WALTER HÖMBERG

Walter Hörmberg war Lehrstuhlinhaber für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Bamberg und Eichstätt und hat lange Zeit als Gastprofessor an der Universität Wien gelehrt. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Gegenwart des Journalismus veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Bandes „Ich lass mir nicht den Mund verbieten! Journalisten als Wegbereiter für Pressefreiheit und Demokratie“, der soeben im Reclam Verlag erschienen ist.

Alles hat seine Zeit

Dezember 2019

Das alte Jahr geht zu Ende, ein neues steht vor der Tür. Anlass genug, um über das Thema Zeit nachzudenken – und über den Einfluss der Massenmedien auf unser Zeitbewusstsein.

Die Zeit fließt nicht immer und für alle gleich schnell. Bei monotonen Tätigkeiten kriecht sie wie eine Schnecke, abwechslungsreiche Stunden dagegen können wie im Fluge vergehen. Unangenehme Gefühle, Trauer, Schmerz und Ermüdung bremsen das Erleben des Zeitablaufs. Auch das Warten kann das Zeiterleben verlangsamen. Wie viele (gefühlte) Jahre haben wir schon vor Bahnschranken und roten Ampeln, vor Supermarktkassen oder in Wartezimmern von Ärzten und Ämtern verbracht? Für ältere Menschen läuft die Zeit schneller ab als für jüngere. Wir erinnern uns an die eigene Kindheit: Wie lang war die Zeit von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest! Und mit zunehmendem Alter galoppieren die Jahre …
Die individuellen Unterschiede in der Wahrnehmung der Zeit verlangen nach einer gesellschaftlichen Synchronisierung. Einer der wichtigsten sozialen Zeitgeber in entwickelten Gesellschaften sind die Massenmedien. Um diese These zu entfalten, möchte ich zu einer kurzen Zeitreise in die Geschichte der Medien einladen.
In sogenannten primitiven Gesellschaften stehen die Zeitbezeichnungen noch unverbunden nebeneinander. Es fehlt das Bewusstsein der Folge und der Kontinuität. Erst im Laufe der sozialen Entwicklung wird die zunächst vorherrschende Orientierung an Zeitpunkten erweitert durch eine Orientierung an Zeiträumen. Ähnliches lässt sich auch in der Entwicklung der Medien beobachten.
Die frühen gedruckten Nachrichtenmedien galten primär einzelnen Ereignissen. Neben den Haupt- und Staatsaktionen, den Schlachten und Kriegen, den Niederlagen und Siegen schienen den Verfassern, Herausgebern und Druckern vor allem die Ereignistypen „Katastrophe“, „Menetekel“ und „Mirakel“ nachrichtenwürdig. Die Flugblätter und Flugschriften der beginnenden Neuzeit erschienen sporadisch, fixiert auf aktuelle Anlässe, und ich möchte sie deshalb als Zeitpunkt-Medien bezeichnen.
Diese punktuelle Orientierung änderte sich mit der Einführung der Periodizität. Der Nachrichtenstoff wird jetzt kontinuierlich gesammelt, verarbeitet und weitergegeben. Für die Bezieher und Leser ist damit eine regelmäßige Unterrichtung sichergestellt. Das Zeitpunkt-Medium wird zum Zeitraum-Medium.
Das älteste periodische Druckwerk ist der Kalender. Wenige Medien erreichen so hohe Auflagen. Die Periodizitätsfolgen der Medien wurden bald kürzer: So ist schon am Ende des 16. Jahrhunderts eine Monatsschrift nachgewiesen. Kurz darauf erschienen dann wöchentliche Zeitungen, und nur wenig später kam in Leipzig das erste Tagblatt heraus. Aus sozialen und aus wirtschaftlichen Gründen waren immer mehr Menschen auf regelmäßige, verlässliche und schnelle Information angewiesen. Die periodische Erscheinungsweise war ein wichtiges Instrument der Kommunikationsrationalisierung.
Die periodischen Veröffentlichungen repräsentieren ein zyklisches Zeitbewusstsein. Die Folgen entsprechen dabei im Wesentlichen den Zyklen der astronomischen Zeit: Jahr, Monat, Tag – diese Zeiteinheiten folgen der Bewegung der Himmelskörper, konkret: von Erde, Mond und Sonne. Und die Medien sind die gesellschaftlichen Zeitmesser.
In unserem Kulturkreis hat das zyklische Zeitbewusstsein schon früh Konkurrenz erhalten durch lineare Zeitvorstellungen. Am deutlichsten zeigt sich dies in der industriellen Revolution. Benjamin Franklin hat es auf den Punkt gebracht: „Zeit ist Geld“ – damit war die neue Leitformel der Moderne geboren. Und die Zeitungen und Zeitschriften taten alles, um diese Formel populär zu machen.
Seit Einführung der Periodizität verändert sich das Aktualitätsverständnis immer mehr in Richtung der Erscheinungsintervalle. Heute ist nichts so alt wie die Zeitung von gestern. Mit den Telemedien Hörfunk und Fernsehen haben wir inzwischen längst die Gleichzeitigkeit erreicht. Über die Periodizität hinaus hat sich eine neue Dimension der Medienzeit aufgetan: die Simultaneität.
Die Simultanmedien setzen besonders nachdrücklich Zeitmarken in unserem Alltag. Sie strukturieren den Tageslauf und synchronisieren die Medienzuwendung. Sie sind aber nicht nur Zeitmesser, sondern vor allem auch Zeitfresser. Fast neun Stunden wenden sich die Österreicher durchschnittlich jeden Tag den Massenmedien zu. Der Löwenanteil entfällt auf die elektronischen und digitalen Medien, wobei das Internet und die Mobilkommunikation in den letzten Jahren die größten Zuwächse erzielt haben. Wenn man die Nutzungszeiten hochrechnet, dann verbringt der Durchschnittsbürger rund 30 Jahre seines Lebens mit Medienkonsum.
Mit ihren unterschiedlichen Erscheinungsintervallen gliedern die Massenmedien den Tag, den Monat, die Woche, das Jahr. Und sie beeinflussen unsere Wahrnehmung: Film und Fernsehen stehen unter dem Diktat der Bewegung. Der schnelle Reizwechsel durch Raum- und Zeitsprünge, die unvermittelte Aufeinanderfolge von Schwenks, Zooms und Kamerafahrten, von Schuss und Gegenschuss, von Totale und Ausschnitt – all dies vermittelt den Eindruck rasanter Dynamik. 
Mit dem Zerfall des Fortschrittskonsenses wurden allerdings zunehmend gegenläufige Zeitkonzepte propagiert: etwa die ruhende Zeit der Meditation, wie sie in asiatischen Religionen beheimatet ist, oder die „Entdeckung der Langsamkeit“ als ästhetisches Programm, wie es im gleichnamigen Roman von Stan Nadolny und in manchen Büchern Peter Handkes zum Ausdruck kommt. Für die Durchlauferhitzer-Dramaturgie der Audiovision kann man sich keine größere Provokation denken als Andy Warhols Film „Sleep“, der sechs Stunden lang nichts anderes zeigt als einen schlafenden Mann.
Auch Psychologen, Pädagogen und Philosophen wenden sich heute immer mehr gegen die Gleichsetzung von Schnelligkeit und Fortschritt. Zeitökologie statt Zeitökonomie heißt die Devise. Selbst Kurse zum Zeitmanagement empfehlen inzwischen die Langsamkeit als Heilmittel gegen den Geschwindigkeitsrausch und die Sucht, Zeit zu sparen. In Klagenfurt wurde sogar ein „Verein zur Verzögerung der Zeit “gegründet. 
Wie auch immer sich die Zeitvorstellungen wandeln – bis heute hat für viele Menschen die alte Regel aus den Oden des Horaz Gültigkeit: Carpe diem – pflücke den Tag! Erich Kästner hat es so formuliert: „Denkt ans fünfte Gebot: Schlagt eure Zeit nicht tot!“

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