, die Nase und den Tastsinn.“ Hans-Dieter Bahr, ein deutscher Philosoph, schrieb übrigens, dass alle Sinne an dieser Wahrnehmung beteiligt seien, fügte aber auch kritisch an: „In dem gewaltigen Lärm, in dem Menschen heute leben, überhören sie leicht die vielen Geräusche und Klänge, die eine Landschaft mitprägen, deren „Stille“ zu suchen, sie vorgeben.“

Es gibt da auch kritische Stimmen. Manfred Tschaikner etwa sagt, dass er mittlerweile immer mehr das Gefühl habe, „dass die Landschaft selbst gar nicht das ist, was die Menschen primär suchen. Vielmehr muss die Landschaft inszeniert werden.“ Soll heißen? „Die Natur wird immer mehr Menschen nur Mittel zum Zweck, wird immer mehr zur Kulisse von Freizeithalten und Konsum degradiert.“ Auch, wenn es selbstredend, viele andere gebe; Menschen, die die Natur anders suchen und erleben, abseits aller Inszenierungen. Die Zeit, das sagt auch Walter Vonbank, sei viel hektischer geworden: „Von zehn Wanderern, die ich sehe, während ich meine Kamera auf das Stativ montiere, zücken acht das Handy für einen schnellen Schnappschuss, ohne sich Landschaft und Natur genauer anzuschauen.“ Die Muße, die Ruhe – Stefan Sagmeister spricht von Kontemplation  –, sich eine schöne Landschaft in ihren Details anzusehen, die sei nur noch sehr wenigen gegeben. Georg Friebe geht da noch einen Schritt weiter in seiner Kritik. „Die Leute“, sagt der Geologe, „haben sich an Eingriffe und Bausünden längst gewöhnt, sie nehmen sie nicht mehr wahr.“ Er, der Naturwissenschaftler, urteilt da anders: „Eine Magerwiese ist faszinierend in ihrer Vielfalt, im Gegensatz zu einer überdüngten Wiese.“ Eine schöne Landschaft ist Georg Friebe „eine, die in ihrer Urtümlichkeit erhalten ist, ohne Geländekorrekturen.“ An einem solchen Ort aber könne durchaus auch eine interessante Architektur mit hineinspielen: „Und in diesem Sinne sind viele Bereiche im Land noch sehr urtümlich, man kann also durchaus von einer interessanten, reizvollen Landschaft sprechen.“ Friebes Credo: „Erhaltet die Landschaft! Denn die Landschaft ist ein wunderbares Kapital Vorarlbergs, wir sollten sie nicht zerstören. Wer auf Massentourismus setzt, irrt. Wenn es überall in den Alpen gleich ausschaut, warum sollten Urlauber denn noch zu uns kommen?“ 

Schönheit – und Zerstörungen

Im Laufe des 20. Jahrhunderts ändert sich das Landschaftsbild. Die 1960er bringen in Vorarlberg eine Zäsur. Helmut Tiefenthaler hält in seinem Aufsatz fest: „Unter einem Zeitgeist, der in allem auf ‚modernen Fortschritt‘ setzte, war die bäuerlich geprägte Erholungslandschaft auf einmal mit dem Geruch des Altmodischen, Rückständigen und Langweiligen behaftet. Der Wille zum Modernsein war nun allgemein so ansteckend, dass in den Fremdenverkehrsgebieten mit Eifer darangegangen wurde, sich ein neues Image zuzulegen.“ Es wird gebaut und gebaut, an Hotelanlagen, Freizeiteinrichtungen, Straßen. Der gespaltene Kummenberg – genauer gesagt: Die Autobahntrasse durch den Udelberg – ist Symbol einer Zeit, die Fortschritt über alles stellt und auf die Schönheiten von Natur und Landschaft keine Rücksicht nimmt. Gespalten wird der Berg laut dem Geologen Georg Friebe, „weil man einen Tunnelbau als zu teuer erachtet und außerdem Schüttmaterial für die Autobahn braucht.“ Erst ab Mitte der 1970er, Anfang der 1980er greift ein neues Bewusstsein für Natur und Landschaft um sich; glücklich sind jene, die sich dem Modernisierungswahn zuvor verschlossen hatten. „Nach dem Schalwerden der Moderne haben nun umgekehrt die Ortsbilder mancher Gemeinden, die bei der Realisierung von Modernisierungsplänen ‚säumig‘ waren, an Attraktivität gewonnen“, schreibt Tiefenthaler, „dadurch sind zum Beispiel die Altstadt von Feldkirch und der Dorfplatz von Schwarzenberg noch mehr als früher zu Raritäten touristischer Attraktivität geworden.“ Entwicklungsbedingt habe Vorarlberg sehr viele Reize früherer Natürlichkeit verloren, es gelte aber: „Das heutige Vorarlberg ist zwar nicht mehr dasselbe Land wie vor 50 Jahren. Doch es vermag selbst jetzt noch mit landschaftlichen Schönheiten von erstaunlicher Vielfalt zu überraschen.“

Doch was ist schön?

In einer Zeit, in der alles und jeder vermessen wird, mag es nicht weiter verwundern, dass es mittlerweile auch Menschen gibt, die behaupten, man könne errechnen, ob eine Landschaft schön sei oder nicht. Man habe einen „wissenschaftlichen Konsens gefunden, was schön ist“, behauptet jedenfalls eine deutsche Landschaftsplanerin. Nutzungsvielfalt, Formenvielfalt, Fernsicht, Reliefenergie, Landschaftselemente oder auch potenziell störende Infrastruktur einer Landschaft werde erhoben, ein Computer berechne die Sache. Als hätten Philosophen seit der Antike nie diskutiert, was Schönheit ist, als wäre der Satz, wonach Schönheit im Auge des Betrachters liegt, nie gesagt worden. Konrad Paul Liessmann schreibt, wenn der Mensch im Alltag, in der Kunst, in der Natur etwas schön nenne, meine er, „dass etwas in besonderer Weise geglückt sei, in sich stimmig, als Gesamtheit gelungen.“ Und gerade weil im Leben und in der Wirklichkeit dieses Gelingen so selten sei, sieht der Philosoph „die Momente des Schönen fast immer auch von einer leichten Melancholie begleitet.“ Ob sich auch leichte Melancholie berechnen lässt? Und subjektives Empfinden von Schönheit verallgemeinern?

Gerald Matts Definition

Stellen wir doch Gerald Matt, dem Kulturmanager und Kosmopoliten die abschließende Frage, ob das Land Vorarlberg schön ist. Matt gibt da folgendes zu Protokoll: „Mein Vorarlberg ist schön. Mein Vorarlberg ist das Vorarl­berg der Werkstatt meines Großvaters in Hard, das Vorarlberg der Erzählungen meiner Großmutter Hedwig von der großen, weiten Welt, das Vorarlberg der ersten Jass-Versuche mit meinem Vater in der „Ilge“, das Vor­arlberg der Besuche des Modeateliers Böckle mit meiner Mutter, das Vorarlberg des Rodelns mit meinen Schwestern in der Bregenzer Sonnenstraße, das Vorarlberg der Dialektik von Strenge und Milde, von Wahnsinn und Wissen meiner Lehrer am Bregenzer Gymnasium, das Vorarl­berg des Tanzkurses und -kusses mit Mädchen des Marienbergs und der langen Nachmittage in der Milli und später das Vorarlberg der schönen Orte und Menschen, von der Villa Maund des Paul Renner über die Wanderungen von Bad Rothenbrunnen aus bis zu den wunderbaren Gesprächen mit Michael Köhlmeier. Das Vorarlberg der Zersiedelung, der sozialen Kontrolle, des Minderwertigkeitskomplexes und des Größenwahns, des „Schaffa, Schaffa, Hüsle Bauas“, des „Ohne Fleiß kein Preis“, des „Ordnung ist das halbe Leben“, das ist hässlich, das ist nicht mein Vor­arlberg .

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