
Growth mindset in der EU-weiten Wirtschaftspolitik
September 2025
Europa ist wirtschaftlich in einer nicht ganz einfachen Situation. Die Wachstumsraten sind schwach, vor allem geht das Potenzialwachstum – also das Wachstum bei normalem Auslastungsgrad der Wirtschaft, ohne die konjunkturellen Schwankungen – überall zurück. Auch wenn sich erste Anzeichen für eine etwas stärkere konjunkturelle Dynamik derzeit mehren, diese langfristig mauen Aussichten reduzieren Investitionen von Unternehmen, führen zu Angstsparen der Haushalte und verschärfen gesellschaftspolitische Verteilungskämpfe. Die vor allem beitragsfinanzierten Sozialsysteme kommen unter doppelten Druck: die Einnahmen steigen aufgrund der schwachen Wirtschaftsentwicklung weniger stark, und die Ausgaben erhöhen sich aufgrund von demographischen Entwicklungen sehr dynamisch.
Immer wieder werden allerdings in der Debatte über die aktuelle Wachstumsschwäche Europas verschiedene Aspekte vermengt. Eine unpräzise Analyse führt zu wenig zielgerichteten oder sogar falschen wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Außerdem führt sie auch zu unnötiger Verwirrung bei den Bürgerinnen und Bürgern und gefährdet damit die gesellschaftliche Unterstützung für notwendige Reformen.
Die Herausforderungen
Umso wichtiger ist es, die Herausforderungen, aber auch die Chancen offen zu benennen. Die Herausforderungen der allgemeinen Wirtschaftspolitik sind dabei potenziell auch Herausforderungen für die Geldpolitik. Ich nenne die hier aus meiner Sicht fünf wichtigsten:
1. Aufgrund der demographischen Entwicklung in den meisten europäischen Staaten, vor allem durch die Alterung der Gesellschaften, sehen wir höhere Kosten in den Gesundheitssystemen, in der Pflege und in den Pensions- beziehungsweise Rentensystemen. Das alles sind direkte Kosten der Demographie, die auch in den nächsten Jahren durch dynamisches Wachstum gekennzeichnet sein werden, wenn es keine Maßnahmen gibt.
2. Die demographische Entwicklung, insbesondere die Tatsache, dass die Babyboomer-Generation gerade in den Ruhestand geht, führt zu Angebotsknappheit auf dem Arbeitsmarkt. Dadurch werden gerade in den personalintensiven Bereichen die Lohnkosten stärker steigen als in den letzten beiden Jahrzehnten. In verschiedenen Dienstleistungsbranchen sieht man schon jetzt die Vorboten dafür; auch in der Industrie wird dies wieder der Fall sein, wenn sich die Konjunktur erholt.
3. Die Energietransformation weg von fossilen Energieträgern hin zu den Erneuerbaren und viele andere Klimaschutzmaßnahmen erhöhen den öffentlichen Investitionsbedarf und unter anderem die Energiekosten (aber nicht nur diese) für Haushalte und Unternehmen. Die Vorteile von möglicherweise niedrigeren Kosten in 15 bis 20 Jahren, wenn die Umstellungen erfolgt sind, können Großteils leider erst dann lukriert werden.
4. Die geopolitische und handelspolitische Unsicherheit führt zu Veränderungen von Liefernetzwerken, macht größere Sicherheitspuffer, etwa in der Lagerhaltung, notwendig und bewirkt eine Umlenkung des Handels von kostengünstigen zu teureren Lieferanten. All das übt Druck auf die Preise aus.
5. Die Digitalisierung führt durch Skaleneffekte zu möglichen Kostendämpfungen. In vielen Fällen besteht allerdings der politische Wunsch beziehungsweise der Wunsch der Konsumentinnen und Konsumenten analoge und digitale Welten parallel zu erhalten – zumindest für eine lange Übergangsphase (siehe die Diskussion über das „Recht auf ein analoges Leben“). Parallele Modelle sind aber jedenfalls teurer. Welche Kostenwirkungen die weitere Ausrollung von Künstlicher Intelligenz hat und in der Zukunft haben wird, lässt sich noch nicht seriös einschätzen.
Verharrt die wirtschaftliche Entwicklung in Europa, zumindest in einigen Ländern, nahe an der Stagnation, wird der Kostendruck nicht einfach weitergegeben werden können und es kommt vermehrt zu Unternehmenspleiten beziehungsweise zur Abwanderung von Unternehmen. Kann der Kostendruck weitergegeben werden, entstehen Gefahren für die Preisstabilität im Euroraum. Höhere Leitzinsen als mögliche Reaktion, um gegebenenfalls inflationäre Entwicklungen im Griff zu behalten, führen dann aber wieder potenziell zu einem Abwürgen wirtschaftlicher Dynamik. Der Feinsteuerung der Geldpolitik und der klugen Koordination von Geld- und Fiskalpolitik kommt damit möglicherweise eine noch wichtigere Rolle zu als zuletzt. Angesichts der Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten ist gerade diese Koordination bzw. deren eingeschränktes Funktionieren eine der wirtschaftspolitischen Achillesfersen des Euroraumes.
Was Europa jetzt anpacken muss
Der Kostendruck, der damit verbundene Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und die eingeschränkten Möglichkeiten der öffentlichen Haushalte bei gleichzeitig hoher Abgabenbelastung erfordern als Kompensation ein stark an der Erhöhung der Produktivität ausgerichtetes Programm. Ich werde in den nächsten Beiträgen hier auf die einzelnen Elemente eines solchen „Programms“ detailliert eingehen. Wenig überraschend wird es dabei unter anderem um Innovation, den Kapitalmarkt und das Schaffen von Spielräumen für öffentliche Investitionen gehen. Es geht aber auch um ein Bekenntnis zu einer grundsätzlich positiven Sichtweise; nicht ausgestaltet als naiver Zweckoptimismus, sondern als pragmatische Entschlossenheit.
Die Persönlichkeitspsychologie kennt das Begriffspaar „fixed mindset“ und „growth mindset“. Unter einem „fixed mindset“ versteht man, vereinfacht gesagt, eine persönliche Selbsteinschätzung, nach der menschliche Fähigkeiten, Intelligenz und Talente angeboren sind und sich nicht verändern. Demgegenüber bedeutet ein „growth mindset“, davon überzeugt zu sein, dass Menschen mit ihren Aufgaben wachsen und besser werden können.
Gerade jetzt brauchen wir in der Europäischen Union bzw. ihren Mitgliedstaaten und für ihre Wirtschaftspolitik(en) dieses gesellschaftliche „growth mindset“. Dabei geht es nicht alleine um wirtschaftliches Wachstum, sondern um das Vertrauen, die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen bewältigen zu können – quasi ein gesamtgesellschaftliches „growth mindset“.
Anmerkung: Martin Kocher schreibt einen Blog auf LinkedIn. Der Text stammt aus diesem Blog, der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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