Herbert Motter

Der Nachwelt zur Erinnerung

September 2019

Sie tragen Wetterhahn und Kreuz und glänzen weithin sichtbar im Sonnenlicht.
Doch die vergoldeten Kugeln auf Kirchtürmen verschönern nicht nur sakrale Gemäuer, sie sind auch eine Art Geschichtsarchiv. Eben kam in Hard bei Renovierungsarbeiten ein solches Archiv in Form einer „Zeitkapsel“ zum Vorschein.

Der Kirchturm ist Markenzeichen sowohl bei historischen wie auch bei modernen Kirchengebäuden, obwohl es für diesen Annexbau kaum eine theologische Begründung gibt und seine Nutzung zuzeiten vorwiegend profaner Natur diente. Wenn schon keine theologische Bedeutung feststellbar ist, so ist die symbolische eine weitaus größere. Lenken Kirchtürme doch den Blick der Menschen zum Himmel. Sie sind wie Zeigefinger, der nach oben weist, über das Weltliche hinaus. Marcel Proust hat die Kirchtürmer als „Finger Gottes“ bezeichnet.
„Der hoch aufragende Turm ist Symbol der Verbindung von Himmel und Erde und verweist auf die unsere alltägliche Realität übersteigende Wirklichkeit Gottes“, sagt die Schweizer Theologin und Publizistin Doris Strahm. Frühe Kirchen hatten keine Türme. Erst ab dem 8. oder 9. Jahrhundert wurden sie zum Bestandteil im Kirchenbau. In der Spätgotik begann dann ein wahres Turm-Wettbauen. Je höher man baute, desto näher wähnte man sich Gott. Diesem Trend entsagten allerdings die auf Demut und Bescheidenheit basierenden Orden der Zisterzienser, der Dominikaner und der Franziskaner bei ihren Klosterbauten.
In Italien entstanden im 6. Jahrhundert die ersten Glockentürme, die sogenannten Campaniles, die frei neben der Kirche standen. Damit haben Kirchtürme auch eine praktische Bedeutung erhalten. Die Glocken rufen seither die Gläubigen zum Gebet und Gottesdienst. Dass sich der Turm zum festen Bestandteil des Kirchenbaus entwickelte, hängt also mit der bedeutenden Rolle des Geläutes als akustische Kommunikationsform zusammen. Praktischerweise dienten sie auch als Wacht-, Warn-, Wehr- und Fluchtorte, Zeitanzeiger, Aussichtsplattformen und Telegrafenstationen, aktuell auch zur Installation von Mobilfunkantennen.

Eine Art „Zeitkapsel“

Und noch eine Funktion haben die Kirchtürme bis heute: Sie sind bevorzugter Aufbewahrungsort für kostbare Dinge wie etwa Reliquien vor der Zeit der Aufklärung, danach waren es meist historische Dokumente, Schriftstücke, Münzen, Aufzeichnungen der jeweiligen Kirchengemeinde, Auszüge aus Geburts- und Totenregistern und Berichte über besondere Ereignisse zur Bauzeit; die Turmkugel galt als sicherer Ort aufgrund ihrer relativen Unzugänglichkeit. Geschützt vor Feuersbrunst ebenso wie vor äußeren Feinden. Oben an der Spitze, zumeist gleich unter dem Turmkreuz, wurden sie zu einer Art „Zeitkapsel“, deren Aufgabe es war, zeittypische Dinge für die nächsten Generationen aufzubewahren. 
Laut Michael Firi, Archivar der Diözese Feldkirch, ist die Verwendung der Turmkugel als Zeitkapsel generelle Praxis. „Wird ein Kirchturm renoviert, nutzt man die Gelegenheit um die Geheimnisse der Turmkugel zu lüften. Oft fanden sich spannende Schriften darin, in denen der Pfarrer die moralischen Zustände der Gemeinde beschrieb und wie treu diese der Kirche ergeben war.“ Der Kirchturm als höchster Punkt des Dorfes habe, betont Fliri, auch eine strategische Komponente. „Die Reliquien wurden dort im Glauben deponiert, um etwa Unwetter abzuhalten. Später, etwa ab dem 17. Jahrhundert, kam dann die archivarische Aufgabe hinzu.“ Das 19. Jahrhundert gilt als geschichtsversessen, man begeisterte sich besonders für das Mittelalter.
Im ganzen Land wurden Zeitkapsel in Kirchturmkugeln gefunden. In Raggal etwa kamen 2017 Schriften von 1805 und später zum Vorschein, in Hittisau Berichte aus den Jahren1834-1845 und 1879. Pfarrer Hubert Ratz: „Auf diese Weise dem Zugriff Unbefugter entzogen (man denke zum Beispiel an die Zensur in diktatorischen Staaten), vermitteln diese Schriften ein zwar vom jeweiligen Pfarrherren persönlich geschriebenes, aber trotzdem aufschlussreiches Bild der jeweiligen Zeit und ihres Geistes.“

Brief aus der Vergangenheit

Im März dieses Jahres war es in Hard soweit. Historisches ist bei Renovierungsarbeiten des Kirchturms ans Tageslicht gekommen. „Der Nachwelt zur Erinnerung“ lautet der Titel eines Briefes vom 14. Oktober 1882, geschrieben in Kurrentschrift, unterzeichnet vom damaligen Pfarrer, dem Ortsvorsteher, dem Küfer sowie dem Ortslehrer und Gemeindearzt.
Der Brief, transkribiert vom Harder Pfarrer Hubert Lenz, beschreibt die damaligen politischen Verhältnisse, wer regiert, wer waltet. Er beginnt mit dem Hinweis auf die herrschenden Autoritäten Papst Leo XIII, Kaiser Franz Josef, Bischof Aichner, Landeshauptmann Graf von Belrupt und andere zeitgenössische Prominenzen. Dann wird über den Bau des neuen Turms ausführlich berichtet. 1882 betrugen die Baukosten zur Renovierung der Kirche 4775 Gulden. Das entsprach damals dem Wert von 34.107 Falschen Bier, 2019 belaufen sich die Kosten zur Außensanierung der Kirche auf 600.000 Euro. Dafür könnte man sich 500.000 Flaschen leisten. Erzählt wird über die Bewohner des Dorfes, 2100 waren es damals, heute sind es knapp 14.000. Von der Anzahl der Kühe ist die Rede, von öffentlichen Gebäuden, von den Kosten für Lebensmittel und dass eben bei einem Schiffsunglück sieben Personen ertranken und der Eisenbahntunnel durch den Arlberg in Angriff genommen wurde.
Mit diesen berührenden Worten endet er: „Und so legen wir denn diese Schrift in den hohlen Raum der über Tal und Berg fern hin schauenden Turmkugel. Welches wird das Jahr oder Jahrhundert sein, wo dieselbe wird ans Tageslicht hervortreten und wieder gelesen wird? Und wie wird es etwa dann um die Welt stehen? Brüderlicher Gruß an jene Bewohner Hards und des gesamten Erdkreises!“
Am 30. Juni 2019 wurde die Zeitkapsel mit einem neuen Brief für die Nachwelt über die Pfarre, die Sanierungsarbeiten, über das Gemeindegeschehen sowie gesellschaftliche und politische Gegebenheiten lokal wie global in der Turmkugel hinterlegt. Nicht weniger rührend wie die seines historischen Vorgängers sind die abschließenden Zeilen: „Euch, die Ihr in unbestimmter Zukunft unsere Zeilen lest, wünschen wir von ganzem Herzen Gottes reicher Segen, seine Kraft, seien Liebe, seinen Mut.“

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