Angelika Schwarz

* 1975 in Feldkirch, ist Journalistin, studierte Germanistin und Anglistin, langjährige ORF-Redakteurin und -Moderatorin (Radio und Fernsehen). Angelika Schwarz arbeitet in der Unternehmenskommunikation der Landeskrankenhäuser Vorarlberg.

Während du schliefst

April 2021

Zwei Monate lang war Hannes Schönacher „ohne Erinnerung“ – wie er es nennt. Zwei Monate lang ist er, der selbst Intensivpfleger am Landeskrankenhaus Feldkirch ist, nach einem Unfall intensivmedizinisch betreut worden. Zwei Monate lang haben Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Therapeutinnen und Therapeuten, Angehörige und Freunde sein Leben dokumentiert. In einem „Intensivtagebuch“, das nun aufgrund der guten Erfahrungen per Anfang April 2021 ganz offiziell auf der Station eingeführt wird.
Das Intensivtagebuch an sich ist keine neue Erfindung, sondern im deutschen Raum bereits wissenschaftlich auf seine Wirksamkeit hin untersucht worden. „Es unterstützt Patientinnen und Patienten nach dem Intensivaufenthalt bei der Verarbeitung dieser Zeit und hilft auch dabei, Erinnerungslücken zu schließen“, erklären die Initiatorinnen am LKH Feldkirch Maria Brauchle und Magdalena Vogt. „Die gesamte Situation des Aufenthaltes kann im Anschluss besser verstanden und nachvollzogen werden.“ Die beiden Intensivpflegerinnen waren im Team, das sich auch um Hannes Schönacher gekümmert hat: „Wir waren eigentlich erst in der Planungsphase des Tagebuchs. Eine engagierte Kollegin wusste davon und ist an uns herangetreten, ob wir bei Hannes das Tagebuch nicht mal ausprobieren könnten.“ So hat das Team mit den ersten Einträgen für den Verunglückten begonnen. Dieser selbst kann sich nämlich an gar nichts mehr aus dieser Ausnahmezeit erinnern: „Nicht einmal an die Tage vor meinem Unfall“, erzählt er. 
Passiert ist das Unglück bei einer Klettertour in der Schweiz. Hannes Schönacher hat fast 20 Jahre Erfahrung in dem Sport und schon viele Touren gemacht. Am Unglückstag im Juni 2020 sind sein Kletterfreund und er aus rund 15 Meter Höhe über felsiges Gelände abgestürzt: „Ich bin schwer verletzt im Bach liegen geblieben. Mein Kollege, der leichter verletzt war, hat mich über Wasser gehalten. Er konnte nach Hilfe schreien, rund eine halbe Stunde später hat man uns geborgen. Ab diesem Zeitpunkt war ich ohne Bewusstsein.“ Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Blutungen und mehrfache Knochenbrüche haben den Intensivpfleger ans Bett gefesselt: zwei Wochen auf der Intensivstation in Feldkirch, danach auf der Neurologie in Rankweil: „Auch an Rankweil habe ich bis heute keine Erinnerung. Nicht einmal Bruchstücke. Nur durch das Intensivtagebuch weiß ich, wie ich mich in der Zeit verhalten habe, wie es mir körperlich ergangen ist, wie und wann ich Fortschritte gemachte habe. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich offensichtlich bald wieder in der Lage war, blöde Sprüche loszulassen“, lacht Hannes Schönacher. „Es hat also auch amüsante Ereignisse gegeben, und das freut mich besonders.“

Weniger Belastungsstörungen und Ängste

Das Intensivtagebuch kann den Heilungsprozess unterstützen, denn der geht oft weit über den Aufenthalt auf einer Intensivstation hinaus: Die Erfahrungen und mehrere internationale Studien zeigen, dass Symptome von psychischen Belastungen – wie Ängste, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen – durch das Lesen des Tagebuches (bei Patientinnen und Patienten) bzw. durch das Schreiben (bei Angehörigen) reduziert werden. „Natürlich ist keiner im Team oder von den Angehörigen dazu verpflichtet, Tagebucheinträge zu verfassen. Manchmal erlaubt es die Zeit einfach nicht, etwas zu schreiben. Es ist ein Angebot“, erklären Maria Brauchle und Magdalena Vogt. „Und es müssen auch keine handschriftlichen Einträge sein, es können genauso Kinderzeichnungen hineingelegt werden. Angehörige haben auch die Möglichkeit, zu Hause zu schreiben. Manche möchten vielleicht sehr private Ereignisse festhalten und diese erst im Nachhinein ins Intensivtagebuch einheften.“ 
Vorgesehen ist, ein Tagebuch dann anzulegen, wenn die Beatmungsdauer oder Sedierung voraussichtlich mehr als drei Tage dauern wird sowie bei vorübergehender Bewusstlosigkeit. Besonders wenn mit einem längeren Aufenthalt auf Intensiv- und weiterführenden Stationen gerechnet wird – beispielsweise bei Patientinnen und Patienten mit Schädelverletzungen oder mit einem schweren Polytrauma – ist ein Tagebuch sinnvoll.

Kein Teil der Patientenakte

Die Einträge wie auch das gesamte Tagebuch stellen keine Form einer Behandlungsdokumentation im Sinne der gesetzlichen Bestimmungen dar. Diagnosen und medizinische Prognosen unterliegen der Schweigepflicht. Das Intensivtagebuch ist daher nicht Bestandteil der Patientenakte. Die Aufzeichnungen dienen ausschließlich dazu, Erlebnisse und Eindrücke während der Zeit auf der Intensivstation später besser nachvollziehen können. Im Todesfall wird das Tagebuch an die Angehörigen ausgehändigt.
„Ich kenne den Tagesablauf auf einer Intensivstation ja von der anderen Seite schon seit 17 Jahren“, betont Hannes Schönacher. „Selbst einmal zu jenen zu gehören, die intensivmedizinisch betreut werden müssen, ist natürlich eine besondere Erfahrung. Das Tagebuch ist wertvoll für meine Arbeit – allein schon deshalb, weil ich damit auch sämtliche anderen Stationen auf dem Weg zurück ins Leben kennengelernt habe.“ Der Intensivpfleger hat sein Tagebuch selbst weitergeführt, als er dazu in der Lage war, hat seine Erfolge und Übungen während der Reha festgehalten. „Ich bin sehr stur. Ich wollte und will wieder fit werden. Es wird jeden Tag besser. Auch zwischendurch blättere ich das Tagebuch immer wieder durch. Es gibt mir einfach etwas Handfestes, auf das ich zurückgreifen kann. Seit Anfang des Jahres bin ich so weit, dass ich Schritt für Schritt wieder in den Arbeitsprozess im Krankenhaus eingebunden werden kann. Jeden Monat wird es ein bisschen mehr.“ Übrigens – vergangene Woche war Hannes Schönacher zum ersten Mal wieder klettern.

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