Klaus Feldkircher

(geb. 1967) lehrt an der FH Vorarlberg, ist als freier Journalist tätig und betreibt das Kommunikationsbüro althaus7. Als Autor, Texter und Konzepter hat er bereits zahlreiche Sachbücher veröffentlicht. Weiters ist er in der Erwachsenenbildung tätig und lehrt Deutsch und Latein an der Schule Riedenburg/Bregenz.

57 Zentimeter Wohn- und Lebenskunst

April 2021

Denn an dieser Adresse befindet sich die schmalste Hausfassade Europas. Heißt es zumindest. Aber einerlei: Eine der kleinsten ist es definitiv. Bemerkenswert: Gerade Wände gibt es hier nicht viele, was die Vermutung nahelegt, dass das Gebäude schon einige Jährchen auf dem Buckel hat.

Lang ist’s her: 1796

Und tatsächlich: Das Gebäude wurde 1796 das erste Mal urkundlich erwähnt. Außerdem bemerkenswert: Das „schmalste Haus Europas“ hat keine eigenen seitlichen Außenmauern, sondern wurde in eine bestehende Baulücke eingefügt. Die Fassade ist zur Kirchstraße hin nur – wie erwähnt – 57 cm breit. Da die Haustür etwas breiter ist, greift sie auf das Nachbarhaus Kirchstraße 31 über. Das Einfügen des Hauses Nr. 29 ist laut Stadtarchiv historisch nicht belegt. Es ist jedenfalls mehr als zweihundert Jahre alt, denn, 1796 erwähnt, gehörte es einem Wachszieher. 1886 ging es in den Besitz der Familie Lang über. Urgroßvater, Großvater und Vater betrieben an dieser Adresse ein Bürstenbinder- und Kinderwagengeschäft, das 1999 geschlossen wurde. Fenster und Haustür in der Fassade Kirchstraße wurden zugemauert, um 2002 jedoch wiederhergestellt.

Open house

Stellt sich nun die Frage: Was verbirgt sich hinter einer dermaßen schmalen Fassade? Alles nur Fake oder doch eine bewohnbare Fläche?
Um diesem Mysterium auf den Grund zu gehen, haben wir uns mit Hausherrn Andreas Gaisberger verabredet. Er öffnet uns die Türe, bittet uns herein und … wir sind überrascht: Die sich zur Kirchstraße hin keilförmig verengende Grundfläche wird Richtung Thalbachgasse breiter und erreicht im hinteren Teil wohnhausübliche Ausmaße. 
Weiteres Detail am Rande: Das Haus wurde in den Jahren 2017 bis 2019 entkernt und von Grund auf saniert. Dabei legte Gaisberger Wert darauf, alte Materialien, wie zum Beispiel die Türen, wieder zu verwenden. Hinter der 57-Zentimeter-Fassade öffnet sich also nun ein weiter Raum, durchsetzt von Säulen, die im Fundament eines modernen Fußbodens aus geschliffenem Estrich ruhen. 

Galerie und Klub 9und20

Um uns herum werden wir umfangen von einer Aura, die sich aus Kunst und Kultur aufbaut. Denn in diesem altehrwürdigen Gemäuer befindet sich seit Kurzem die Galerie 9und20 mit dem dazugehörigen Klub 9und20, der am 29. März diesen Jahres, also mitten in der Pandemie, das Licht der Welt erblickt hat.
Ein Haus, das „schmalste Europas“, ist also Dach für eine neugegründete Kulturinitiative. Oder anders ausgedrückt: Tradition beherbergt nie aus der Mode kommende Innovation. Und so lesen sich auch Programm und Kalender: Von Lorenz Helfer über Marco Spitzar, Helmut King, Isabel Sandner, Linus Barta und viele andere steht das Haus zahlreichen mehr oder weniger bekannten Künstlern und Gästen aus dem In- und Ausland offen.
Zu den Ausstellungräumlichkeiten, die sich von der Kirchstraße bis in die Thalbachgasse ziehen, wo sie in eine zweistöckige Galerie mit verglaster Fassade ausläuft, gesellt sich ein Aufenthaltsraum für Lesungen und andere Events. Übrigens: Die Galerie, 1911 nach den Entwürfen von Otto Mallaun im Jugendstil errichtet, wurde weitestgehend nach den Originalplänen restauriert. So sind Geländer und Klinkerboden bereits über 100 Jahre alt. Weiterer Höhepunkt der gelungenen Revitalisierung: ein Weinkeller, der ebenso zum Fachsimpeln einlädt wie die Galerie als Ganzes.
Das Schönste: Das Haus steht allen Interessierten offen: um Kunst, Kultur und die schmalste Fassade Europas auf sich wirken zu lassen. Aktuelle Ausstellung: Lorenz Helfer.

Öffnungszeiten
siehe Webseite: www.galerie-bregenz.at

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