
„Politiker verbiegen sich, um Resonanz im Boulevard zu bekommen“
Fritz Plasser (67), Doyen der österreichischen Politikwissenschaft, sagt im Interview mit „Thema Vorarlberg“, dass Wien nicht nur politisch zu einer zweigeteilten Stadt geworden ist. SPÖ und ÖVP könnten den Menschen keine Antworten mehr liefern, sagt Plasser: „Ich halte große Koalitionen mittlerweile für ein Problem.“
Die Wiener Landtagswahl ist geschlagen – Zeit, ein Fazit zu ziehen. Das da wie lautet?
Wien hat sich in eine zweigeteilte Stadt verwandelt, in Bezug auf die politischen Kräfteverhältnisse und in Bezug auf die soziokulturellen Einstellungen und Haltungen. In der Flüchtlingsfrage, in der EU-Politik, aber auch in der Einschätzung der persönlichen Lebensperspektiven und Lebenssituationen gehen die Trennungen zunehmend auseinander. Im Nordosten und im Süden der Stadt, in ehemals roten Hochburgen, ist die Sprengelkarte blau geworden. Und das sind Bezirke, in denen soziale Probleme kulminieren.
In welcher Form?
In diesen Flächenbezirken fokussiert sich eine Rekordarbeitslosigkeit. Das durchschnittliche Qualifikationsniveau der Menschen ist niedriger, ein überwiegender Teil ist in unterdurchschnittlich bezahlten Berufen tätig. Und es herrscht Angst in diesen Stadtteilen – Angst vor einem Verdrängungswettbewerb, Angst davor, dass die neuen Zuwanderer bereit sein werden, zu noch günstigeren Tarifen zu arbeiten. In diesen Flächenbezirken gibt es ein Gemisch aus sozialen Problemen, Frustrationen und kulturellen Irritationen im Alltag durch das verdichtete Zusammenleben mit Zuwanderern. Das alles führt zu Spannungen.
Und die Politik ist in welcher Form betroffen?
Die Menschen fühlen sich in ihren Sorgen von der Sozialdemokratie seit Jahren im Stich gelassen. Die SPÖ erreicht diese Personen nicht mehr, weder mit ihrer Organisation noch in der Kommunikation. Zu diesen für sie neuen Lebensmilieus hat die Sozialdemokratie keinen Zugang mehr. Die Menschen, die dort wohnen, sind für die Sozialdemokraten nicht mehr erreichbar. Sie sind nicht einmal mehr ansprechbar. Während die FPÖ umgekehrt in der Lage ist, diese Frustrationsgefühle, diese Ängste und Ressentiments, die sich in diesen Stadtteilen verdichtet haben, anzusprechen und für sich zu nutzen.
Wird, in Analogie zu Wien, auch Österreich zu einem geteilten Land?
Nicht in dieser polarisierenden Schärfe, weil es nur in Groß- und Industriestädten auch jene kleinräumige hohe Anzahl von Problemverdichtungen gibt. Das soll aber kein Entspannungssignal sein. Denn manche der Diagnosen, die in besonderer Schärfe auf Wien zutreffen, finden sich in etwas anderer Form auch in anderen Städten. Der Faktor Urbanität ist da entscheidend. Das heißt, dass wir das Symptom der Zweiteilung etwas diffuser, aber in einem beginnenden Stadium auch in anderen Bundesländern finden.
Ist diese Teilung gesellschaftspolitisch gefährlich? Und wird sich diese Teilung in den nächsten Jahren manifestieren?
Als gefährlich würde ich die Teilung nicht bezeichnen. Aber sie birgt außergewöhnliches Konfliktpotenzial, weil sich zwei subjektive Lebenswelten voneinander entfernen. Und ob sich die Teilung manifestieren wird? Ich fürchte: ja. Und warum? Weil nicht absehbar ist, wie die Flüchtlings- und Asylkrise, oder wie immer man das Thema auch nennen mag, in den nächsten Jahren zum Randthema wird. Ganz im Gegenteil: Auch wenn der Zustrom an Flüchtlingen vielleicht nicht in diesem Ausmaß weitergehen wird, wird uns allein die Integration der bis jetzt ins Land Gekommenen noch viele, viele Jahre beschäftigen. Jene, die im Land bleiben dürfen, werden Wohnraum und Arbeit in Regionen und Gegenden finden, in denen sie in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft von Personen sein werden, deren Stimmung jetzt schon sehr angespannt ist. Die Konflikte werden sich in den nächsten Jahren stärker und spürbarer abzeichnen. Daher wäre es dringend notwendig, auch in Bezug auf die nächsten Jahre, dass sich Experten in aller Intensität mit diesem Thema beschäftigen.
SPÖ und ÖVP können diesen Menschen aber offenbar keine Antworten liefern.
Bis dato? Nein. Und ob SPÖ und ÖVP in ihrer derzeitigen Verfassung auch wirklich in der Lage sind, künftig Brücken zu bauen, konstruktive Signale zu senden und Maßnahmen zu setzen, die auch von diesen restriktiven Einstellungstypen als gangbarer Weg aufgefasst werden, ist äußerst fraglich. Ich bin da sehr skeptisch.
Hat die große Koalition in Ihren Augen denn überhaupt noch eine Existenzberechtigung?
Großkoalitionäre Regierungen hatten in den 1950er- und 1960er-Jahren, in der Entwicklungsphase der österreichischen Demokratie, sicherlich ihre Berechtigung, waren damals vermutlich auch die geeignete Regierungsform. Aber seit den 1980er-Jahren, verstärkt in den vergangenen Jahren, ist mein Eindruck, dass große Koalitionen mehr Probleme bereiten, als sie selbst lösen. Ich halte große Koalitionen mittlerweile selbst für ein Problem, weil deren Existenzargument, man müsse angesichts großer Probleme möglichst breit zusammenarbeiten, mich nicht mehr überzeugt.
Wie wird sich Österreichs Parteienlandschaft denn weiter entwickeln?
Ich zitiere aus der jüngsten „Standard“-Umfrage: FPÖ 30 Prozent, SPÖ 24, ÖVP 22. Wären diesen Sonntag Nationalratswahlen, würden die Blauen mit sechs, sieben Prozent Vorsprung stärkste Kraft vor SPÖ und ÖVP. Das muss in dieser Schärfe nicht bleiben, aber mittelfristig werden die Blauen weiterhin zumindest die Stärke von SPÖ und ÖVP aufweisen. Das ist absehbar. Die wahlpolitische Erosion von ÖVP und SPÖ wird weitergehen, während sich für die FPÖ weitere Wachstums- und Chancenpotenziale ergeben. Und das bedeutet auch, dass die nächste Nationalratswahl mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende der großen Koalitionen bedeuten wird.
Wer ist Hauptverursacher dieser Entwicklung? Die Politik selbst? Die Medien?
Strukturelle Faktoren sind primär verantwortlich. Die Lebenswelt hat sich in den vergangenen 20, 25 Jahren in einem Ausmaß verändert, das manche Menschen überfordert. Diese in vielen Lebensbereichen veränderte Welt wird von diesen Menschen in Summe als bedrohlich empfunden. Das trifft besonders auf Menschen zu, die keine höhere Bildung haben. Und da kommen die Medien ins Spiel. Drei Viertel von jenen 30 Prozent der Wiener, bei welchen sich die von mir angesprochenen Symptome besonders markant abzeichnen, informieren sich ausschließlich über „Krone“, „Heute“ und „Österreich“. Auf bestimmte Bevölkerungsgruppen hat der Boulevard beinahe ein Monopol. Das ist im Übrigen ein Wiener Spezifikum, das es in dieser Form in anderen Bundesländern nicht gibt.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang ja von einer Boulevarddemokratie in Österreich.
Es gibt nur ganz wenige Länder, in denen Boulevardmedien im Printbereich einen so hohen Leseranteil haben wie in Österreich. Das ist ein Spezifikum und ein Problem der österreichischen Gesellschaft und des österreichischen politischen Systems. Denn die Konzentration vieler Politiker auf den Boulevard und die massiven finanziellen Zuwendungen an den Boulevard führen zu einer Selbstboulevardisierung der politischen Kommunikation und der politischen Angebote. Sie führen indirekt gar zu einem Boulevardverständnis des politischen Handelns. Weil die Politik die Wähleröffentlichkeit ausschließlich durch den Filter der Boulevardpresse, also durch die Logik des Boulevards, sieht, wirkt sich das auch auf die Art und Weise aus, wie Politik gemacht wird.
Und die Konsequenz ist?
Die Konsequenz ist, dass sich die Politik selbst boulevardisiert. Sie wird flüchtiger, unsteter, übernimmt quasi ungeprüft journalistische Nachrichtenwerte des Boulevards. Sie beginnt selbst zu inszenieren und zu dramatisieren, sie übt sich selbst in Populismus. Manche Politiker arbeiten so, wie Boulevardjournalisten arbeiten, nur um in der entsprechenden emotionalen, dramatisierenden Berichterstattung vorzukommen. Politiker verbiegen sich, um Resonanz im Boulevard zu bekommen. Wer sich verbiegt, wird belohnt, mit oftmaligen Nennungen, mit positiven Wertungen, mit größeren Fotos. Wer sich nur wenig oder gar nicht verbiegt, hat dagegen plötzlich die Gegnerschaft des Boulevards. Das haben durchaus schon einige Spitzenpolitiker leidvoll erfahren müssen. Daraus ergibt sich ein gewisser Handlungsdruck – denn nur mit Boulevardmedien erreicht man tatsächlich jene große Öffentlichkeit, die man mit einem Interview in Qualitätsmedien niemals erreichen würde. Der Boulevard bietet der Politik die Verlockung der Reichweite, die Verlockung der großen Öffentlichkeit.
Die Politik unterliegt insgesamt einer sehr gefährlichen Beschleunigung …
Das tut sie, aber das ist kein österreichisches Phänomen. Es ist in allen fortgeschrittenen Informationsgesellschaften zu beobachten, dass seit gut 25 Jahren eine unglaubliche Beschleunigung eingesetzt hat. Das heißt, dass die Politik vorangetrieben wird, vor allem durch die Beschleunigung der Nachrichtenzyklen. Mittlerweile sind wir im Instant-Informationszeitalter. Etwas geschieht, wenige Sekunden später bieten Online-Plattformen bereits die ersten Berichte über das Geschehene, Reaktionen werden geschildert, Debatten beginnen. Via Twitter dringen bereits aus Sitzungen Einschätzungen, das Smartphone ist stets griffbereit. Was früher länger dauerte, erfolgt heute in Sekunden. Technologien haben aus den alten Nachrichtenzyklen einen einzigen Nachrichtenzyklus gemacht, eine Nachricht geht in die nächste über. Und das führt eben auch zu einer Beschleunigung des politischen Handelns und der politischen Entscheidungen. Es gibt immer weniger Zeit, eine neue Situation abzuwägen. Personalentscheidungen etwa werden in einem unglaublichen Tempo abgehandelt, weil der mediale Druck offenbar als zu stark eingeschätzt wird. Wer nicht rasch reagiert, gilt als entscheidungsschwach, als handlungsschwach. Handlungsstärke kann die Politik offenbar nur noch demonstrieren, wenn sie sehr, sehr rasch entscheidet. Und da stellt sich dann halt die Frage, ob rasches Handeln, noch dazu unter massenmedialem Druck, auch qualitativ bessere Entscheidungen bringt.
Und das war früher anders?
Führende politische Eliten haben sich vor 25 Jahren, soweit ich das beurteilen kann, mehr Zeit genommen für Entscheidungen. Sie waren interessiert an Diskussionen, am Abwägen von Argumenten, haben Personen um Rat gefragt, auf deren Meinung sie Wert gelegt haben. Politiker haben sich früher zwar nicht von den Medien abgeschottet. Aber der mediale Erreichbarkeitsdruck war bei Weitem nicht so stark wie heute: Politiker konnten ihre langen Arbeitstage damals auch reflexiv nutzen, sich zwei, drei Stunden zurückziehen, nachdenken, planen. Und diese Reflexionsphasen wurden nicht durch Medienkontakte unterbrochen. Das geht heute nicht mehr, in dieser beschleunigten Hektik. Ein Beispiel: Waren Spitzenpolitiker früher unterwegs, beispielsweise zu einem Termin in den Bundesländern, waren sie oft über Stunden nicht erreichbar. Wollten Büroleiter oder Kabinettschefs nun in einer besonderen Krisensituation Kontakt zu dem Politiker, haben sie bei Gendarmerie-Dienststellen angerufen und freundlichst gebeten, sollte der Politiker am betreffenden Posten vorbeifahren, doch bitte kurz zu fragen, ob derselbe nicht in Wien anrufen könne, es sei dringend. Das war politische Erreichbarkeit in früheren Tagen.
Es scheint in wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen heute keinen öffentlichen politischen Diskurs mehr zu geben.
Es geht heute um den schnellen Sager, um verknappte Botschaften, illustriert etwa in der Lakonik der Twitter-Kommunikation. War es vor 30 Jahren mitunter ein intellektuelles Vergnügen, Politikern im Parlament zuzuhören, diesen großen Rhetoren, findet heute oft nur noch ein massenmediales Pingpong-Spiel statt. Die eine Seite richtet der anderen über die Medien aus, dass das so nicht geht, und bekommt dann, wiederum über die Medien, deren Antwort ausgerichtet.
Sie sprechen da von der Bundesregierung.
Ja. Das beschreibt auch den gestörten Dialog zwischen den beiden Regierungsparteien. Es wird sofort gedroht, es wird blockiert. Und das alles über die Medien, in einem indirekten Dialog. Das ist nicht gut, auch nicht für das Kooperationsklima, schadet aber auch dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der Regierung, die ohnehin mit einem Ansehens- und Vertrauensverlust in einem dramatischen Ausmaß konfrontiert ist.
Zu der auch die Entfremdung zwischen den Bürgern und der Politik weiter beiträgt …
Die Entfremdung nimmt bedauerlicherweise zu. Auch die Unzufriedenheit nimmt zu. Seit mittlerweile eineinhalb Jahren sind mehr als zwei Drittel der österreichischen Bevölkerung mit Arbeit und Erscheinungsbild der Bundesregierung unzufrieden. Diese dramatischen Werte sind konstant. Das ist mittlerweile der Sockel der politischen Unzufriedenheit. Und dahinter steckt ein immenser Verlust von Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und in die Entscheidungsrationalität der Politik und damit im Kern in die Glaubwürdigkeit der Regierung, also in die politischen Eliten.
Vielen Dank für das Gespräch!
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