David Stadelmann

* 1982, aufgewachsen in Sibratsgfäll, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Fellow bei CREMA – Center for Research in Economics, Managemant and the Arts; Fellow beim Centre for Behavioural Economics, Society and Technology (BEST); Fellow beim IREF – Institute for Research in Economic and Fiscal Issues; Fellow am Ostrom Workshop (Indiana University); Mitglied des Walter-Eucken-Instituts.

 

Wer die natürliche Immunität ignoriert, zahlt einen hohen Preis

Dezember 2020

Die Wohlfahrtsverluste aufgrund des erneuten landesweiten, harten Lockdowns sind hoch. Der BIP-Indikator der Österreichischen Nationalbank weist auf wöchentliche Einbrüche der Wirtschaftsleistung zwischen 6,3 bis 8,4 Prozent für die ersten drei Novemberwochen hin. Hinzu kommen die gesellschaftlichen Nutzenverluste aufgrund von Ausfällen im Sport-, Kultur- oder Bildungsbereich. Der Fernunterricht ersetzt die normale Schulzeit bestenfalls mangelhaft. Konsum, Investitionen und der Handel gehen zurück. Nur die Staatsausgaben wachsen und mit ihnen auch die Schulden. Da die Leistungen des Staates anhand ihrer Kosten bewertet werden, scheinen sie stabil, während der tatsächliche Wert der Staatsleistungen eingebrochen ist. Für den für Vorarlberg wichtigen Wintertourismus stehen die Zeichen politisch eher schlecht.

Dritte Chance nach erneutem Lockdown

Manche sahen den Lockdown im Frühjahr als eine Art „Reset“ und eine zweite Chance, ganzheitliche Strategien im Umgang mit der Pandemie zu entwickeln und womöglich das Virus zu kontrollieren. Von einer Kontrolle über das Virus kann wohl eher nicht die Rede sein, und die ganzheitliche sowie lang- oder jedenfalls mittelfristige Strategie fehlt weiterhin. Trotzdem wird jetzt von einer dritten Chance nach dem nochmaligen „Reset“ geträumt. 
Dieser Traum soll in Österreich unter anderem durch massenhafte Schnelltests erfüllt werden. Diese wären auch schon vor mehreren Wochen, zu Beginn der ansteigenden Phase der Fallzahlen, möglich gewesen. Der oftmalige massenhafte Einsatz von Schnelltests in spezifischen Bereichen oder sogar Massentestungen der Bevölkerung hätten dann gegebenenfalls sogar als Alternative für den harten Lockdown dienen können. Das Ziel der nationalen Entscheidungsträger war bis jetzt, möglichst wenige Infektionsfälle zu haben. Bei der Massentestung der Bevölkerung könnten indes viele Fälle als „Erfolg“ gelten. Dieser „Erfolg“ wird immer eintreten, selbst wenn kein einziger tatsächlich Infizierter zur Massentestung käme: Sofern in Österreich ähnliche Schnelltests wie in Südtirol eingesetzt werden, läge der falsch-positive Anteil unter den Getesteten bei 0,3 bis 0,6 Prozent, und diese wären wohlgemerkt tatsächlich nicht Infizierte. Wenn diese fälschlicherweise als Corona-positiv geltenden Personen in Quarantäne gehen und reale Angstzustände aufgrund einer bei ihnen nicht bestehenden Infektion entwickeln, fließt dies nur im Ausmaß ihrer reduzierten Arbeitsleistung in die Wirtschaftskraft ein. Der tatsächliche Verlust an Lebensqualität und die Konsequenzen der induzierten Angst für die Betroffenen bleiben leider, wie bei vielen Kollateralschäden im Umgang mit Corona, weitgehend unberücksichtigt. 

Natürliche Immunität mitberücksichtigen 

Ein Lichtblick sind die zu erwartenden Impfungen, die von der Pharmaindustrie in Zusammenarbeit mit jungen Unternehmen – ehemaligen Start-ups – entwickelt wurden. Die künstliche Immunität durch Corona-Impfungen erscheint vielen als die Erlösung. Doch werden Impfungen noch einige Zeit knapp sein, sodass die meisten Bürger viele Monate ohne Impfung ausharren müssen. 
Mittlerweile belegen gute wissenschaftliche Untersuchungen in den Fachzeitschriften „Science“ oder im „New England Journal of Medicine“, dass natürliche Immunität dank neutralisierenden Antikörpern nach Genesung existiert und wenigstens mehrere Monate anhält. Darüber hinaus gibt es eine gewisse Immunität aufgrund von spezifischen T-Zellen. Die natürliche Immunität schützt nicht nur Genesene, sondern sie ist auch die Grundlage für das Funktionieren von Impfungen. Natürliche Immunität scheint sogar ähnlich verlässlich wie eine künstliche durch Impfung zu sein, denn trotz Millionen gemeldeter Genesener weltweit ist die Zahl der nachgewiesenen Zweitinfektionen äußerst gering. 
Wer in der künstlichen Immunität durch Impfung die Erlösung sieht, muss Menschen mit bereits bestehender Immunität durch Genesung ebenfalls berücksichtigen. Leider werden die natürlich Immunen immer noch konsequent ignoriert, was mit großen gesellschaftlichen Kosten verbunden ist. Bereits Immune früh zu impfen, verschwendet wertvolle Ressourcen in Form von Impfungen zulasten jener, die diese nötiger haben. Sie spät zu impfen und bis dann wie Noch-nicht-Immune zu behandeln, ist wirtschaftlich, rechtlich und ethisch unhaltbar.
Aus Effizienz- und Fairnessüberlegungen müssen natürlich Immune bereits jetzt analog zu den bald künstlich Immunen behandelt werden. Sie müssen sofort wieder volle Freiheiten zurückbekommen. Daher sollten Menschen mit nachgewiesener Immunität – sei es aufgrund einer belegten Infektion oder eines späteren Tests auf neutralisierende Antikörper – ein Immunitätszertifikat ähnlich einem Impfausweis erhalten. Dieses sollte befristet sein und jeweils gemäß der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen Gültigkeit haben. Dadurch könnten auch gewisse Personalüberlastungen im Gesundheitswesen reduziert werden, die mitunter entstehen, weil sich potenziell immune Pflegekräfte unter größten Sicherheitsmaßnahmen um potenziell immune Pflegebedürftige kümmern. 
Mit der fortschreitenden Immunisierung der Bevölkerung wird es gesellschaftlich und wirtschaftlich immer teurer, die natürliche Immunität auf Basis von Antikörpern und T-Zellen nicht systematisch zu erfassen. Neben den offiziell gemeldeten Genesenen gibt es eine relevante Dunkelziffer. Gemäß dem Robert-Koch-Institut liegt der Mittelwert der Dunkelziffer über verschiedene internationale Studien bei einem Faktor von 10. Selbst wenn die Dunkelziffer in Österreich aufgrund einer behaupteten guten Teststrategie deutlich tiefer wäre und man bereits im Februar bei den Impfungen auch die breite Bevölkerung mit einbeziehen könnte, dürfte es zu diesem Zeitpunkt in Vorarlberg wenigstens 10 bis 15 Prozent bereits natürlich Immune geben. 
Von Einsatzfähigkeit von immunitätszertifizierten Personen profitieren alle: direkt durch ihre Arbeitsleistung, indirekt über die ganz normale Besteuerung von Einkommen und Konsum sowie dadurch, dass sie das Virus nicht weiter übertragen. Wer die natürliche Immunität weiterhin ignoriert, zahlt einen hohen Preis.

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