Das Schweizer Volk steht über „fremden Richtern“
Die Schweizer Seniorinnen für Klimaschutz sowie vier Einzelklägerinnen haben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Klage gegen die Schweiz eingereicht, weil sie eine unzureichende Klimapolitik betreibe und damit ihre Menschenrechte verletze.
Ihr juristischer Kampf gegen das zu lasche Vorgehen der Schweizer Politik gegen den Klimawandel dauerte acht Jahre und endete am 9. April in einem weltweit für Aufsehen sorgenden Triumph. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hatte der Klage der sogenannten „Klimaseniorinnen“ stattgegeben und die Schweiz verurteilt, weil sie mit ihrer Klimapolitik das Recht auf Privatleben und zudem das Recht auf ein faires Verfahren verletzt habe.
Die Vorgeschichte: 2016 hatte sich in unserem Nachbarland ein Verein gegründet, mit dem Ziel, sich, wenn notwendig, auch mit juristischen Mitteln für einen wirksamen Klimaschutz einzusetzen. Von Anfang an war diese von Seniorinnen gegründete Gruppierung, der sich mittlerweile 2000 Schweizerinnen angeschlossen hatten, aber kein Kaffeekränzchen von netten älteren Damen mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren, sondern eine professionell von Greenpeace Schweiz aufgestellte, mitfinanzierte und mit jahrzehntelangem Kampagnen-Knowhow unterstützte „Kampftruppe“ für mehr Klimaschutz.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist unmissverständlich. Da das Recht auf Privatleben auch die Gesundheit des Menschen umfasse, sieht das 17-köpfige Richtergremium dieses bedroht. Und weil die Schweiz die Pflicht habe, das Privatleben zu schützen, müsse sie mehr gegen den Klimawandel tun. Die zweite Verurteilung betrifft den Zugang zum Gericht. Die Seniorinnen seien von den Schweizer Gerichten nicht gehört worden, auch das sei nicht zulässig, so das europäische Gericht, das von den Mitgliedern des Europarates, zu dem auch die Schweiz gehört, 1959 gegründet wurde. In seiner heutigen Form als ständig tagendes Organ besteht er seit 1989.
Das Rauschen im Blätterwald war enorm und kontrovers. „CNN“ und „New York Times“ schrieben von einem „bahnbrechenden Klimaprozess“. Der „Zürcher Tagesanzeiger“ titelte im Leitartikel „Willkommen in der Welt, liebe Schweiz“ und riet der Politik, die richtigen Lehren zu ziehen statt über „fremde Richter“ zu jammern. Für die „Neue Zürcher Zeitung“ hingegen basiert der Sieg der Klimaseniorinnen auf einem „gummigen Paragrafen“ und meint damit Artikel 8 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), aus dem die Straßburger Richter die Verletzung des Privatlebens der klagenden Frauen ableiten. Stefan Schmid, Chefredakteur des „St. Galler Tagblatts“ bleibt auch nach dem heftig diskutierten Urteil betont schweizerisch gelassen und schreibt: „Schweiz entspann dich!“.
Und wie sieht es Patrik Müller (49), Chefredakteur der „Schweiz am Wochenende“, mit über einer Million Leser die reichweitenstärkste Zeitung der Deutschschweiz? Schon das Urteil an sich habe ihn überrascht, da es erstmals sei, dass ein Land wegen seiner Klimapolitik „verurteilt“ worden sei, aber noch mehr die Deutlichkeit, mit der die Richter – auch jener aus der Schweiz – entschieden hätten. „Dass 16 von 17 Richtern so entscheiden, habe ich nicht erwartet.“ Müller ordnet aber auch gleich ein, verweist darauf, dass „es halt dieses Mal die Schweiz getroffen“ habe, aber es grundsätzlich auch jedes andere Land hätte treffen könne. „Wir machen beim Klimaschutz nicht mehr, aber auch nicht weniger als andere Länder“, sieht Patrik Müller die Schweiz nicht als Schwarzes (Klima-) Schaf in Europa.
Aber was bedeutet nun dieses Urteil für die Schweiz? Das Bundesamt für Justiz lässt bei aller Aufregung und teils harschen Reaktionen vor allem aus dem Lager der SVP, der stimmenstärksten Partei in der Schweiz, keine Zweifel aufkommen: „Das Urteil muss umgesetzt werden.“ Zusammen mit den betroffenen Behörden werde man prüfen, welche Maßnahmen die Schweiz ergreifen müsse. Die Juristen in der Schweiz sind sich aber auch einig, dass diese nicht von einem Gericht vorgeschrieben werden können, das bleibe Sache der Politik – so Rechtsprofessor Sebastian Heselhaus von der Uni Luzern gegenüber dem „Blick“ – und damit in der Schweiz auch Sache des Volkes.
Die Bürger hatten 2021 das CO2-Gesetz recht deutlich abgelehnt. Eine Annahme hätte stärkere Klimamaßnahmen bedeutet. Einen Volksentscheid kann aber auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht umstürzen. Aber: „Die Verletzung der Konvention würde bestehen bleiben. Will man nicht mehr Klimaschutz, muss man konsequenterweise die Konvention oder das Pariser Abkommen kündigen“, erklärt Professor Heselhaus.
Auch Chefredakteur Patrik Müller lässt keinen Zweifel daran, dass nur das Volk in der Schweiz über Grundsätzliches zu entscheiden hat. Aber hat das Stimmvolk immer recht? „Nein, es kann Fehlentscheide geben, aber auch diese sind zu akzeptieren. So funktioniert direkte Demokratie.“ Er verweist darauf, dass bei verschiedenen Themen die Bürger in der Vergangenheit mehrfach – bis zu vier Mal – zur Stimmurne gerufen wurden. Heißt, das Volk kann nur durch das Volk „korrigiert“ werden.
Müller erwartet sich daher nach dem Urteil auch keinen politischen Aktivismus: „Ich erwarte nicht, dass der Bundesrat jetzt plötzlich eine Flugticketsteuer oder Ähnliches einführt.“ Der publizistische Leiter des Medienunternehmens „CH Media“ geht von einer etwa 80-prozentigen Ablehnung des Urteils in der Bevölkerung aus. „Sowohl Klimaschutz als auch ,fremde Richter‘ emotionalisieren“, das kritische Verhältnis der Schweizer Bürger zu Europa habe sich dadurch sicherlich nicht verbessert. Müller räumt aber gleichzeitig mit dem Vorurteil auf, dass es in der Schweiz eine massive Ablehnung gegen die EU gebe. „Ich würde von einer fifty-fifty-Situation sprechen. Außer bei der SVP ist fast jede Partei innerlich gespalten in dieser Sache. Überall gibt es zwei Lager.“ Die Schweiz sei ein sehr weltoffenes Land, mit dem Blick weit über Europa hinaus. „Was die Schweizer Bürger aber nicht schätzen, ist das Dirigistische, dass der Staat, Gerichte oder Institutionen alles vorschreiben wollen. Wir sehen uns im Herzen Europas, lehnen aber einen Eurozentrismus ab.“
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