![Am Wiener Ring und die Kapelle neben der „Ammenegger Stuba“ an der Bödelestraße: Blauer Himmel, das Tal als Sahnemeer.](https://themavorarlberg.at/sites/default/files/styles/large/public/25/12/12/wien_vorarlberg_740x740.jpg?itok=6xGqUEAE)
Die Leiden eines Vorarlbergers im fürchterlichen Wiener Winter
Auch nach einem Vierteljahrhundert hier im Osten gewöhnst du dich nicht an die Graunebel-wintertristesse mit ihren nervigen Warmwind-Phasen. Klar, in V kann der Winter auch drücken. Aber man ist dort viel schneller an der Sonne, und sogar das Grau ist schöner.
Petra, meine Freundin aus den wilden Studentenjahren in Innsbruck, hat auf WhatsApp Fotos gepostet. Sie wohnt oberhalb von Dornbirn, und was sie da sah, hob mir gleichermaßen das Herz in die Höhe wie es mir einen Magenschwinger versetzte: das Rheintal als Nebelmeer wie Schlagobers, dahinter im Gegenlicht der Nachmittagssonne die Höhen des Appenzells wie dunkle Inseln. Hoch darüber brach sich das Licht an Wolken und verschmierte sich wie ein Gesprüh aus silbrigem Lack vor blaugrauem Hintergrund. Auf einem anderen Foto ist der Himmel Richtung Schweiz klar und orange in der Abenddämmerung, während eine Kabine der Karrenseilbahn über einem Nebelmeer dahinfährt.
Es erinnerte mich an einen Herbsttag, als ich etwas Ähnliches sah. Mein Neidhäfele war sofort voll. Heimweh dampfte heraus. Denn es ist so: Hier in den Ebenen Niederösterreichs südlich von Wien gab es seit November gefühlt nur wenige sonnige Stunden oder gar Tage. Graue Nebel drücken auf die flache Pampa, zwischen Dörfern und Städten alles grau und braun, fadgrün und pensionistenbeige, kahle Äcker, Heere laubloser Baumskelette. Wohngebiete, Industrie- und Gewerbezonen wirken selten aufmunternd.
Und du kannst der grauen Tristesse kaum entrinnen. Meine Gemeinde, deren SPÖ-Bürgermeister im Nachnamen heißt wie ein früherer ÖVP-Bürgermeister meiner alten Heimat Bregenz, liegt amtlich auf 221 Höhenmetern (Bregenz: 427), viel höher wird‘s im Wiener Becken nicht und die Berglein an den Rändern sind bessere Hügel, da geht’s mit Ausnahmen auf 400 bis 700 Meter. Auch diese Randzonen liegen oft im Nebel, unter Dunst und Wolken. Wenn wir wirklich in die Höhe wollen, zum Semmering etwa (um die 1000 Meter), zum Hirschenkogel dort (1340 m) oder zum Stuhleck (1782 m) dahinter in der Steiermark, müssen wir eine Stunde über die dichtbefahrene Südautobahn durchs Grau rollen. Stuhleck ist ein cooles Skigebiet, aber gern überlaufen.
Ah, im Osten gibt’s ja Wein, die Heurigen. Aber die machen im Winter wenig Spaß und der Wein schürt leicht die Depression. Die Rebstöcke, deren Saft dich sonst lustig macht, stehen wie tot auf feuchten graubraunen Äckern unter grauem Himmel und es zieht dir wieder die Mundwinkel nach unten. Überhaupt, diese grantigen Mundwinkel, die scheint‘s vor allem im Wiener Raum zu geben. In Vorarlberg sind die mir nie so aufgefallen.
Natürlich ist da das schöne Wien: Prachtvolle Bauten, Einkaufsstraßen, Theater, Konzertvenues, Christkindlmärkte, zahllose Lokale, internationale Gastroszene. Langweilig wird’s nicht. Aber auch Wien ist im Winter grau, trist wie das Umland und stets hochmütig und leicht hintenrum, in seiner Einbettung in den Gesamtstaat mentalitätsmäßig ignorant. Hinter jedem Eck zwischen der Hofburg, dem Café Wichtigtuer und der Redaktion der einen oder anderen Bobo-Zeitung wähnst du metaphorische Messerstecher oder Haxlsteller (beides bevorzugt Typen, die zuvor lächelnd an dir vorbeigegangen sind). Mit der Verweildauer steigt leider auch für Zuzügler die Chance, so zu werden.
Schöne Zentrumsbezirke täuschen über Versandelung, ja Beirutisierung andernorts hinweg. Und die Tristesse! Wie sagte ein Schweizer Journalistenkollege, der seit Langem in Polen und im Baltikum arbeitet, wo die Winter auch mäßig funny sind, jüngst in Wien zu mir: „Brutal, habt ihr’s drückend hier!“
Dann die Sache mit dem Wind. STS sangen in „Fürstenfeld“ über das nervig windige Wien („Da geht den ganzen Tag der Wind“). Im Osten weht er oft stark und langanhaltend, mehr als im Ländle abgesehen von Föhnlagen. Das ist gut für Windräder, aber (bei aller Liebe zu Öko) seid froh in V, dass ihr davon noch verschont geblieben seid. Der Winterwind nervt vor allem dann, wenn es sonnig und ungewöhnlich mild ist, wenn er also warm und staubig übers platte Land faucht. Ich erinnere mich an windige Weihnachtstage mit 16 Grad und mehr, und wenn die Sonne das Wohnzimmer am 24. vor der Bescherung auf Sommerniveau heizt, wünscht man sich sogar an den nebligen Bodensee zurück.
Im ORF-Wetterpanorama zeigen sie zu Beginn jeder Tour durchs Land das Wiener Rathaus an der Ringstraße. Grau in grau und Grant in Grant, darüber ein Firnis von Überheblichkeit. Später kommen sonnige (ja, sind sie nicht immer, aber oft) Landschaften des Südens und Westens, am Ende der Arlberg und der Sonnenkopf im Klostertal. Letzteren schneidet‘s zeitbedingt oft ab – egal, müssen ja nicht alle wissen, wie schön es im Ländle sein kann.
Klar: In V kann der Winter auch drücken. Das neblige Flachland, in Schattenlagen wie Götzis, Hohenems, Bregenz kriecht die Sonne am späten Vormittag über die Berge, grau und feucht die Bregenzer Innenstadt. Ich wohnte zeitweise in Feldkirch-Altenstadt nahe der Bahnstrecke, das war im Winter übel im vormittäglichen Schatten der Berghänge des Hohen Sattels.
ABER: Man hat in V das Glück, rasch über die Nebelgrenze gelangen zu können, teils in 15 bis 30 Minuten. Ich sag nur Pfänder, Bödele, Karren, Übersaxen, der „Dreiländerblick“ in Bildstein. Bei der Kapelle neben der „Ammenegger Stuba“ an der Bödelestraße war blauer Himmel und das Tal als Sahnemeer (siehe Bild). In Bregenz sah ich, wie die Pfänderbahn bei der Bergfahrt im Nebel verschwand wie ein Geist. Danach fuhren wir hoch und tranken beim Gasthaus Pfänderspitze Bier im Sonnenschein (einer der schönsten Orte in unserem Spiralarm der Galaxis).
Der Ländle-Nebel ist flüchtiger als der im Osten. Jetzt, da ich schreibe, ist‘s draußen grusig, während Webcams nicht nur am Pfänder und Bödele, sondern auch im Tal Kaiserwetter zeigen, in Lustenau, Feldkirch, Rankweil. Und selbst wenn es grau ist: Es ist anders als im Osten! Schauen Sie genau: Wenn's etwa am See trüb ist, liefern Wasser und Himmel einander einen Grau-Wettstreit. Da ist dann quecksilbriges Grau, Aschgrau, Betongrau, Schiefergrau, Taubengrau, blaustichiges Rauchgrau, dumpfes Bleigrau, mattes Nickel- und Zinkgrau, glänzendes Wolfram- und Zinngrau, und glimmt die Sonne einmal heller, gleißt der Himmel in Magnesium- bis Silbergrau. Man muss das Grau durch die rosarote Brille sehen, dann wird's bunt. Den Soundtrack liefern Bands wie The Cure („All Cats Are Grey“), Visage („We Fade To Grey“) und Grauzone („Eisbär“).
Ich lebe seit bald 25 Jahren im Oschten, aber an den Winter hier gewöhnt man sich kaum. Im Ballungsraum Wien leben drei Millionen Menschen. Der Winter erklärt vielleicht, wieso manches so ist, wie es ist, im Osten ebenso wie im Ländle.
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