Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Hurra, das BIP steigt wieder

Oktober 2020

Wie wir das Jahr 2020 erlebten, werden wir noch unseren Enkeln erzählen: so außergewöhnlich und bedrückend empfanden es viele. Im Moment hoffen wir allerdings, dass 2020 ein Einzelfall bleibt, nicht ein Vorbote immer neuer Krisen. Positiv könnte man werten, dass wir viel lernen mussten: Warnungen vor der weltweiten Ausbreitung von Viren ernst zu nehmen und sich präventiv vorzubereiten oder den menschengemachten Klimawandel nicht in ferne Zukunft zu verschieben, wenn unsere Alpengletscher längst geschmolzen sind.

Die Abhängigkeit des Menschenlebens auf allen Ebenen – vom Mikromaßstab Nano-Meter der Viren bis zur globalen Ebene des ganzen Planeten, erschütternd ins Wohnzimmer geliefert durch tägliche Fernsehberichte über Intensiv-Medizin, über brennende Wälder oder notleidende Kinder, die aus politischem Kalkül hungrig im Straßengraben vegetieren – hat vielleicht doch da und dort grundsätzliches Umdenken ausgelöst.
Gegenwärtig beansprucht allerdings das „Hochfahren“ der darniederliegenden Wirtschaft die Prioritäten der politischen Tagesordnung. Österreichs Brutto-Inlandsprodukt (BIP) wird heuer um sieben Prozent schrumpfen. Die sich zur Zuversicht verpflichtet fühlenden Wirtschaftsforscher meinen, die Konjunktur werde das 2021 weitgehend wieder aufholen (+ vier Prozent). Das sieht großzügig daran vorbei, wie viele Beschäftigte ihren Job verloren haben und wie viele Unternehmen zusperren mussten und dass alle nach der „kurzen“ Rezession verzweifelt wenig Aussicht auf ausreichendes Einkommen haben. Die Krisen des Jahres 2020 sind nicht Phänomene, die mit Begriffen wie Konjunktur und Rezession zu erfassen sind. Sie drücken sich in Wut, Verschwörungstheorien, Ängsten und Ratlosigkeit aus. 

Wir hoffen, dass 2020 ein Einzelfall bleibt, nicht ein Vorbote immer neuer Krisen.

Sind die Ökonomen schuld, die ja den Begriff Brutto-Inlandsprodukt erfunden haben? Die meisten sind sich allerdings einig, dass der gängige Ausdruck in der politischen Diskussion überstrapaziert wird: das BIP drückt nicht das Wohlbefinden von Menschen aus, sondern nur das Ausmaß ihrer wirtschaftlichen Aktivität. Als solcher hat es einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber weiter entwickelten Konzepten: es umfasst (fast ausschließlich) wirtschaftliche Transaktionen auf Märkten, wo es um objektive Marktpreise und nicht um subjektive Bewertungen geht, nicht um Lebensqualität, schon gar nicht um Zufriedenheit oder Glück. 
Vor zehn Jahren (2009) legte eine Kommission unter der Leitung des US-Ökonomen Joe Stiglitz, unter Mitwirkung des indischen Ökonomie-Nobelpreisträgers und Philosophen Amartya Sen und des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Jean-Paul Fitoussi im Auftrag des französischen Präsidenten Sarkozy einen vielbeachteten Bericht zu dieser Thematik vor. Den Widerspruch zwischen der subjektiven Bewertung und dem tatsächlichen Preis konnten auch die hochrangigen Experten nicht überwinden. Sie regten eine Anzahl von Korrekturen am Konzept des BIP an, die besonders auffällige Ungereimtheiten ausgleichen sollten: etwa dass der Aufwand für die Reparatur von entstandenen Schäden als Produktion das BIP vergrößert, Arbeit im Haushalt jedoch nicht. Oder dass für den öffentlichen Dienst kein Produktionswert vorgesehen wird, sondern als Ersatz der Aufwand für das Herstellen öffentlicher Leistungen, etwa die Gehaltssumme. Sonst müsste man sich vorher entscheiden, ob der Polizeidienst produktiver ist, wenn er möglichst viele Strafmandate ausstellt, oder andersherum, wenn er nur ganz wenige benötigt, weil er Verletzungen der StVO präventiv durch bauliche Maßnahmen, Signale, bessere Ausbildung für den Führerschein vorbaut. 

Den Ökonomen sind diese Einschränkungen der Verwendung des Allerwelts-Arguments „BIP“ sehr bewusst. Aber die Gefahr der Irreführung, die Wachstum oder Fallen der Kennzahl Sozialprodukt bedeuten kann, ist in der Oberflächlichkeit der Diskussion in Politik und Medien nicht überwunden. Ein Anstieg des BIP wird stets mit Verbesserung der Wirtschaftslage gleichgesetzt, eine Abnahme sei immer schlecht, auch wenn sie durch Verringerung klimaschädlicher Emissionen zustande kommt. Ein besonders schwieriges Kapitel stellt die Erfassung von Verbesserungen der Qualität von Wirtschaftsgütern dar: um den rechnerisch gleichen Preis für einen Pkw bekommt man heute ungleich „mehr“ PKW als vor fünfzig Jahren: er kann mehr, ist sicherer, verbraucht weniger und hält 200.000 Kilometer, das Doppelte von damals. Das BIP ist ziemlich ungeeignet, langfristige Trends realistisch zu erfassen: es trägt damit unbemerkt zur notorischen Kurzsichtigkeit politischer Entscheidungen bei. 

Es ist schon richtig, dass Veränderungen des BIP systematisch mit wichtigen Zielen der Wirtschafts-, der Sozial- oder der Umweltpolitik zusammenhängen: mit Anstieg oder Rückgang der Arbeitslosigkeit, der Kaufkraft, mit dem Vordringen alternativer Energien, nicht zuletzt mit politischer Stabilität. Die Krisen von 2020 lassen jedoch vermuten, dass eine Wiederbelebung nach der Rezession auf einen geänderten Entwicklungspfad führen muss, auf welchem die Prioritäten anders zu setzen sind: die Weltwirtschaft ist in eine Epochenwende eingetreten, in welcher neue Technologien, Klimawandel und Lehren aus den Versäumnissen der Vorbeugung gegen Epidemien die Zusammensetzung des BIP gründlich verschieben. Die Orientierung am BIP kann unsere Ziele verzerren, auch wenn sie auf kurze Sicht unverzichtbar ist.

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