Kathrin Dünser

Von bürgerlichen Amateuren und Müßiggängern

Dezember 2019

Es ist ein sonniger Tag in den Dolomiten. Ein kleines Cabriolet schraubt sich die unbefestigte Gebirgsstraße hinauf. Vom stromlinienförmigen Flitzer sehen wir nur das Heck und eine verkürzte Seite in verlorenem Profil. Den Hintergrund dominieren zerklüftete Felsen in modellierendem Streiflicht. Der Beifahrer trägt eine helle Jacke und eine dazu passende Schildmütze. Er blickt in Fahrtrichtung, was den Eindruck vermittelt, es handle sich um ein Filmstill. Würde man „play“ drücken, wäre der BMW Wartburg bereits um die nächste Kurve verschwunden. Wohin? Jedenfalls lässt der in Segeltuch verschnürte und auf einer Gepäckbrücke montierte Koffer an eine längere Reise denken. Auf den zweiten Blick treten dann die kleinen „Regiefehler“ zutage: Ein fahrendes Auto wäre aufgrund des aufwirbelnden Staubes der unbefestigten Straße unsichtbar und ohne Chauffeur fahruntüchtig. Wer außer dem Wagenlenker hätte den Auslöser betätigen können? Bei der Inszenierung wurde das Augenmerk weniger auf Authentizität als vielmehr auf größtmögliche Wirkung gesetzt. 

Norbert Bertolini (1899–1982) war ein begeisterter Fotograf. Unter den Tausenden von Fotos aus seinem Nachlass, die dank eines aufmerksamen Sammlers vor der Mülldeponie bewahrt und 2017 der Vorarlberger Landesbibliothek übergeben wurden, finden sich ganz unterschiedliche Motive, die das bürgerliche Leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentieren. Die derzeit viel diskutierte „Insta-Lie“ – das Vorgaukeln einer geschönten Realität mithilfe manipulierter Fotos – ist demnach keine Erfindung der Socialmedia-Kanäle, sondern taucht bereits im Fotoalbum des Amateurfotografen und überall dort auf, wo es Menschen möglich war, sich mit ein wenig Fantasie und ein paar gekonnten Handgriffen die Aura des Außergewöhnlichen zu verleihen.
Bemerkenswert war Bertolinis Leben allemal! Als jüngster Sproß einer angesehenen und begüterten Familie in Bregenz geboren, spielte sich seine Kindheit zwischen der Wohnung oberhalb des Manufakturwarengeschäfts Bertolini am Leutbühel und dem Elternhaus seiner Mutter Marie Rhomberg (1870–1913), dem heutigen Stadtmuseum/-archiv, in Dornbirn ab. Mit seinem Bruder Hubert (1897–1916) verbrachte er viel Zeit beim Großvater Theodor Rhomberg (1845–1918), der nach dem Rückzug aus dem aktiven Geschäftsleben seine Tage mit diversen Vereinstätigkeiten füllte und zusammen mit seiner Tochter Marie und den beiden Enkeln seinem liebsten Hobby, der Fotografie, nachging. So kam es, dass Norbert bereits als 13-Jähriger stolzer Besitzer einer eigenen Kamera war, mit der er fortan alles Erinnerungswürdige festhielt: die behütete Kindheit in Kehlegg, die ausgelassene Jugend am Bödele, den Einsatz als Kaiserjäger in Südtirol während des Ersten Weltkriegs, die Junggesellenjahre, seine Hochzeit und darüber hinaus. Bis 1939 schoss Norbert Bertolini unentwegt Bilder, die er auf Papier oder als Stereo-Glasplattendias entwickelte. Kurzum, die erhaltenen Abzüge und Glasplattendias lassen tief eintauchen in die Zeit und geben einen Eindruck davon, wie Norbert Bertolini die Welt sah und vor allem, wie er gesehen werden wollte.
Die Fotografien halten aber nicht nur Privates fest, sondern berichten auch von der durch die Politik beeinflussten Ästhetik und Bildsprache jener Zeit. Sie geben Zeugnis von der langen Tradition der Alpendarstellung und vom Fotografieren als anspruchsvollem und exklusivem Zeitvertreib, der nur einer kleinen Gruppe des gehobenen Bürgertums finanziell möglich war. Sie dokumentieren das Leben der oberen Zehntausend im Werben, Lieben und bei Freizeitaktivitäten wie Sport oder diversen Reisen. Bertolinis Vorliebe für Pferdestärken ermöglicht darüber hinaus einen spannenden Einblick in die Motorisierung des Ländles, die Magie der ersten Motorradrennen und die Begeisterung über die Zähmung der Natur durch den modernen Straßenbau. 

Der fotografische Schatz des kinderlosen Privatiers wurde in den letzten beiden Jahren durch die Vorarlberger Landesbibliothek vollständig digitalisiert und ist über das Vorarlberger Landesrepositorium (www.vorarlberg.at/volare) frei zugänglich. Im Frühjahr 2018 stellte das vorarlberg museum eine erste Auswahl seiner Raumbilder in der Ausstellung „3-D um 1930. Der Fotograf Norbert Bertolini“ der interessierten Öffentlichkeit vor. Seither ist viel passiert, und die Kooperation der beiden Häuser findet in einer kulturwissenschaftlichen Analyse in Form des Sammelbandes „Müßiggänger. Norbert Bertolini, ein Amateurfotograf zwischen den Kriegen“ ihre Fortsetzung. In der von Stefan Gassner gestalteten Publikation wird nicht nur Bertolinis Leben und Schaffen von diversen Autor*innen einer Analyse unterzogen, sondern auch verschiedene Aspekte des Vorarlberger Bürgertums jener Zeit unter die Lupe genommen.

 

 

Norbert Bertolini, ein Amateurfotograf zwischen den Kriegen

Kathrin Dünser, Norbert Schnetzer und Andreas Rudigier (Hg.), vorarlberg museum, Schriften 47

Buchpräsentation
am Mittwoch, den 11. Dezember 2019, um 19 Uhr im großen Veranstaltungssaal des vorarlberg museums, Eintritt frei

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