Herbert Motter

Die Zukunft des Wohnens

Dezember 2019

Das Bevölkerungswachstum, die Veränderung der Haushaltsgrößen sowie die geänderten Arbeits­marktstrukturen und der Ressourcenverbrauch werden unser Wohnverhalten massiv ändern.
Wie wird Vorarlberg in Zukunft wohnen?
Der Versuch einer Annäherung.

Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ Dieser Slogan eines weltweit bekannten Möbelkonzerns deutet es an, wenn auch unbewusst: Individualisierung, Mobilität, Urbanisierung – unser Leben ändert sich rasant und tiefgreifend. 
Um herauszufinden, wie Vorarlberg eigentlich wohnt, lohnt sich ein Blick auf die verschiedensten Entwicklungsszenarien nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Seit Anfang der 50er-Jahre hat sich die Bevölkerungszahl bis 2018 verdoppelt. Das hatte auch Auswirkungen auf die Anzahl der Wohnungen, ersichtlich auch an der jüngeren Vergangenheit. Der Wohnungsbestand wuchs allein von 2001 bis 2018 um über 50.000 auf rund 203.000 an. Verdreifacht hat sich in den vergangenen knapp 70 Jahren die Zahl der Privathaushalte. Sie stieg auf nahezu 170.000; in derselben Zeit haben sich die Ein-Person-Haushalte mehr als verzehnfacht. 
Der Anteil kleiner Mietwohnungen unter 60 Quadratmetern ist deutlich zurückgegangen. In den 1970er Jahren betrug er noch 65 Prozent und hat bis 2011 um mehr als 20 Prozentpunkte abgenommen. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund einer gleichzeitig sinkenden Haushaltsgröße besonders bemerkenswert. Die Haushalte werden kleiner, aber gleichzeitig verringert sich die Anzahl kleinerer Einheiten im Wohnungsbestand. Wohnungen mit über 90 Quadratmetern haben sich am dynamischsten entwickelt, hier gab es mehr als eine Verdoppelung seit den 1970er-Jahren. Es herrscht ein Mangel an kleineren bis mittleren Wohnungen, die aufgrund der geringeren Gesamtmiete als „leistbar“ anzusehen sind. Der Wohnungsbedarf wird allein im Vorarlberger Rheintal mit über 30.000 bis zum Jahr 2030 beziffert.
Vorarlberg wandelt sich langsam, aber stetig vom Land der Eigentümer zum Land der Mieter. Im Eigentum lebten 2018 nur mehr 57,5 Prozent der Vorarlberger. Relativ kleine Haushalte wohnen überdurchschnittlich oft in großen Wohnungen. Ökonomen bezeichnen dies typischerweise als einen Überkonsum am Gut „Wohnen“.

Problemfall Einfamilienhaus

Paul Stampfl, Entwicklungsmanager und Obmann des Vereins „Neue Nachbarschaften Vorarlberg“, betont, dass der Einfamilienhausbau der letzten 60 Jahre nicht, respektive nur bedingt auf flexible Nutzungen und kluge Trennmöglichkeiten ausgelegt ist. „Ebenso kommt es kaum zu Umzügen der älteren Bevölkerung aus dem Einfamilienhaus in kleinere, praktischere Wohneinheiten. Das alles bedeutet einen großen Druck auf den Wohnungsmarkt und auf die nicht erneuerbare Ressource Boden.“ Generationentausch – ein älteres Ehepaar tauscht mit einer jungen Familie das Einfamilienhaus gegen eine (barrierefreie) Wohnung – ist in Vorarlberg noch selten der Fall.

Das Problem beim Einfamilienhaus ist nicht der Haustyp an sich, sondern wie er in den vergangenen Jahrzehnten zumeist ausgeführt wurde, nämlich als freistehendes Objekt auf einem Grundstück, das im Durchschnitt 800 bis 1000 Quadratmeter groß ist. In dieser Ausformung ist nicht nur der Flächenverbrauch enorm (und beträgt rund das Acht- bis Neunfache von einer eher locker gestalteten Bebauung mit dreigeschossigen Wohnhäusern), es lässt sich auch die Infrastruktur rund um die Häuser nicht mehr kostendeckend herstellen.

„Aufgrund der dramatisch gestiegenen Grundstückspreise werden wir gerade Zeuge, wie die traditionelle Wohnform des neu gebauten Einfamilienhauses zu Grabe getragen wird. Die Mittelschicht schafft gerade noch die Anschaffung einer geförderten Eigentumswohnung für die dreiköpfige Familie in einer Wohnhausanlage oder ergattert ein sanierungsbedürftiges Reihenhaus aus den 1980er-Jahren. Unbebaute Grundstücke sind rar bis gar nicht am Markt vorhanden. Den kleinen Gemeinden kommen die jüngeren Einwohner abhanden, weil günstige Kleinwohnungen eher in den Ballungsräumen zu finden sind als in den Landgemeinden“, schrieb Gerald Strehle, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien vergangenes Jahr in „Thema Vorarlberg“.

Aufgrund von steigenden Einkommen, erhöhten Lebensstandards und der sinkenden Anzahl an Personen je Haushalt kam es zu einer kontinuierlichen Vergrößerung der Wohnfläche pro Kopf. Dies verteuert das Wohnen genauso wie die explodierenden Grundstückspreise in den Ballungsräumen. Dazu kommen noch die in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegenen Standards und Qualitäten im Neubau.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Österreich mit dem politischen Instrument der Wohnbauförderung ein international beachtetes Best-Practice-Beispiel geschaffen. Die Wohnkosten waren im internationalen Vergleich, gemessen am Netto-Haushaltseinkommen, über Jahrzehnte eher niedrig. Ein Zustand, der sich allerdings in den vergangenen Jahren massiv geändert hat. Die Preisbildung am Wohn- bzw. Immobilienmarkt ist sehr komplex. Zum einen wächst in Vorarlberg die Nachfrage nach Wohnraum durch einen hohen Bevölkerungszuwachs. Gleichzeitig steigen die Ansprüche der Wohnraumsuchenden hinsichtlich Quantität und Qualität stark. Außerdem gewinnt Betongold als Anlageobjekt immer mehr an Attraktivität. Zum anderen nimmt die Verfügbarkeit von Baugrund vor allem in den Ballungszentren ab. Grundstücke kommen häufig erst gar nicht in den Verkauf, sondern werden gleich in der Familie weitergegeben. Nicht selten steht Wohnraum aus Angst vor möglichen Komplikationen beim Vermieten leer. In Vorarlberg ist die Rede von aktuell über 8000 leerstehenden Wohnungen.

Wohnen in der Zukunft

Damit machen steigende Immobilienpreise, eine schnell wachsende Bevölkerung, sich verändernde Lebensstile, eine zunehmende Singualisierung und ein unterdurchschnittlich ausgeprägter gemeinnütziger und bisweilen noch gar nicht ausgeprägter genossenschaftlich organisierter Wohnbausektor Wohnen in Vorarlberg nicht nur zu einer teuren Angelegenheit, sondern auch zu einer echten Herausforderung im künftigen Umgang miteinander. Zudem wird eines immer deutlicher: Bedarf und Angebot passen nicht mehr zusammen. Wohin geht nun die Reise in Bezug auf das Wohnen in Vorarlberg?

Für den Architekten und Raumplaner Helmut Kuëss hält die Zukunft wohl mehr Facetten und noch unbekannte Qualitäten sowie Probleme parat. „Generell werden die Erhöhung der Einwohnerzahl und die Zunahme von Betriebsstätten eine Verdichtung der gesellschaftlichen und sozialen Interaktion bedingen.“ Für den Architekten ist klar, „wir werden neue Regeln für das Zusammenleben kreieren müssen, und es gilt, die Chancen des zunehmend städtischen Wohnens zu erkennen und zu nutzen.“ Nicht der Einzelne könne den bisher gewohnten Anteil an Lebensraum für sich beanspruchen, sondern Gruppen bzw. anonyme Bevölkerungsteile. Neue Denkmuster müssen für Kuëss deswegen her. Als wesentlichste Herausforderung gelte es, dem öffentlichen Raum einen höheren Stellenwert zukommen zu lassen, als dies heute der Fall ist. Als „Kompensation des Verlusts“ des privaten Raums plädiert Raumplaner Kuëss dafür, dass mehr qualitativ hochwertiger öffentlicher Raum geschaffen wird, wie etwa Aufenthaltsräume oder Grünräume. „Auch die Veränderungen des Mobilitätsverhaltens können nicht allein darauf abzielen, die Fortbewegungsmittel bezüglich Schadstoffausstoß zu optimieren; es geht im Wesentlichen auch darum, den Platz- bzw. Raumbedarf der individuellen Fortbewegungsmittel zu reduzieren. Nur so kann wertvoller, verdichteter Lebensraum entstehen“, sagt Kuëss. 

Auf die Frage, wie denn nun die ideale Siedlungsstruktur aussieht, gibt es nicht nur eine einzige Lösung als Antwort. Worauf es ankommt, ist eine angemessene und qualitätsvolle Siedlungsdichte.

Trend zu Gemeinschaft

Einfamilienhäuser und gemeinnützigen Wohnbau werde es laut Entwicklungsmanager Stampfl zwar auch in Zukunft geben, „daneben werden sich aber auch alternative Wohn- und Organisationsformen etablieren und zunehmend auch Eigentümergemeinschaften und genossenschaftlich organisierte Baugruppen auftreten, die eigenverantwortlich und selbst bestimmend Wohn- und Lebensraum schaffen. Unser Lebensraum wird definitiv urbaner, das Flächenangebot optimiert und die funktionale Dichte erhöht. Dazu werden wir kompakter und höher bauen, gleichzeitig werden die Zwischenräume an Qualität und die grüne Infrastruktur an Bedeutung gewinnen.“ Größer in Nachbarschaften und Quartieren zu denken und zu planen, müsse die Devise sein. Stampfls klare Botschaft: „Wohnraum sollte nicht als Spekulationsobjekt dienen, die Bereitstellung sollte als Teil der Daseinsvorsorge betrachtet werden. Wir müssen in Zukunft die Wohnflexibilität maßgeblich ausbauen, sodass ein lebensabschnittsgerechtes Wohnen erleichtert wird.“ 

Mit dem Projekt nenaV – Neue Nachbarschaften Vorarlberg – versucht Paul Stampfl einer gemeinwohlorientierten und genossenschaftlich organisierten Lebensraumgestaltung Rechnung zu tragen. „Ich freue mich, dass sich auch in Vorarlberg die Umsetzung innovativer Vorhaben im Sinne einer neuen Nachbarschaft abzeichnen. Derzeit untersucht der Verein zur nachhaltigen Nutzung des Salvatorkollegs in Hörbranz, die Möglichkeit zur Umsetzung eines innovativen Wohnquartiers auf dem Klosterareal.“

Für Architekt Roland Gnaiger (siehe Interview rechts) gibt es einen „Weg dazwischen“. Er meint damit Wohnformen zwischen dem Einfamilienhaus und dem Geschoßwohnbau, wo sich Menschen wohlfühlen, also Wohnungen, die leistbar sind und sich flexibel den sich rasch ändernden Lebenswelten und Notwendigkeiten von Jungen, Familien und Älteren anpassen. Heißt konkret auch: Nachverdichtung als gemeinsamer Prozess der Anwohner und der Nachbarschaft. Gnaiger ärgert beim Vorarlberger Wohnbau neben „der Fantasielosigkeit“ vor allem das immer häufigere Verzichten auf Balkone. Damit werden die Menschen gezwungen, sich ins Auto zu setzen, um irgendwo frische Luft zu bekommen. Für Gnaiger ein Irrsinn.

Helmut Kuëss argumentiert ähnlich in Bezug auf den Vorarlberger Wohnbau: „Die Vielfalt im Wohnbau stagniert bzw. wird nur sehr langsam ausgebaut. Der Markt fordert laut den meisten Bauträgergesellschaften einen Einheitstyp an Wohnungen bzw. Wohnprojekten.“

Für Baumeister und CEO der Rhomberg Holding, Hubert Rhomberg, stellt sich primär die Frage: „Wohin entwickelt sich die Gesellschaft?“ Er hat eine klare Vision: „In Vorarlberg und vor allem im Rheintal werden wir sehr viel grüner leben! Das heißt: mehr öffentlicher Raum, gleichzeitig mehr Höhe und Urbanität. Der öffentliche, grüne Raum ermöglicht es uns auch, die Lebensmittelproduktion wieder verstärkt in unseren Lebensmittelpunkt zu rücken: Urban Agriculture. Eine Raumplanung für die Menschen sei durch das Ausnutzen der Chancen der Digitalisierung, etwa bei der Vernetzung verschiedener Mobilitätsangebote, und durch nachhaltigeres Bauen etwa mit Holz erreichbar.“ Wohl am häufigsten thematisiert wurde in letzter Zeit der rasant zunehmende Bodenverbrauch. Zwar wächst auch die Bevölkerung, aber der Bodenverbrauch für bauliche Maßnahmen verschiedener Art steigt überproportional stark an. Ursache für diese Entwicklung ist nur vordergründig die Flächenwidmungspolitik der Gemeinden. Die treibende Kraft dahinter sind einerseits unsere Wohnansprüche und andererseits die Verkehrsentwicklung.

„In Vorarlberg ist die engmaschige Verteilung von Gebietskörperschaften (Gemeinden) nicht zwangsläufig von Vorteil für die Schaffung und Anwendung neuer Regelwerke, wie etwa der Raumplanung. Solange das Wohnen überwiegend als Wirtschafts- und Marktfaktor gilt, ist jegliche Vielfalt an Wohnkonzepten nur schwer umsetzbar“, betont Architekt Kuëss. Auch Paul Stampfl ortet zu wenig Mut der Politik auf Gemeindeebene innovative Projekte anzustoßen.

Hubert Rhomberg würde gern die Gemeindegrenzen einfach mal ausblenden, „denn in Wirklichkeit sind sie längst zu einer Großstadt verschmolzen.“ „Ich würde die Menschen einbeziehen in die Stadtentwicklung und ihnen Möglichkeiten geben, ohne sie zu steuern. Die Summe aller Bürger ist viel schlauer, als man denkt“, sagt Rhomberg.

Wissenswertes zum Thema

Gebäude in Vorarlberg

Anzahl der Gebäude: 111.116 (Stand 1.1 2019)
Anzahl der Gebäude mit Bauperiode:

  • Vor 1944:  20.622
  • 1945-2000: 64.538
  • Ab 2001: 23.913
  • Anzahl der Wohngebäude 94.188
  • Anzahl der Wohnungen insgesamt: 202.895

Vgl. 2001 gab es in Vorarlberg knapp 149.000 Wohnungen (Haupt- und Nebenwohnsitz)

Haushalte

Haushalte in Vorarlberg (Stand 2018): 166.800

  • Einpersonenhaushalte: 55.900
  • Mehrpersonenhaushalte: 110.900
    • Davon mit 2 Personen: 50.900
    • Davon mit 3 Personen: 25.400
    • Davon mit 4 Personen: 23.000
    • Davon mit 5 und mehr Personen: 11.600

 

Durchschnittliche Haushaltsgröße:

2,32 Personen (Ö-Schnitt: 2,22)

  • Seit 1951 hat sich die Zahl der Privathaushalte in Vorarlberg mehr als verdreifacht: Sie stieg von rund 50.000 auf nahezu 170.000; in derselben Zeit nahmen die Eine-Person-Haushalte von rund 5000 auf über 56.000 zu.
  • Der Anteil der Einpersonenhaushalte liegt bei 33,5 Prozent. 2004 waren es noch 28,9 Prozent.
  • 2030 wird mit 181.000, 2050 mit 195.000 Haushalten gerechnet, wobei die Zahl der Einpersonenhaushalte weiter stärker steigt (2030: 65.000, 2050: 77.000) als die der Mehrpersonenhaushalte (2030: 116.000, 2050: 118.000).
    Seit 1951 ist die Bevölkerungszahl von 193.657 auf 391.741 Personen im Jahr 2018 gestiegen, was einer Verdoppelung gleichkommt.
    Allerdings sank die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau seit den 1970er Jahren deutlich (von 3 auf 1,5 Kinder). Dadurch wird unsere Bevölkerung, trotz Wachstum, im Durchschnitt immer älter.
  • Vor rund 65 Jahren lebten durchschnittlich 3,79Personen in einem Haushalt. In einem durchschnittlichen Vorarlberger Haushalt leben heute 2,32 Personen auf 99,4 m². 2004 betrug die durchschnittliche Wohnfläche pro Person 39,5 m²., 2018 waren es 42,9 m².

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