
„In einer begrenzten Welt wird das Grenzenlose angestrebt“
Immer weiter, immer mehr: Meinhard Miegel (75), deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist, prangert im „Thema Vorarlberg“-Interview die Unmäßigkeit der westlichen Kultur an. „Der Mensch“, sagt der gebürtige Wiener, „ist zu einem Torso geworden.“
In Ihrem aktuellen Buch „Hybris“ urteilen Sie, dass „Europa vor dem Scherbenhaufen seiner Hast und Maßlosigkeit“ stehe.
meinhard miegel: Dafür gibt es leider eine ganze Reihe von Indikatoren. Würde die Weltbevölkerung so wirtschaften wie beispielsweise wir West- und Mitteleuropäer, benötigte sie 2,6 Globen. Dass das kein nachhaltiges und zukunftsfähiges Wirtschaften ist, liegt auf der Hand. Oder: Die Europäer, namentlich auch die deutschsprachigen, ersetzen sich schon seit Langem nicht mehr in der Zahl ihrer Kinder. Und wie reagieren sie? Anstatt sich vorausschauend auf eine Bevölkerungsabnahme einzustellen, erwarten sie, dass ihnen andere – nichteuropäische – Völker hoch qualifizierten Nachwuchs frei Haus liefern. Oder: Sie lassen weltweit Hunderte von Millionen für Hungerlöhne schuften, um selbst ein komfortables Leben zu genießen. Oder: Sie verfrachten ihren Müll und sonstigen Dreck in andere Weltregionen und preisen dann ihre eigenen Umweltstandards.
Ist das nicht eine zu harte Diagnose?
Ich fürchte nein. Die westliche Kultur ist geprägt von einer Unmäßigkeit, die sich im Rahmen der globalen Tragfähigkeitsgrenzen nicht befriedigen lässt. Von allem immer mehr – mehr Geld, mehr Haus, mehr Auto, mehr Urlaub –, das ist der stampfende Rhythmus dieser Kultur. Wo immer wir hinschauen – Hybris allerorten. Allerdings kommen die Menschen mit ihrem exzessiven Streben mittlerweile nicht mehr so recht voran. Ein immer größerer Teil ihrer Kräfte wird nämlich benötigt, um angerichtete Schäden zu reparieren, zu kompensieren oder zumindest zu kaschieren. Vieles spricht dafür, dass sich das Paradigma ständiger Expansion erschöpft hat.
Sukzessive wurden – ein Zitat von Ihnen – Habsucht, Gier und Maßlosigkeit, zuvor Laster, zu wohlstandsfördernden Tugenden erhoben.
Habgier und Maßlosigkeit galten lange Zeit als Todsünden. Seit der industriellen Revolution hat sich das jedoch völlig verändert. Jetzt erhöhen diejenigen, die möglichst viel zusammenraffen, damit in der Regel ihr gesellschaftliches Ansehen. Es gab Zeiten, da war der edle, soll heißen der gebildete und kultivierte Mensch, das gesellschaftliche Leitbild. Über ein solches Leitbild lachen heute die meisten. Unser Bildungssystem spiegelt das wider: Sein Ziel ist nicht mehr der gebildete und kultivierte, sondern der effizient produzierende und fleißig konsumierende Mensch. Der Mensch ist hier zu einem Torso geworden.
Sie nennen in Ihrem Buch die Krisen der Banken, Staaten und Finanzmärkte „Teil einer umfassenderen Krise, der Krise des westlich-säkularen Denkens“.
Es ist die Krise eines Denkens, das darauf abzielt, alles zu entgrenzen. Dafür gibt es harmlosere und weniger harmlose Erscheinungsformen. Zu den harmloseren zähle ich das Erstürmen jedes Berggipfels, für das die Menschen früherer Epochen nicht das geringste Verständnis aufgebracht hätten; zu den weniger harmlosen das Ingangsetzen von Kernfusionen, das den Menschen noch in ferner Zukunft zu schaffen machen wird. Geht man der Frage nach, woher dieses Denken kommt, zeigt sich, dass Menschen früher nicht so exzessiv nach Entgrenzung strebten – im Gegenteil: Sie glaubten sich eingebettet in einen göttlichen Heilsplan, der unter bestimmten Voraussetzungen zu ewiger Glückseligkeit des Einzelnen führen sollte. Dabei war Gott für sie das schlechterdings Unbegrenzte – ewig, allgegenwärtig, allmächtig. Solange diese völlige Entgrenzung im Transzendentalen angesiedelt war, warf sie keine Probleme auf. Als aber die Menschen anfingen, „das Himmelreich auf Erden“ errichten zu wollen, begannen die Schwierigkeiten. Der Gedanke, die im Jenseits angesiedelte grenzenlose Glückseligkeit schon im Diesseits verwirklichen zu sollen und zu können, war nicht nur tollkühn. Wie sich mittlerweile zeigt, war er auch zerstörerisch. Denn in einer in vielerlei Hinsicht begrenzten Welt ist völlige Entgrenzung nicht möglich.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Menschheit gleich mehrere babylonische Türme errichtet. Wie ist das zu verstehen?
Der Turmbau zu Babel ist ja die biblische Metapher für menschliches Entgrenzungsstreben – „wir wollen einen Turm bauen, dessen Spitze bis in den Himmel reicht“. Solche Türme werden heute überall auf der Welt errichtet, ohne dass noch jemand Antwort auf die Frage nach deren Sinnhaftigkeit geben könnte. Gleiches geschieht aber auch in anderen Bereichen. Als Beispiele führe ich in meinem Buch den Mobilitätsrausch des modernen Menschen, das ungehemmte Streben nach immer neuen sportlichen Rekorden und die Mechanismen unseres Bildungssystems oder der Arbeitswelt an.
Und die Globalisierung sei der höchste aller Türme.
Ja, denn hier soll die ganze Menschheit in ein System gnadenlosen Wettbewerbs gepresst werden, dessen Maxime lautet: „The winner takes it all.“ Wer keine 100, sondern nur 99 Prozent leistet, geht in diesem System leer aus. Die Folgen sind zum Teil desaströs. Wenn heute ein Prozent der Weltbevölkerung rund 60 Prozent der Weltgüter- und Dienstemenge für sich beansprucht und vier Fünftel der Menschheit zusammen nur 17 Prozent haben, dann ist dies nicht zuletzt auf diese Globalisierung zurückzuführen. Zwar sehe ich durchaus auch deren freundliche Seiten. Aber ihre tiefen Schatten sind unübersehbar und dürfen nicht verdrängt werden.
Gelehrt, gelebt und gefordert wird also das falsche Paradigma „strebe nach mehr“?
Vermutlich gehört es zur menschlichen Natur, nach mehr zu streben. Exzessivität und Universalität dieses Strebens, wie sie jetzt zu beobachten sind, sind jedoch kaum älter als 200 oder 300 Jahre. Sie wurzeln, wie ich bereits andeutete, in der Säkularisierung der Gottesidee, der Renaissance, der Aufklärung und einigen weiteren ideellen Umorientierungen. Wirkliches Momentum erhielt diese Entwicklung allerdings erst mit der industriellen Revolution, und zu einer Art Dogma wurde dieses „immer schneller, weiter und höher“ sogar erst in den 1960er- und 1970er-Jahren. Dem damaligen deutschen Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard machte das regelrecht Angst. 1960 beschwor er die Bürger: Lasst ab von der weiteren Mehrung materieller Güter. Es ist genug. Wendet euch lohnenderen Zielen zu. Das aber wollte kaum einer hören. In Deutschland wurde sogar ausdrücklich ein Stabilitäts- und Wachstumsgesetz beschlossen.
Ist denn in Ihren Augen Wachstum per se schlecht?
Es kommt immer darauf an, was wächst und wie es wächst. Und es kommt auch darauf an, bei wem es wächst. Für Völker, die materielle Not leiden – und zu ihnen gehörten vor 150 Jahren auch die Europäer –, bedeutet Wachstum etwas anderes als für Völker, deren große Mehrheit in materiellem Wohlstand lebt und nicht wenige im Überfluss schwelgen. Zu den letzteren Völkern zählen heute alle früh industrialisierten. In Deutschland, Österreich und der Schweiz beispielsweise gehört selbst der wirtschaftlich Schwächste noch immer zum wohlhabendsten Fünftel der Menschheit. In Ländern wie diesen gilt es deshalb sehr sorgfältig zwischen Nutzen und Schaden von Wirtschaftswachstum abzuwägen. Und dass dieses Wachstum auch Schäden verursacht, wird heute von keinem klar Denkenden mehr infrage gestellt, weshalb die deutsche Bundeskanzlerin dazu aufruft, noch in dieser Dekade eine Art des Wirtschaftens zu finden, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolges – sprich, unsere Lebensgrundlagen – zerstört. Dramatischer geht es kaum. Offenbar ist mit unserem Wirtschaften etwas fundamental nicht in Ordnung.
Apropos zerstörte Grundlagen: Die Schuldenpolitik der Staaten …
Sie gehört maßgeblich dazu und ist beredter Ausdruck dieses hemmungslosen Strebens nach mehr. Denn was sind Schulden, die keinen Investitionen dienen, anderes als der Versuch, auf anderer Leute Kosten einschließlich der Nachgeborenen die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern? Nach dem Zweiten Weltkrieg, als es vielen Europäern materiell erbärmlich ging, kamen viele nicht nur ohne Schulden aus – sie bildeten sogar Rücklagen. Doch davon wollte man seit den 1970er-Jahren nichts mehr wissen. Willy Brandt, seinerzeit deutscher Bundeskanzler, erklärte damals, die Ausgaben der öffentlichen Hand sollten sich nicht nach deren Einnahmen richten, sondern nach den Bedürfnissen der Bürger. Damit waren Dämme gebrochen. Die Schulden wuchsen und wuchsen und der Raum für gestaltende Politik wurde ständig kleiner. Zum Glück hat hier in einigen Ländern mittlerweile ein Umdenken eingesetzt.
Und wie lautet der Gegenentwurf?
Ganz einfach, dass Staat und Bürger, von extremen Notsituationen abgesehen, nicht mehr verbrauchen, als sie erwirtschaften. Dieser simple Grundsatz wurde in unseren Gemeinwesen jahrzehntelang missachtet. Ein Beispiel ist der Sozialstaat. Dessen Kosten zu offenbaren hat die Politik nie gewagt. Vielmehr hat sie einen Teil seiner Lasten durch Schulden finanziert, also auf die nächste Generation abgewälzt. Das war und ist zutiefst unlauter. Doch bei einer soliden Finanzierung der Sozialleistungen müssten Steuern und Abgaben sub-stanziell erhöht werden. Das aber soll den Bürgern nicht zugemutet werden. Was also tun? Steuern und Abgaben erhöhen, Sozialleistungen verringern oder beides gleichzeitig? Da sich die Bürger gegen jede dieser Optionen wehren, steckt die Politik in der Zwickmühle.
Eine eigenverantwortliche Bürgergesellschaft ist ja eines Ihrer deklarierten Ziele.
Die bisherige Politik hat viele Bürger entfähigt, Lebensrisiken zu schultern, die sie gut selbst tragen könnten. Der Einzelne hat sich daran gewöhnt, umfänglich vom Staat versorgt zu werden. Dass man damit zugleich auch entmündigt wird, nehmen die meisten hin. Der Staat ist ihr Vater, der alles besser weiß und kann, und sie sind die unerfahrenen, hilflosen Kinder. Was für eine Perversion des Denkens und Handelns! Nehmen Sie die Organisation der gesetzlichen Alterssicherung. Dass hier wie bei allen anderen großen Lebensrisiken eine gesetzliche Grundsicherung geboten ist, versteht sich von selbst. Wenn jedoch der Staat – so die derzeitige Lage in Deutschland – sogar Bürger mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 6050 Euro zwingt, bei ihm, dem Staat, bis zum Ende ihrer Tage diesen Lebensstandard zu versichern, dann werden staatliche Fürsorgepflichten maßlos überdehnt. Wer nämlich 6050 Euro im Monat verdienen kann, der vermag auch in beachtlichem Umfang für die Fährnisse seines Lebens vorzusorgen.
Verglichen mit dem heutigen Menschen war „Sisyphos ein zielgeleiteter Erfolgstyp“, spotten Sie an einer Stelle in Ihrem Buch. Eine amüsante Feststellung …
… und eine zutreffende. Sisyphos hatte ein Ziel: den Gipfel des Berges. Wenn von dort der Stein, den er hinaufgewälzt hatte, immer wieder hinunterrollte, war das sein tragisches Schicksal. Aber was ist das Ziel von uns Heutigen? Immer weiter, weiter, weiter. Niemals rasten, niemals ruhen. Anders als Sisyphos können wir Heutigen keine Ziele mehr erreichen, weil wir überhaupt keine haben. Wo immer wir hinkommen, befinden wir uns nur auf einer Zwischenstation einer endlosen Reise ins Nirgendwo. Wer hierüber nachdenkt, kann nur frustriert sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
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