J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Wenn wissenschaftliche Namen zum Politikum werden

November 2023

Rötlichbraun, 5-5,5 Millimeter lang, auf der Oberseite kurz und fein, schwer sichtbar behaart, Männchen glänzend, Weibchen etwas matter. Kopf langgestreckt, samt den Mandibeln um die Hälfte länger als breit, etwas schmäler als der Halsschild, die größte Breite weit vorne, die Seiten vollkommen gleichmäßig gerundet, nach rückwärts nicht backenartig erweitert; die Stirnfurchen divergieren rückwärts stark, der Scheitel ist vor dem Halsansatze breit niedergedrückt. […]“ – so begann der österreichische Käfersammler Oskar Scheibel 1937 die Beschreibung einer von ihm als neu erkannten Art. Und weil bereits damals eine Tierart als Fortpflanzungsgemeinschaft definiert wurde und gleichzeitig die Geschlechtsorgane die wirksamste Fortpflanzungsbarriere zwischen zwei Arten bilden, führte er weiters aus: „Penis sehr kräftig, plump, von oben gesehen zur Spitze plötzlich verengt, diese etwas aufgebogen.“ Es sind Details am Penis, die diese Art von allen anderen Vertretern der Käfergattung Anophthalmus unterscheiden. Der Käfer ist blind, denn er lebt ausschließlich in Höhlen – und auch dies nur in Nordslowenien (damals als „Untersteiermark“ bekannt). Bei der Benennung der neuen Art verließ Scheibel die vertrauten Pfade. Neben Eigenschaften und Verbreitungsgebiet als Namensgeber war es schon lange üblich, auch Personen im Artnamen zu ehren. Bis dahin waren dies so gut wie immer Fachkollegen aus dem Umfeld des Forschers (aber so gut wie nie Fachkolleginnen, schlicht, weil damals fast keine Frauen in der Scientific Community zu finden waren), manchmal auch die Entdecker des Tiers oder der Pflanze. Aber eine neue Art nach einem Politiker zu benennen, das war damals absolutes Neuland. Scheibel beschritt diesen Weg und begründete seine Namenswahl „Dem Herrn Reichskanzler Adolf Hitler als Ausdruck meiner Verehrung zugeeignet.“ Unscheinbar klein, braun und blind, und er versteckt sich in Höhlen nahe dem Balkan – wie leicht hätte diese Zueignung auch als Verhöhnung Hitlers aufgefasst werden können. Aber damals wurde diese Publikation wohl nur in Fachkreisen wahrgenommen. Umso bekannter ist Anophthalmus hitleri unter denjenigen merkwürdigen Gestalten, die den „Führer“ noch heute verehren. Deren Bereitschaft, für den „Hitlerkäfer“ Unsummen zu zahlen, hat die Art in ihrem Bestand stark zurückgedrängt. Absurd, dass sich die Wertschätzung für diese Käferart nicht in deren Schutz, sondern in deren Ausrottung niederschlägt. Aber verstehe einer die Neonazis!
Anophthalmus hitleri geistert auch aus einem ganz anderen Grund durch die Medien. Wie soll man mit historisch belasteten Namen wie diesem umgehen? Soll man künftig die Benennung einer neuen Art zu „Ehren“ von Personen außerhalb der Scientific Community überhaupt akzeptieren? Und wo zieht man die Grenzen, ohne an anderer Stelle anzu­ecken? Ist die zwangsweise Latinisierung von Eigennamen noch zeitgemäß, oder könnte sie gar als eine Form von Neokolonialismus aufgefasst werden? „Umbenennen“ ist die am häufigsten vernommene Forderung in Zusammenhang mit dem braunen Minikäfer. Natürlich wäre dies auch innerhalb der strengen nomenklatorischen Regeln möglich. Doch was soll es bringen? Anders als bei der Umbenennung von Straßen wird dadurch der alte Name nicht getilgt. Weiterhin muss er der wissenschaftlichen Korrektheit wegen in Synonymielisten angeführt werden. Und unter den Ewiggestrigen bleibt die Originalpublikation auch in Zukunft bekannt. Wer sie aus den Bibliotheken entfernt sehen möchte, stellt sich auf eine Ebene mit seinen Gegnern und deren Bücherverbrennungen.
Heute beschränken sich die Namenspatrone keineswegs mehr auf das unmittelbare Umfeld der Forscher und Forscherinnen. Mythologische Gestalten waren schon seit jeher zugelassen und beliebt – man denke an Tagfalter wie Argynnis pandora (benannt nach der ersten, von Hephaistos nach den Anweisungen von Zeus geschaffenen Frau). Da ist es nur logisch und konsequent, die Quellen auf das Fantasy-Genre auszuweiten. Agathidium vaderi beispielsweise „ehrt“ Darth Vader aus „Star Wars“, dessen Helm irgendwie dem Käfer ähnlich sein soll. Männer und Frauen aus der Politik, aus der Umweltbewegung oder dem Musikbusiness kommen ebenso als Namensgeber in Frage.
Gänzlich skurril wird es, wenn ein Forscher durch eine politisch überkorrekte Benennung die nomenklatorischen Regeln schlicht ignoriert, um damit mediale Aufmerksamkeit zu erlangen. „Neu entdeckte Ameisenart bekommt geschlechtsneutralen Namen“ lautete im Mai 2021 eine reißerische Schlagzeile. Von wegen geschlechtsneutraler Name! Namenpatron wurde Jeremy Ayers, ein amerikanischer Künstler, der unter anderem in den 1970ern im Umfeld von Andy Warhol aktiv war. Obwohl er sich selbst zeitlebens als homosexuell bezeichnet und damit als Mann definiert hatte, wird er heute als nicht-binäre Persönlichkeit betrachtet, für die eine Kategorisierung in männlich und weiblich nicht möglich ist. Will man aber eine Art als Ayers’ Ameise benennen, so verlangen die lateinischen Grammatikregeln, dass der Person ein klar definiertes Geschlecht zugewiesen wird – Strumigenys ayersi wäre die korrekte männliche (und neutrale) Form gewesen, Strumigenys ayersae die weibliche Variante. Aber der Forscher wollte sich nicht festlegen. Natürlich wäre auch die Ayers’sche Ameise (Strumigenys ayers[i]ana) ein gangbarer Weg gewesen, oder schlicht die Ayers-Ameise (Strumigenys ayers). Aber welche Zeitung hätte dann darüber berichtet? Die Benennung als Strumigenys ayersthey mit einer englischen Endung statt einer lateinischen widerspricht sämtlichen nomenklatorischen Regeln, sicherte aber der Publikation weltweite Aufmerksamkeit. Geschlechtsneutral ist sie dennoch nicht: Strumigenys ist grammatikalisch weiblich!

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