J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Pestialisch?

April 2025

Zu Studienzeiten hasste ich die Pestwurz wie die Pest: In die Bergflanken eingeschnittene Bäche, die ohne Bewuchs beste Einblicke in den geologischen Untergrund hätten liefern können, waren von ihr zugewuchert. Wollte man dem Bach folgen, um doch noch brauchbare Aufschlüsse zu finden, musste man sich durch das Blätterwerk kämpfen – ohne zu sehen, wie der Untergrund beschaffen war, und wo die Stolperfallen lauerten. Ihre Blätter wiederum waren mit Zecken verseucht. All dies war freilich ein Phänomen des Sommers. Denn jetzt im Frühling zeigt sich die Pflanze völlig anders.
Die Gewöhnliche = Rote Pestwurz (Petasites hybridus) blüht früh im Jahr. Ihre Blütenstände fallen auf: Der aufrechte und dicke, spinnwebig-flockig oder wollig behaarte Schaft ragt zur Blütezeit bis zu 40 Zentimeter in die Höhe. Zur Fruchtzeit erreicht er gar eine Länge von 70 bis 80 Zentimetern. Lanzettliche, meist purpurfarben überlaufene Stängelschuppen sind weich und hängen an ihm schlaff herab. Der oval-traubige Blütenstand besteht aus zahlreichen rötlich-weißen Blütenkörbchen. Wie bei allen Korbblütlern sind in jeder Blüte Staubbeutel und Stempel, also männliche und weibliche Blütenteile, vorhanden. Doch um Selbstbestäubung zu verhindern, ist auf einer Pflanze immer nur einer der beiden Blütenteile aktiv: Entweder stellen alle Staubblätter Pollen her, während die Stempel keine fruchtbare Samenanlage besitzen, oder umgekehrt. Oder anders ausgedrückt: Obwohl sie im ersten Eindruck zwittrig erscheinen, gibt es männliche und weibliche Pflanzen. Die Bestäubung erfolgt durch Insekten. Im zeitigen Frühjahr gehört die Pestwurz zu den ersten Futterlieferanten der Bienen. Später entwickeln sich in den weiblichen Pflanzen die Samen. Sie besitzen Flughaare und werden vom Wind verweht. Die auffallend großen Blätter wachsen erst nach den Blüten. Sie sind rundlich-herzförmig und randlich scharf gezähnelt. Ihre Unterseite ist schwach grau wollig behaart.
Natürlich fand diese merkwürdige Pflanze in der Volksmedizin Verwendung. In früheren Jahrhunderten sollten ihre unangenehm riechenden, ätherischen Öle die Pest vertreiben (wobei dieser Begriff neben der eigentlichen Pest auch andere Seuchen umfasste) – eine Anwendung, der kaum Erfolg beschieden war. In der klassischen Antike wiederum sollten die Blätter bösartige Geschwüre heilen. Später wurden Extrakte der Pflanze auch als schleimlösende Hustenmittel eingesetzt. Im 19. Jahrhundert schließlich wurde die krampflösende und entzündungshemmende Wirkung des Petasins erkannt, das bis heute medizinisch genutzt wird. Dennoch sind selbst zubereitete „Arzneien“ zu meiden: Obwohl die Pestwurz vordergründig als ungiftig gilt, wird manchen Inhaltsstoffen eine krebserregende und möglicherweise toxische Wirkung nachgesagt.
Die Pestwurz gedeiht am besten auf sickernassen bis zeitweise überfluteten, nährstoffreichen Böden. Für ihre optimale Entwicklung benötigt sie eine gewisse Luftfeuchtigkeit. Sie ist daher oft an Bach- und Flussufern zu finden. Ihre wurzelartigen, bis 1,5 Meter langen und meist horizontal verlaufenden Sprossachsen tragen dort zur Verfestigung des Schwemmlandes bei. Wer zum ersten Mal die beinahe monokulturartig-eintönigen Bestände von Petasites an den Oberläufen unserer Fließgewässer sieht, ist geneigt, dieser Pflanze eine größere ökologische Bedeutung abzusprechen. Die Bestände mit Pestwurz als dominante Art werden als nicht besonders schutzwürdig angesehen. Doch weit gefehlt: Gerade sie sind Lebensraum für zahlreiche Tierarten, die ohne die Pestwurz kaum lebensfreundliche Bedingungen vorfinden könnten. Zu ihren auffallendsten Bewohnern (vor allem in höheren Lagen und dort auch auf anderen Petasites-Arten) gehört der Pestwurz-Blattkäfer (Oreina cacaliae). Als Kinder haben wir diese metallisch grün schillernden Käfer von den Blättern geklaubt. In Pferchen, die wir aus Rindenstücken gebastelt hatten, stellten sie dann die Kühe dar. Und wir Kinder wachten darüber, dass sie die Absperrungen nicht überwanden und ausbrachen. 
An der Gewöhnlichen Pestwurz der tieferen Lagen lebt ein anderer Käfer, der Große Pestwurz-Rüssler (Liparus glabrirostris). Man sieht ihn oft rittlings am Rand der Blätter sitzen, doch bei der kleinsten Erschütterung lässt er sich fallen. Der Käfer ist tiefschwarz, mit gelben Flecken auf den Flügeldecken und am Halsschild. Mit bis zu 20 Millimetern Länge zählt er zu den größten einheimischen Rüsselkäfern. Seine Larven entwickeln sich in den Wurzelstöcken der Pestwurz, aber auch in denen des Bärenklaus (Heracleum). Auch der Jakobskrautbär (Tyria jacobaeae) nutzt die Pestwurz als Fresspflanze. Der attraktive Schmetterling besitzt schwarze Vorderflügel mit roten Streifen und Flecken, und seine Hinterflügel sind leuchtend rot. Die Raupe zeigt sich schwarz-gelb geringelt. Beide Farbmuster dienen als Warntrachten. Die Pestwurzeule (Hydraecia petasites) hingegen gilt in Vorarlberg als ausgestorben. 
Die hohe Luftfeuchte unter den Pestwurzblättern wiederum sorgt dafür, dass sich feuchtigkeitsliebende Arten wie Amphibien und Landschnecken hier wohlfühlen. Zu den Profiteuren gehört die Bernsteinschnecke (Succinea putris). Diese wiederum ist Zwischenwirt für den Saugwurm Leucochloridium paradoxum. Damit der Wurm einen Vogel als Endwirt erreicht, lässt er die Fühler der Schnecke als Lockmittel stark anschwellen und pulsieren. Denn erst, wenn die Schnecke von einem Vogel gefressen wird, kann sich der Wurm in deren Körper geschlechtlich fortpflanzen. Und natürlich werden die Schnecken auch unter den Blättern gefunden. Nicht nur die Wasseramsel nutzt flächendeckende Pestwurzbestände als Rückzugsgebiet, speziell während der Mauser.
Was also zur Studienzeit ein Ärgernis für mich darstellte, sehe ich heute mit anderen Augen: Die Pestwurz ist eine faszinierende Pflanze, und sie bildet trotz ihrem beinahe monokulturartigen Auftreten einen wertvollen Lebensraum für gar nicht wenige Tierarten.

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