Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Mögest Du in interessanten Zeiten leben

März 2019

Mögest Du in interessanten Zeiten leben“ – in der chinesischen Kultur keineswegs ein freundlicher Glückwunsch, sondern im Gegenteil ein Fluch. Der entspricht wohl nur einer sehr skeptischen Einstellung gegenüber Fortschritt oder einer geschichtlichen Situation, die überwiegend als gefahrvoll erlebt wird. Das vergangene 20. Jahrhundert, so scheint es rückblickend, brachte uns hier, in der Mitte Europas, eine „interessante“ Mischung grandioser Neuerungen, die die materiellen Lebensbedingungen vieler Menschen enorm verbesserten, aber mit verhängnisvollen politischen Wendungen und schrecklichen Tiefpunkten der Menschheitsgeschichte. Die Zeitgenossen erlebten in relativ kurzer Folge tiefe Umbrüche: Gerade gedenken wir der historischen Zeitenwende vor hundert Jahren, in der „die Welt von gestern“ (Stefan Zweig) unterging. Wenn man die weiteren Geschehnisse sehr oberflächlich betrachtet, kann man immerhin noch durchschnittlich alle 20 Jahre (1933, 1938/39, aber auch 1945 und 1989/90) weltgeschichtliche Wendepunkte, die einen zu unermesslichem Leid, die anderen zur Zuversicht interpretieren. Seit 9/11 (2001) und der folgenreichen Finanzkrise 2007/08 ist’s wieder interessant.

Interessant sind gewiss nicht nur einschneidende politische Ereignisse. In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wurden fundamentale Veränderungen der Entwicklung der Menschheit akut, mit denen wir noch nicht beruhigend umzugehen gelernt haben. Wieder: Innovationen, die revolutionären Fortschritt versprechen, gleichzeitig aber auch problematische Tendenzen und bedenkliche Vorgänge. Sie waren schon in den letzten Jahrzehnten des vorhergehenden Jahrhunderts bemerkt worden, ohne dass sie zunächst viel mehr als Diskussionen ausgelöst hatten. Heute aber lassen sie die Welt des 20. Jahrhunderts als „Welt von gestern“ erkennen. 

Uns Zeitgenossen erscheint die Gegenwart als besonders „interessante Zeit“. Wir fühlen uns in unserem Weltbild verunsichert, bedroht von Umwälzungen und Gefahren, die bisher nicht ernst genommen werden mussten. Dafür ist nicht eine einzige Problematik verantwortlich, sondern gleich ein ganzes System mit verschiedenen Ursachen, die sich wechselseitig beeinflussen: Grenzen der natürlichen Umwelt des Planeten für die Nutzung durch die Menschen. Andererseits der Abbau nationaler Grenzen und die Verlagerung der Verantwortung auf die globale Ebene; das Gebot, „nachhaltig“ zu planen, das den kurzfristigen Horizont, der vor allem in der Politik üblich ist, erweitert – eine Anforderung, der alle zustimmen, aber die fundamental schwierig zu realisieren ist. Damit nicht genug: Tiefgreifende Brüche der Bevölkerungsstrukturen, noch immer zunehmende Übervölkerung in armen Ländern und Knappheit an Nachwuchs in den reichen, rufen nach besseren Lösungen als dem Bau von Grenzmauern oder lebensgefährlicher Migration. Andererseits werden revolutionäre Technologien verfügbar, die fantastische Möglichkeiten anbieten, aber das gesellschaftliche und wirtschaftliche Gefüge radikal verändern werden.

Die naheliegendste Reaktion auf die Umbrüche sind tiefe Verunsicherung, zunehmendes Auseinanderdriften sozialer Schichten und unterschiedliche Zielvorstellungen – und nicht zuletzt: tief wurzelnde Ängste. Uns hier in der Mitte Europas geht es ja insgesamt ziemlich gut: Wir brauchen so epochale Veränderungen nicht dringend. Wir haben ja etwas zu verlieren. Eher wünschen wir uns heimatliche Geborgenheit, Identität, Traditionen und übersichtliche Verhältnisse zurück. 

„Das Alte zu ehren“, wie es Gebhard Wölfle in seinem berühmten Ausspruch empfiehlt, wird in der sich dramatisch ändernden Welt des 21. Jahrhunderts nicht genügen.

„Das Alte zu ehren“, wie es Gebhard Wölfle in seinem berühmten Ausspruch empfiehlt, wird in der sich dramatisch ändernden Welt des 21. Jahrhunderts nicht genügen. Und „das Neue zu grüßen“ auch nicht. Vor der vergleichsweise ruhigen Umgebung des Jahres 1902 erschien das Wälderbähnle, zu deren Eröffnung er in Egg sprach, als das schnaubende und rumpelnde Dampfross, das den Zugang zur Welt erweiterte. Er hatte es wohl leichter, mit „dem Neuen“ zurechtzukommen als wir Heutige. 

Heute wünschen sich gar nicht Wenige, die Zeiten mögen etwas weniger interessant sein. Sie sehen in der Globalisierung, im Klimawandel, der Migration und in der Digitalisierung vor allem Bedrohungen und Gefahren. Das kann mit sich bringen, dass sie den Zeitenwandel nicht als Anlass zum Zupacken, Mitdenken und Mitgestalten verstehen, sondern auf Abwehr und Rückzug sinnen. Als wenn nichts mehr zu verbessern wäre!
Wer, wie viele Klimaforscher, Widerstände gegen die zügige Beendigung des Zeitalters fossiler Brennstoffe mit apokalyptischen Visionen brechen will, übersieht die irrationale Risikopsychologie der Menschen und die auch wissenschaftlich nicht überwindliche Unsicherheit von Projektionen der Zukunft. 
Wer ständig mit dem Entstehen von Arbeitslosenheeren droht, die die technischen Innovationen mit sich brächten, versäumt, das Bildungssystem zu verbessern. Wer unheimliche Perspektiven künstlicher Intelligenz ausschlachtet oder auf Gefahren der Cyberkriminalität durch Vernetzung hinweist, bestärkt das ohnehin leicht zu weckende Misstrauen gegenüber den Vorzügen der revolutionären Technologien.
„Der durch digitale Technologien ausgelöste Wandel in Staat, Markt und Gesellschaft ist eine Realität. Betroffen sind sowohl Individuen und Unternehmen als auch die öffentliche Hand. Digitalisierung ist das zentrale Zukunftsthema und durchdringt sämtliche Lebensbereiche.“ (WIFO, Monatsberichte 12/2018). 

Die Digitalisierung kommt in Österreich langsam voran: Nach dem Digitalisierungsindex der EU-Kommission liegt Österreich auf Platz 10 von 28 Mitgliedsländern; guter Durchschnitt, aber kein Spitzenplatz. Noch fällt es schwer, zwischen immer neuen Spielereien und substanziellem Nutzen zu unterscheiden. Kein Lebensbereich wird so entscheidend beitragen, die Vorteile der neuen Technologien zum Tragen zu bringen, wie das Bildungssystem. Derzeit scheint dort das Eindringen der Digitalisierung einen Schwerpunkt bei der Bewältigung der überbordenden Bürokratie und weniger in den Formen und Zielen des Unterrichts zu spielen.
Aufschlussreich ist auch die Untersuchung der räumlichen Dimensionen der Digitalisierung. Das WIFO findet keine Bestätigung für die alte Annahme, dass die Vernetzung der Telekommunikation das Gefälle zwischen zentralräumlichen und peripheren Gebieten einebnet. Sie werde die Nachteile der Distanz und des Zeitverlustes abseits der Ballungsräume verringern. Vielmehr finden sich Hinweise, dass vor allem die eher ausreichende Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften und deren höhere Ansprüche an die Lebensumgebung diesen Vorteil mehr als kompensieren. Immerhin genügt derzeit schon gezielte Raumordnungspolitik auf Basis feingliedriger regionaler Darstellungen des Digitalisierungsgrades weit höheren Ansprüchen als früher. Allerdings verursacht der Ausbau digitaler Netze in ländlichen Gebieten relativ hohe Investitionen, wobei nicht von vornherein absehbar ist, ob diese je genutzt werden. 

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