
„Die Menschen haben vor den falschen Gefahren Angst“
Walter Krämer (66), Professor für Statistik an der Technischen Universität Dortmund und Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher, ärgert sich im „Thema Vorarlberg“-Interview über Panikmacher in den Medien und die Manipulation der Bürger. Der Professor nennt etwa die Angst vor Gentechnik völlig irrational. Den Vorarlbergern? Empfiehlt er einen Besuch in einem Atomkraftwerk.
Sind wir von Panikmachern umgeben, Herr Krämer?
Walter Krämer: Und ob. Speziell die Deutschen sind hier Weltmeister. Und da wiederum die deutschen Medien. Die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Frankfurter Rundschau“ publizieren rund viermal so viele Panikmeldungen wie „La Repubblica“ in Italien, „Le Figaro“ in Frankreich oder „El País“ in Spanien. Von den Panikorchestern ARD und ZDF gar nicht zu reden.
Angst verkauft sich eben gut. Auch in Österreich.
Das tut sie weltweit. Leider. Gewisse Medien wie etwa die Zeitschrift „Ökotest“ machen daraus sogar ein offizielles Geschäftsmodell. Da gibt es keine Nummer ohne irgendwelche Angst machenden Giftfunde, die aber in aller Regel völlig ungefährlich sind. Denn heute kommen mit immer feineren Analysemethoden selbst einzelne Moleküle von Giftstoffen ans Tageslicht, die aber erst in millionenfacher Verstärkung Schäden anrichten können. Aber der Panikmafia ist das egal.
In einem Interview sagten Sie, Mitteleuropäer seien ohnehin kollektiv ängstlicher als andere. Warum denn dieses?
Sehen Sie sich doch nur die Geschichte an. Da gab es ja genug Grund zur Angst. Im Dreißigjährigen Krieg sind ein Drittel aller auf dem Gebiet des heutigen Deutschland lebenden Menschen durch Gewalt getötet worden. Der Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung leitet daraus die These ab, das kollektive Unterbewusstsein der Mitteleuropäer wäre so auf lange Zeit auf Angst gepolt.
Gibt es nicht auch genügend Menschen, die sich in ihren Ängsten bestärkt sehen wollen?
Tatsächlich gab es ja in Deutschland zur Zeit einer NATO-Nachrüstung eine ganze Bewegung, die stolz mit Aufklebern „Ich habe Angst“ durch die Welt gelaufen ist. Oder heute die völlig irrationale Angst vor Kernkraft oder grüner Gentechnik. Darauf haben ganze Bevölkerungsteile ihr Weltbild aufgebaut, und das lässt man sich nicht so einfach durch irgendwelche hergelaufenen Fakten kaputtmachen. Nehmen wir das Beispiel Gentechnik: Jeder Hühner- und Pferdezüchter manipuliert Gene, indem er die nützlichen an die nächste Generation vererben und die schädlichen unterdrücken möchte. Das ist seit Tausenden von Jahren das Wesen der Tier- und Pflanzenzucht. Also könnte man auch gleich die Hühnerzucht verbieten! Denn die Gentechnik ist in gewisser Weise nur eine beschleunigte Tier- und Pflanzenzucht. Aber dann lassen sich die Menschen durch eine manipulierte Studie ins Bockshorn jagen, wonach Ratten durch Genmais Krebs bekommen sollen. Die Studie musste zwar später als wissenschaftlich unseriös zurückgenommen werden, aber darüber las oder hörte man in den Medien kaum etwas.
Warum nennen Sie die Angst vor Kernkraft irrational? Lehren Tschernobyl und Fukushima nicht, dass die Angst begründet ist?
Tschernobyl und Fukushima lehren nur, dass die Katastrophe beherrschbar ist. In Tschernobyl sind 400 bis 500 Menschen gestorben, in Fukushima zwei. Das größte Unglück in Fukushima war der Tsunami, der 20.000 Menschen das Leben genommen und den Atomunfall erst ausgelöst hat.
Die Vorarlberger stehen der Atomkraft traditionell äußerst kritisch gegenüber. Ergo dürften viele Ihrer Aussage vehement widersprechen …
Dann empfehle ich diesen Menschen, einmal ein Atomkraftwerk in einem Nachbarland zu besuchen und sich dort herumführen zu lassen. Dann würden sie sehen, wie das funktioniert und dass Atomkraftwerke weit sicherer sind als manches Bergwerk oder manche Chemiefabrik. Doch auch in diesem Fall werden die Ängste in der Bevölkerung die Folge medialer Kampagnen sein – soweit ich das von außen beurteilen kann.
Die Medien bieten, was die Leser wollen. In der Medienwelt sind schlechte Nachrichten gute Nachrichten.
Ja, dieser Sachverhalt wirkt sozusagen als Katalysator, als Panikverstärker. Und führt zum Beispiel dazu, dass die Medien systematisch Nachrichten und Risiken ohne humanen Übeltäter kleinschreiben oder ignorieren. Denn Medien brauchen Opfer, Medien brauchen Sündenböcke. Und die Natur ist ein ganz schlechter Sündenbock. Durch EHEC, also ein natürliches Risiko, sind in Deutschland in kurzer Zeit über 50 Menschen gestorben, die mediale Reaktion war gedämpft. Bei Dioxin in Eiern im Jänner 2011 gab es eine regelrechte Hysterie, aber nie auch nur die geringste Gefahr. Und gar nicht auszudenken, hätte es diese Todesfälle in der Nähe einer Chemiefabrik gegeben.
Sie werfen Journalisten unlautere Panikmache vor.
Ja. Journalisten lechzen nach Menschen als Übeltätern, die sie dann nach allen Regeln der Kunst fertigmachen können. Die Natur kann man nicht fertigmachen. In der angelsächsischen Literatur sagt man auch „synthetic risk bias“ dazu, auf Deutsch „verzerrte Wahrnehmung synthetischer Risiken“. Es wird systematisch auf menschengemachten Risiken herumgehackt, obwohl die natürlichen oft weitaus größer sind. Außerdem sind nur allzu viele Journalisten keine Journalisten, sondern Propheten und Weltverbesserer. Zumindest in Deutschland hat diese Spezies wohl die kompletten öffentlich-rechtlichen Medien unter Kontrolle. Seit Fukushima schalte ich deshalb bei wichtigen Ereignissen die deutschen Nachrichten aus und sehe lieber CNN und BBC.
Was ist dort anders?
Angelsächsische Journalisten sehen sich als nüchterne Berichterstatter, nicht als Weltverbesserer. Und das wünsche ich mir von einem Journalisten.
Sie haben Journalisten schon mehrfach aufgefordert, Fakten zu nennen und absolute, nicht relative Risiken zu vermelden.
Weil relative Risiken die beste Methode sind, aus Mücken Elefanten zu machen. Vor Jahren gab es eine Schreckensmeldung in der „Welt“: „Cholera-Gefahr in Deutschland verdoppelt“. Bis 2005 sind alle drei Jahre zwei von 80 Millionen Bundesbürgern an Cholera erkrankt, in den darauffolgenden fünf Jahren vier. Das ist eine Erhöhung des relativen Risikos um 100 Prozent. Aber 100 Prozent von nichts bleibt nichts. Die massenhafte Unterdrückung dieser simplen Wahrheit ist fast schon kriminell.
Aber, Herr Krämer, 2014 scheint ein wirklich gefährliches Jahr zu sein, mit diversen bedenklichen Entwicklungen – von einer terroristischen Bedrohung durch den IS über den Russland-Ukraine-Konflikt bis hin zur Ebola-Epidemie. Oder täuscht der Eindruck?
Ob das Jahr gefährlicher ist als andere, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist es gefährlich genug. Mein Argument ist nur: Die Menschen haben vor den falschen Gefahren Angst.
Drehen wir es um: Vor welchen Gefahren muss man denn wirklich Angst haben?
Zum Beispiel vor dem Autofahren. In Deutschland gibt es pro Jahr 4000 tödliche Verkehrsunfälle, in Österreich starben im Vorjahr 453 Menschen im Straßenverkehr. Und pro Jahr kommen – wieder Beispiel Deutschland – weitere 4000 Menschen bei Haushaltsunfällen ums Leben, weil sie beispielsweise von einer Leiter fallen. Von den Superkillern Rauchen, Alkohol und fettes Essen gar nicht zu reden. Vor diesen Gefahren müssten wir also begründete Angst haben.
Nicht nur Medien, auch Konzerne und Politiker tricksen Ihrer Ansicht nach mit solchen Panikmeldungen.
Klar. Wenn der Umsatz in einem Jahr um ein Prozent steigt, im nächsten um zwei, gibt das eine schöne Erfolgsmeldung: „Umsatzwachstum hat sich verdoppelt.“ Ergo wird der Bürger jeden Tag belogen und manipuliert.
Erwarten Sie irgendetwas anderes?
Solange es in Deutschland und vermutlich auch in Österreich zum guten Ton gehört, sich mit Zahlen und Statistiken nicht auszukennen, wird dieses Inumerantentum natürlich gerne ausgenutzt.
Eines Ihrer Bücher trägt den interessanten Titel „So lügt man mit Statistik“. Bitte nennen Sie Beispiele.
„Raucher verteuern das Gesundheitswesen“ – diese Lüge wird bei allen einschlägigen Debatten, selbst im Deutschen Bundestag, immer wieder aufgetischt. In Wahrheit wäre unser deutsches Sozialsystem ohne Raucher lange pleite. Denn Raucher sterben so viel früher, dass sie die im Laufe ihres Lebens erzeugten höheren Kosten durch die ersparten Rentenzahlungen bei Weitem überkompensieren. Oder nehmen sie die Brustkrebsfrüherkennung. Da geistert immer wieder eine Statistik durch die Medien, wonach Mammografie die Sterblichkeit bei Brustkrebs um 20 Prozent reduziere. Das ist eine glatte Lüge, das gilt nur dann, wenn man das Relativrisiko betrachtet. Ohne Screening sterben absolut gesehen fünf von 10.000 Frauen an Brustkrebs, mit Screening vier von 10.000. Eine von 10.000 wird also gerettet, aber die Schlagzeilen suggerieren eine Reduktion der Sterblichkeit um 20 Prozent in dem Sinn, dass von 100 Frauen 20 weniger an Brustkrebs sterben.
Wie kann sich der Bürger denn gegen derartige Tricksereien wappnen? Soll man sich die Erkenntnis zu eigen machen, wonach man keiner Statistik trauen sollte, die man nicht selber gefälscht hat?
Da hilft nur eines: schon in der Schule anfangen, etwas Prozentrechnung zu lernen und wie man aus Stichproben korrekte Schlüsse zieht.
US-Präsident Roosevelt hat einmal gesagt: „Ich stehe Statistiken skeptisch gegenüber. Denn laut Statistik haben ein Millionär und ein armer Kerl jeder eine halbe Million.“
Im Durchschnitt hat jeder eine halbe Million. Aber Durchschnitte alleine machen nicht glücklich. Wer sich in Statistik auskennt, weiß das natürlich.
Sie küren mit Mitstreitern auf unstatistik.de die „Unstatistik des Monats“. Warum? Um auf das Thema aufmerksam zu machen?
Genau. Und in der Hoffnung, dass die Medien vielleicht doch lernfähig sind.
Hätten Sie ein besonders skurriles Beispiel für eine solche Unstatistik?
Das sind die regelmäßigen Berichte über Armut in Deutschland oder Österreich. Da wird als arm gezählt, wer weniger verdient als einen gewissen Prozentsatz des Durchschnitts. Verdienen alle das Zehnfache, bleibt dieser Anteil der gleiche wie zuvor. Das ist Schwachsinn. So kann die Armut nie verschwinden. Man müsste vielmehr schauen, wie viele Menschen obdachlos sind oder hungern müssen oder nicht lesen und schreiben können. Das wären wahre Indikatoren von Armut. Aber immer völlig stupide einen gewissen Prozentsatz vom Medianeinkommen zu nehmen, das ist ja so etwas von daneben, ich kann das gar nicht sagen …
So was von daneben? Man hat den Eindruck, dass Sie sich über derartige Sachen richtig ärgern.
Ja. Speziell diese Armutsberichterstattung macht mich richtig wütend. Es gibt nämlich genügend Vorschläge, das anders zu machen. Amartya Kumar Sen, Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University, hat 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Vorschläge gewonnen, wie man Armut wirklich messen und bekämpfen kann. Aber in den deutschen Medien und in der deutschen Politik wird das komplett ignoriert. Die sind zu dumm, das zu verstehen.
Und wie verwertet man Statistiken nun richtig?
Indem man sie, wie alle anderen Nachrichten und Informationen auch, mit einer gesunden Portion Skepsis verwertet.
Vielen Dank für das Gespräch!
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