Stadt, Land, Dorf: Vom städtischen und ländlichen Leben
Die Ergebnisse der letzten Präsidentschaftswahlen in den USA scheinen räumlich eindeutig zu sein: Die ländlichen Regionen haben vielfach begeistert für Donald Trump und die Republikaner gestimmt, während sich die Demokraten auf eine hohe Wählergunst in den urbanen Zentren verlassen (können). Auch andere politische Wahlergebnisse der letzten Jahre etwa in Frankreich (Le Pen), Großbritannien (Brexit) oder Deutschland (AfD) werden in der Öffentlichkeit oftmals interpretiert als eine neue Spaltung der Gesellschaft in Stadt und ländliche Räume. So titelt der Spiegel Online „Auf dem Land regiert der Frust … Weltweit übernehmen Rechtspopulisten den ländlichen Raum“ (Müller 2016). Aber stimmt das wirklich? Erleben wir eine neue Polarisierung westlicher Gesellschaften in ländliche und urbane Gebiete bzw. Wählerschichten? Was ist eigentlich Urbanität? Und wie hängt dieser Begriff mit seinem Gegenpol, der Ruralität (Ländlichkeit) zusammen?
Begriff und Gegenbegriff: Aus der Zweiheit das Eine erkennen
Der Mensch ist ein „Unterschiedswesen“ (Simmel 2006, 9). Dies behauptet der Philosoph und Soziologe Georg Simmel in seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ und meint damit, dass, um Unterschiede festzustellen, ein Gegenbild konstruiert werden muss. So wird auch im Falle der Stadtforschung der Begriff der Urbanität von Beginn an in Abgrenzung zur Ruralität geführt. Das Besondere dabei ist, dass die beiden Pole nicht gleichgewichtig sind, sondern in einem asymmetrischen Verhältnis existieren. Es ist der Begriff der Urbanität, der den Gegenbegriff, die Ländlichkeit, konstruiert. Welche Kriterien unterscheiden dabei Urbanität von Ruralität und welche Machtbeziehungen sind hier wechselseitig wirksam?
Urbanität: Definitionen und Merkmale
Während sich die moderne Stadtgesellschaft in einem stetigen Wandel befindet, sind die Menschen in ihrem seelischen Leben gefordert, Schritt zu halten. Die Herausforderung des Individuums, im (Gegen-)Strom der Masse Subjekt zu bleiben, wird für Simmel durch das Straßenleben der modernen Großstadt versinnbildlicht. Hier sind die Bewohner auf Bürgersteigen und Plätzen einem Gewirr an Begegnungen mit Fremden ausgesetzt. Als Schutzmechanismus gegen die überbordenden Sinneseindrücke entwickle der Großstädter die „Blasé-Attitude“: Nüchtern und distanziert steuere das Individuum damit seinen Weg durch die anonyme Moderne. Unterhalb der Oberfläche treibt die Großstadt hingegen Prozesse der Individualisierung voran: „Die individuelle Freiheit“ und „persönliche Sonderart“ (Simmel 2006, 42) werde gestärkt.
Simmel hat grundlegende gesellschaftliche Phänomene der Moderne treffend als städtische charakterisiert und so die Großstädte exemplarisch als Orte moderner Verhältnisse definiert. Bis heute geht die Stadtforschung davon aus, dass eine Analyse urbaner Verhältnisse nur als Analyse moderner Verhältnisse, also mit einem gesellschaftstheoretischen Blick auf Urbanität und Stadt möglich ist (Roy 2009).
Stadt und Verhalten
Einen bedeutenden Impuls zur Frage eines spezifisch urbanen Verhaltens lieferte der Soziologe Louis Wirth: Er unterscheidet zwischen der Verstädterung als einem rein quantitativen Prozess des Anwachsens der Stadtbevölkerung und den Qualitäten der Urbanisierung als Ausbreitung spezifisch städtischer Lebensformen. Dabei geht er davon aus, dass man idealtypisch zwischen einem Gemeinschaftsleben in städtisch-industrieller Form einerseits und einem ländlichen, volkstümlich orientierten Lebensstil andererseits unterscheiden kann. Da aber sowohl Menschen mit städtischer Herkunft auf dem Land leben als auch Dorfbewohner in die Stadt wandern, sei keine strenge räumliche Trennung der beiden Lebensstile vorfindbar (Wirth 1938, 3). Es gebe zwar Urbanität als spezifischen Way of Life, jedoch nicht nur in Städten. Diese vermeintliche Paradoxie gehört zu den weitsichtigen Argumenten von Louis Wirth. Damit formuliert er als erster das bis heute weit verbreitete Argument, wonach Urbanität nicht mehr an die Stadt als Ort gebunden ist.
Was aber genau ist Urbanität als idealtypischer Gegenpol zu Ländlichkeit? Städte sind aus soziologischer Sicht – so Wirth – definiert durch drei Charakteristiska: Größe, Dichte, Heterogenität: Die Größe der Stadt erfordere Formalisierungen und erodiere persönliche Beziehungen, wie sie auf dem Land noch lebbar seien. Die Dichte verstärke die Differenzierung der sozialen Organisation. Die Heterogenität der Stadtbevölkerung erhöhe die Unsicherheit im Umgang miteinander, zugleich aber auch die Fluidität (Wirth 1938, 11ff). Insgesamt seien städtische Sozialformen gekennzeichnet durch unpersönliche und utilitaristische Kontakte.
Genau an dieser Stelle setzt die Kritik von Herbert J. Gans an: Der Soziologe sieht die Entfremdung in der Stadt durch unpersönliche Sozialkontakte nicht wie Wirth als gegeben an, sondern vermutet vielmehr lebendige, kleinteilige soziale Welten in den Stadtteilen, sogenannte Urban Villages (Gans 1962, 629). Gans macht soziale Faktoren (Klasse, Ethnie etc.) für das städtische Verhalten verantwortlich. Er ist der erste Soziologe, der radikal in Frage stellt, ob es überhaupt Sinn macht, von der Stadt als eigenständigem, gesellschaftswissenschaftlichem Untersuchungsobjekt zu sprechen – und somit auch von einem spezifischen urbanen Lebensstil. Diese kritische Infragestellung ist tatsächlich sehr berechtigt. Denn der Wohnsitz einer Person gibt keine Auskunft über deren Werthaltung und soziale Lebensform. Dies hat eine Reihe von empirischen Studien sowohl im nordamerikanischen als auch im europäischen Kontext gezeigt (z.B. Dirksmeier 2009). Demnach gibt es als städtisch bezeichnete Lebensweisen sowohl im ländlichen Raum als auch umgekehrt.
Stadt, Begegnung, Integration: Der politische Gehalt der Urbanität
Städte kommen jüngst vermehrt in den Fokus als Orte der Integration. Die britische Geographin Gil Valentine (2008) hat hierzu einen vielbeachteten Aufsatz publiziert, in dem sie beschreibt, wie Städte erneut in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken: Durch die rasante Zunahme von transnationalen Migrationsströmen sind die meisten Städte in der nördlichen wie in der südlichen Hemisphäre von einer wachsenden Vielfalt ethnischer, kultureller und religiöser Bevölkerungsgruppen geprägt. Hier kann den Städten eine zentrale Rolle zukommen als Orte der Integration. Gerade Einwanderungsländer sind auf funktionierende Stadträume, auf gut gestaltete Parks und Plätze angewiesen, die einen Beitrag leisten zur Integration in die Arbeits- und Wohnungsmärkte ebenso wie in die sozialen Lebenswelten. Valentine spricht von einer „geography of encounter“, die jüngst auch im deutschsprachigen Raum als „Geographie der Begegnung“ diskutiert wird (Dirksmeier/Mackrodt/Helbrecht 2011). Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, welchen Beitrag die öffentlichen städtischen Räume für die Integration von Fremden leisten können.
Inwieweit bei diesen Betrachtungen von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen in Städten jedoch westliche Diskurse noch zu sehr dominieren, die sich oftmals allein am Idealbild der euro-amerikanischen Stadt orientieren, ist eine zurzeit intensiv diskutierte Frage. Die postkolonialen Stimmen werden – und das ist theoretisch und empirisch überfällig – lauter in der internationalen Stadtforschung, die ein Verständnis von Urbanität fordern, das sich nicht allein an Erfahrungen in New York, Berlin, Wien oder London orientiert (Roy 2009).
Fazit
In den letzten 100 Jahren hat sich das Verständnis von Urbanität und Ruralität grundlegend gewandelt – ebenso wie die ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse in ländlichen oder städtischen Gebieten. Die Frage der Abgrenzung verweist letztlich auf eine Grundfrage der Entwicklung von Gesellschaft und Raum: Ist eine Isomorphie (also Gleichgestaltigkeit) von Raum und Gesellschaft denkbar? In einer sozial- und kulturwissenschaftlich fundierten Humangeographie wird es immer schwerer, anhand von Räumen (ländlicher Raum, Stadt) auch gesellschaftliche Verhältnisse identifizieren zu wollen. Räume werden gesellschaftlich produziert und tragen wiederum zur Konstruktion von Gesellschaft bei. Die komplexen Konstruktionsprozesse verbieten es, räumliche Grenzen als Grenzen für unterschiedliche soziale Verhältnisse zu vermuten.
Empirisch bleibt die Frage nach städtischen und ländlichen (wie auch hybriden) Verhältnissen nach wie vor spannend. Aber sie lässt sich nicht einfach mit der Unterschiedlichkeit zweier Raumeinheiten beantworten. Ruralität wird deshalb nur noch selten als eine unhinterfragt gegebene Kategorie der Forschung gesehen. Dies hat auch – so vermute ich – unter anderem mit der eingangs angesprochenen Asymmetrie der Begriffe zu tun, welche sich in mindestens drei Dimensionen zeigt.
Erstens sind es Tempo und Innovationskraft von Urbanitätsdiskursen, die ihnen oft hegemonialen Status gegenüber dem Bedeutungssystem Ruralität verleihen. Zweitens scheint es eine emanzipatorische Kraft und politische Überlegenheit von Urbanität als Wert gegenüber der Ländlichkeit zu geben. Drittens verweist die Verwendung des Begriffes Urbanität darauf, dass das Selbstverständnis, eine durch und durch verstädterte Räumlichkeit erreicht zu haben, tief in der Gesellschaft verankert ist. Diese Räumlichkeit zu analysieren und dabei urbane und rurale Motive hinsichtlich ihrer Wirkmacht zu untersuchen, bleibt eine lohnende Aufgabe von Forschung und Regionalentwicklung.
Kein schöner Land für Trump (oder AfD)
Wissenschaftliche Konzepte sind keine Abbilder der Realität, insbesondere nicht in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Nimmt man das aktuelle politische Geschehen, so lassen sich zwar relativ rasch Karten produzieren, die vermeintlich zeigen, dass bestimmte Wählergruppen (etwa republikanische Trump-Wähler) eher in einem Raumtypus und andere Wählergruppen (etwa Demokrat) in einem anderen Raumtypus seien. Diese Kartierungen von Wahlergebnissen halte ich jedoch vor dem Hintergrund der gut hundertjährigen Begriffsreflektion von „Stadt“ und „Land“ für zu einfach.
Denn erstens ist die Frage, was heute ein städtischer und was ein ländlicher Raum ist, nicht zu beantworten. Spätmoderne Gesellschaften sind so hochgradig differenziert, dass eine schlichte Zweitteilung in Stadt und Land den Realitäten schlicht nicht mehr gerecht wird.
Zweitens ist inhaltlich vollkommen unklar, was hier mit ländlichem Raum gemeint ist. Wenn man ein ganzes Land – einerlei ob die USA, Deutschland oder Österreich – einfach nur in zwei Landesteile zerteilt (einmal ländlich, einmal städtisch), ist man so grob vereinfachend, dass es auch nahe am groben Unfug ist. Und drittens bietet die Unterscheidung in städtische und ländliche Räume keine Antwort auf das Wahlverhalten. Wenn wir verstehen wollen, was zum Rechtspopulismus in Europa und Nordamerika beiträgt, sind wir gut beraten, uns qualitativ mit den tatsächlichen Problemen auseinanderzusetzen, als schlicht die Welt in zwei Lager zu klassifizieren.
Kommentare