J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Die Fußgänger unter den Fliegen

Februar 2021

Wenn hinter Fliegen Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach.“ Das Rechtschreibprogramm sträubt sich gegen diesen Satz: Da sind zu viele fliegende Fliegen im Spiel. Aber eines ist durch ihn in aller Deutlichkeit klargestellt: Der bevorzugte Fortbewegungsort von Fliegen ist – sofern sie nicht per Anhalter auf einer Kuh reisen – der Luftraum. Anders als (fast) alle anderen Insekten begnügen sie sich dabei mit einem Paar Flügel. Dies hat ihnen den wissenschaftlichen Namen „Diptera“ eingebracht, die Zweiflügler. Ganz verloren haben die Fliegen ihr zweites Flügelpaar aber nicht: Die Hinterflügel sind zu Schwingkölbchen umgebildet worden, den Halteren. Dies sind kleine Keulen, die an einem Stiel seitlich zwischen Vorder- und Hinterkörper des Tiers sitzen. Speziell ihre Basis ist dicht mit Sinneszellen besetzt. Im Flug werden sie gegengleich zu den Flügeln, aber mit derselben Schlagzahl auf und ab bewegt. Bei jeder Richtungsänderung entsteht eine Kraft, die auf die Schwingungsebene der Halteren wirkt. Die Sinneszellen messen diese Kraft – das Tier kann nun auf ungewollte Bewegungen reagieren und jede Störung der Flugrichtung und des Fluggleichgewichts ausgleichen.
Es ist leicht zu merken: Ein Flügelpaar gemeinsam mit einem Paar Schwingkölbchen machen Fliegen unverwechselbar. Soweit die Theorie. Doch dann trudelte das erste Foto eines sehr merkwürdigen Tieres ein: Ein dick walzen- bis spindelförmiger, in einen Vorder- und einen Hinterleib gegliederter Körper und vorne abgesetzt ein verhältnismäßig kleiner Kopf. Sechs behaarte Beine stellten das Tier klar zu den Insekten. Aber Flügel waren nicht zu entdecken. Nachdenklich machten auch die Fundumstände: In Vorarlbergs Bergwelt war das Tier munter über den Schnee spaziert. Doch flügellose Insekten kamen in meiner Vorstellungswelt damals nicht vor. Wo sollte das Tier eingeordnet werden? Und warum hielt es sich in der kalten Winterszeit nicht wie ordentliche Insekten an einem geschützten Ort versteckt? Ratlosigkeit machte sich breit. Am Foto waren nicht alle Details zu erkennen, und das Fehlen der Flügel prägte den Gesamteindruck. Ich zermarterte mein Gehirn: In der Vorlesung nicht aufgepasst, irgendeine flügellose Insektengruppe übersehen? Aber alle Suche quer durch die Insektenwelt half nichts – ich konnte das Tier nicht einordnen. „Bitte ertränke das nächste Exemplar in Spiritus“, lautete der Auftrag an die Finderin. Als dann die Alkoholleiche im Museum eingetroffen war, zeigte ein Blick ins Binokular, was ich am Foto übersehen hatte: Halteren!
 

„Wenn hinter Fliegen Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach.“

Umdenken war angesagt: Es gibt also flügellose Fliegen! Und nun ließ sich auch der generelle Körperbau interpretieren: Schnaken und Stelzmücken sind zwar nicht ganz so dick, aber mit ihrem abgesetzten, viel zu klein wirkenden Kopf durchaus ähnlich. Unter den Stelzmücken wurde ich schließlich fündig: Einzig die Gattung Chionea kann auf Flügel verzichten. Nach ihrem Aufenthaltsort werden diese Tiere pauschal als Schneefliegen bezeichnet. Vier Arten wurden in Österreich nachgewiesen (drei davon in Vorarlberg), eine fünfte kommt in der Schweiz und in Süddeutschland vor und könnte somit auch hierzulande angetroffen werden. Aber es ist fast unmöglich, die Arten anhand äußerer Merkmale zu unterscheiden. Fast alle in der älteren Literatur angeführten Kriterien erwiesen sich letztendlich als unbrauchbar. Für eine sichere Bestimmung auf Art-Niveau müssen die Geschlechtsorgane der Männchen untersucht werden. Die Weibchen von drei österreichischen Arten können überhaupt nur mithilfe ihres „genetischen Fingerabdrucks“ auseinandergehalten werden. Doch das überlasse ich den Fliegen-Spezialisten.
Man hat viel spekuliert, warum die Tiere ihre Hauptaktivität in den Winter verlegt haben. Die plausibelste Erklärung ist das weitgehende Fehlen von Fressfeinden. Mit den niedrigen Temperaturen können die Tiere gut umgehen: Körpereigenes Glycerin wirkt als Frostschutz und lässt sie Temperaturen bis -7 °Celsius leicht überstehen. Aber Flügel sind bei diesen Umweltbedingungen hinderlich. Vielleicht würden die Schneefliegen ja auch gerne fliegen, aber bei Minusgraden ist es unmöglich, die Flugmuskulatur auf Betriebstemperatur zu halten. Die Flügel und die zugehörigen Muskeln wurden daher zurückgebildet. Den freigewordenen Platz nutzt das Weibchen zur Lagerung ihrer Eier. Die Halteren aber werden weiterhin als Sinnesorgane benötigt. Zur Fortbewegung genügen die Beine: Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 1,30 Meter pro Minute können die Tiere über den Schnee wandern.
Bei der Paarung dürfen Schneefliegen nicht wählerisch sein: Es ist schwierig genug, überhaupt einen Partner zu finden. Die Kopulation dauert lange: Zwischen 30 und 70 Minuten hängen die kleineren Männchen an den größeren Weibchen. Sind die Eier erst einmal befruchtet, so werden sie einzeln abgelegt. Bis zu 200 Eier wurden in Chionea-Weibchen gezählt. Die Larven leben unter vermodernden Blättern, die ihnen auch als Nahrung dienen. Im Erwachsenalter nehmen die Schneefliegen keine Nahrung mehr auf, trinken aber gelegentlich Wasser. Ihr Lebenszweck ist nur mehr die Fortpflanzung. Alle vier österreichischen Chio­nea-Arten sind auch in Höhlen anzutreffen. Während eine der Arten dort nachweislich nur im Winter Schutz vor zu tiefen Temperaturen sucht, kann eine andere Art möglicherweise auch permanent höhlenbewohnende Populationen bilden. Eine erfolgreiche Fortpflanzung untertage wurde allerdings noch nicht nachgewiesen.

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