Sabine Barbisch

Wie Sprache entsteht

Mai 2023
Die Sprachentwicklung eines Kindes beginnt schon lange vor dem ersten gesprochenen Wort: Die sprachliche Reise aus Sicht der Logopädie. 

Unsere Sprache beginnt nicht erst mit dem ersten Wort, es ist bekannt, dass bereits ungeborene Babys hören können – sie nehmen die Sprachmelodie bereits im Bauch der Mama wahr. Deshalb sind den Babys vor allem die Stimmen der Eltern schon früh vertraut. „Wenn eine Baby dann auf die Welt kommt, ist es in der Lage, alle Sprachen der Welt zu erlernen. Da es aber dann das Lautinventar – in unserem Fall von Deutsch – hört, schränkt sich sein Fokus darauf ein“, erklärt die Logopädin Melanie Gaßner. 
In der sprachlichen Entwicklung eines Kindes kann man dann aus logopädischer Sicht verschiedene Phasen unterscheiden: So steht am Beginn das „Gurren, Schreien und Lallen“. Erste Laute werden ausprobiert, auch Lautkombinationen kommen dazu. Mit der Zeit beginnt das Baby konkrete Laute zu imitieren, das ist laut der 40-Jährigen im Alter von etwa sieben Monaten der Fall. Um den ersten Geburtstag herum werden erste Wörter erwartet die als solche erkannt werden können. Meist sind das „Mama, Papa, Ball oder Auto – eben jene Wörter, die das Kind am dringensten braucht“. Dann kommen überlichweise mehr und mehr Wörter dazu. Einen sogenannten „Wortschatzspurt“ gebe es bei vielen Kindern vor dem zweiten Geburtstag, wenn Eltern staunen, welche neuen Wörter das Kind jeden Tag spricht. Es folgt das Aneinanderhängen von zwei Wörtern, von Logopäden großzügig als „Zwei-Wort-Satz“ bezeichnet. „Das Kind muss hier noch nicht alle Wörter korrekt aussprechen“, sagt Gaßner. Es folgt die Grammatik, die verschiedenen Wortformen und Flexionen werden geübt. Das Kind lernt, Fragen zu stellen und von Ereignissen zu erzählen. „Mit dem vierten Geburtstag schließlich sollen die Grundzüge der Grammatik erworben sein und alle Laute korrekt gebildet werden“, erklärt die Logopädin, betont aber, dass diese zeitlichen Altersangaben nur als Anhaltspunkt dienen: „Jedes Kind entwickelt sich in einem anderen Tempo. In der Logopädie schauen wir uns die Gesamtentwicklung des Kindes an, um auch die Sprachentwicklung besser einschätzen zu können.“ 

Von Sprache und sprechen
Die Logopädin wurde am AKH Wien ausgebildet, seit 2011 arbeitet sie in Vor­arlberg selbstständig in einer eigenen Praxis sowie an einer Schweizer Schule. Ihre Schwerpunkte sind die Arbeit im Kinderbereich und die Stimmtherapie „Ich bin sehr glücklich in und mit meinem Beruf. Kinder auf ihrem Weg zu begleiten, ist ein wertvolles Privileg. In einer Welt, in der Sprache und sprechen so wichtig sind, unterstützen wir das Kind mit der Logopädie in seinem gesamten sozial-kommunikativen Leben.“
Wie jede kindliche Entwicklung ist eben auch der Spracherwerb eine sehr individuelle Angelegenheit: „Jedes Kind macht seine Entwicklungsschritte in allen Bereichen, sobald es bereit dazu ist“, sagt die Expertin. Als Leitlinie für Eltern, die sich mit der sprachlichen Entwicklung ihres Kindes unsicher sind, nennt sie den Grundsatz, dass eine logopädische Abklärung erfolgen sollte, sobald man sich Sorgen macht, denn „ein Kind nimmt diese sorgenvollen Blicke wahr und beginnt zu spüren, dass etwas mit ihm nicht richtig sein könnte. Hier ist es besser, Klarheit zu schaffen.“ Nach einem Anamnesegespräch und einer erfolgten Abklärung kann eine Logopädin dann einschätzen, ob noch abgewartet werden soll oder ob eine Therapie hilfreich wäre. 
In diesem Zusammenhang klärt Melanie Gaßner über einen häufigen Mythos auf: „Oft denkt man bei Logopädie an einen Aussprachefehler, zum Beispiel, wenn ein Kind statt ‚sch‘ immer ‚s‘ spricht; das Fachgebiet umfasst vom Sprachverstehen über das Kauen, Saugen, Schlucken, die auditive Verarbeitung bis hin zu Wortschatz, Grammatik, Satzbau und Artikulation. Logopäden kümmern sich um das Stottern, Behinderungen, unterstützte Kommunikation und helfen Kindern, die schweigen genauso wie Patienten mit Stimmproblemen, nach Schlaganfällen oder neurologischen Erkrankungen.“
Besteht kein expliziter Handlungsbedarf, rät die Fachfrau „nichts Außergewöhnliches zu machen“, denn Kinder kommen im Regelfall von selbst ins Sprechen: „Das geschieht dadurch, dass die Eltern und Bezugspersonen auf ganz natürliche Weise mit dem Kind im Alltag sprechen. Das Kleinkind wird nicht von Anfang an alles komplett verstehen, was wir sagen, aber durch oftmalige Wiederholungen, die der Alltag natürlicherweise mit sich bringt, werden Wörter abgespeichert und können nach einer gewissen Zeit selbst vom Kind produziert werden.“ 

Ein kritisches Thema
Zur allgemeinen Entwicklung der Logopädie sagt die Expertin, dass Kinder erfreulicherweise zunehmend früher in die Logopädie empfohlen werden. Der Satz „das wächst sich aus“ sei nicht mehr so häufig zu hören wie zu Beginn ihrer Karriere. Es sei auch das allgemeine Bewusstsein für die Logopädie gestiegen. Was sich als Thema deutlich in den Vordergrund dränge, sei der Medienkonsum: „Ich denke, wir können dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nicht ausweichen. Aber ein sorgsamer Umgang mit der Medienwelt ist wichtig. Und dies fällt noch mehr ins Gewicht, wenn ein Kind ohnehin schon Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung hat.“ 
Technische Geräte fordern in den meisten Fällen keine verbale Antwort von den Kindern ein – die Annahme, dass Kinder die Sprache zum Beispiel durch das Fernsehen erlernen, funktioniere nur eingeschränkt und nur bei Kindern, die ein sehr gutes auditives Verarbeitungsmuster aufweisen. Die allermeisten Kinder sind laut Melanie Gaßner überfordert von zu frühem Fernsehkonsum: „Ich bin hier auch deutlich strenger, was gängige Empfehlungen zu Fernsehzeiten angeht. Das kindliche Gehirn kann alleine schon die schnelle Bildabfolge nicht verarbeiten, wie soll es da noch Sprache mitkriegen?“

Zur Person
Melanie Gaßner , *1983, ist in Weiler aufgewachsen und hat ihre Logopädie-Ausbildung am AKH Wien absolviert.
Ihre beruflichen Schwerpunkte liegen im Bereich Kindersprachtherapie und Stimmtherapie. Die Mutter eines siebenjährigen Sohnes arbeitet seit 2011 in einer eigenen Praxis in Feldkirch und an einer Schule in der Schweiz.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.