Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Als ginge es nur mehr um die Abwehr des Bösen!“

März 2016

Der Wiener Heinz Zourek (65), langjähriger EU-Spitzenbeamter, kritisiert im „Thema Vorarlberg“-Interview hiesige Massenmedien und Politiker, ärgert sich über mangelnde Solidarität in Europa – und wundert sich über Menschen, die die Vorteile der Globalisierung als selbstverständlich hinnehmen, die Globalisierung gleichzeitig aber als Bedrohung darstellen. TTIP? „Ist die letzte Chance, eine Dominanz der Chinesen noch zu verhindern.“

Zwei Jahrzehnte nach dem Beitritt sehen die Österreicher die EU immer noch mit Skepsis. Warum ist das so?

Dafür gibt es mehrere Ursachen. Die Europäische Union befindet sich zur Zeit in der schwersten Krise ihres Bestehens, wegen der enormen Herausforderung durch die Flüchtlinge – aber auch, weil die lang andauernde Finanz- und Wirtschaftskrise in der Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen hat. Die meisten Österreicher sehen die Europäische Union nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems. Zudem herrscht in Österreich die grundsätzlich skeptische Stimmung, sich als Teil eines Größeren verstehen zu wollen. Die Österreicher sehen sich eher in einer Sonderrolle. Und die Art und Weise, wie Politik und Medien Aktivitäten auf europäischer Ebene darstellen, verstärkt diese ohnehin schon skeptische Grundstimmung. Den österreichischen Massenmedien zufolge ist das Ausland ja entweder bedrohlich – oder, sagen wir es vorsichtig, geistig eher minderbemittelt.
 

Auf der Jagd nach Stimmen oder Lesern punkten österreichische Politiker und Medien mit dem Feindbild Brüssel …

Sie punkten mit dem Feindbild – oder mit dem Aufbauen unrealistischer Erwartungen. Es ist nicht wirklich verinnerlicht worden, wie man sich als Teil eines größeren Orchesters am besten positionieren soll. Österreich stand lange mit dem Rücken zum Eisernen Vorhang, hatte dadurch eine besondere Brückenfunktion zwischen Westen und Osten, hat sich stets auch selbst angehimmelt, wie fortschrittlich das Land doch sei, in der Umweltpolitik beispielsweise. Österreich hatte das Selbstbildnis, sich als Vorreiter in manchen Bereichen zu sehen, war aber immer indigniert, wenn andere Länder nicht gleich in Ehrfurcht erstarrt sind. Das war so – und das ist immer noch so.

Wie werden die Österreicher in Brüssel gesehen?

Wenn die Österreicher in Brüssel überhaupt wahrgenommen werden, dann sehr häufig mit dem Nimbus, ein bisschen ein Sonderling zu sein – ein Sonderling, der sich sehr lange still und konstruktiv verhält, dann aber plötzlich mit massiven Kampagnen kommt. Es gibt immer ein, zwei Themen, die in Österreich medial oder politisch ganz massiv aufgeladen werden, die in Brüssel aber kaum im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Propagieren die Österreicher dann diese Themen, wundert man sich in Brüssel entsprechend. Und noch ein besonderer Umstand kommt zum Tragen: Österreichische Anliegen werden kaum jemals in einer Gruppe präsentiert, in der gleich betroffene oder gleich interessierte Staaten vereint sind. Andere Länder machen das, Österreich nicht. Andere Staaten bringen Themen in einer Gruppe Gleichgesinnter breiter auf, Österreich macht das alleine, in einer Kampagne. Und das bei allen möglichen Themen, bei Verbraucherschutzthemen, im Straßentransit, im Umweltschutzbereich. Österreich sieht sich entweder in einer Opferrolle – in der man sagt, man könne nicht die Lasten aller übernehmen – oder in einer Bekehrer-Rolle, in der man den anderen Staaten die Welt erklären möchte …

Für Österreich ist die EU faktisch eine ökonomische Erfolgsgeschichte, emotional aber ein Feindbild. Das ist eigentlich bizarr.

Die Wirtschaftsforschung zeigt in allen ihren Untersuchungen und Studien, in welch unglaublichem Ausmaß die österreichische Volkswirtschaft vom EU-Beitritt des Landes profitiert hat, in welchem Ausmaß Einkommen und Wohlstand gestiegen sind. Österreichs Wirtschaft hat die sich bietenden Chancen genutzt, hat sich geschickt und erfolgreich positioniert. Trotz allem dient Brüssel als Feindbild. Nun steht es jedem Volk frei, zu sagen, ob man Teil eines Größeren sein will oder nicht – obwohl die Annahme, dass ein Zusammenschluss schlecht sei, gegen die Evidenz steht, dass es viel einfacher ist, sich weltweit als große Gruppe zu behaupten. Mich stört da etwas anderes …

Das da wäre?

Die Art, die Globalisierung als Bedrohung darzustellen, gleichzeitig aber alle Vorteile der Globalisierung als selbstverständlich hinzunehmen. Ich bitte Sie, das nicht falsch zu verstehen: Natürlich kann man die Globalisierung auch kritisch sehen, man kann beispielsweise die Frage stellen, ob es vernünftig ist, dass unsere Kinder gar nicht mehr wissen, dass es so etwas wie Saisonen für Obst und Gemüse gibt, weil heutzutage alles überall immer verfügbar ist. Aber diese Unausgewogenheit, dass man die Vorteile der Globalisierung sofort einsteckt, aber ansonsten dann sagt, man sei ein Leidtragender, das ist eine eigenartige Optik. Das ist kein spezielles österreichisches Phänomen, wie die Brexit-Kampagne in England zeigt, die ja auch mit recht läppischen Argumenten geführt wird. Aber hierzulande kommt diese Unausgewogenheit mit einer zum Teil sehr virulenten Ignoranz zum Ausdruck.

Österreich, das Land der Raunzer und Nörgler …

Auch das, ja. Aber es gibt auch eine traumatische Erfahrung, damals, aus der Zeit, als ÖVP und FPÖ das erste Mal eine Regierung gebildet hatten und sich das EU-Ausland in einer Art und Weise eingemischt hat, die als unerträglich empfunden wurde. Das schuf eine entsprechende Grundstimmung, die in Teilen bis heute nachwirkt. Es kommt aber auch etwas anderes zum Tragen: Der EU-Beitritt war eine Wohltat. Wohltaten aber werden stets nur kurze Zeit als solche empfunden. In diesem Sinne ist auch die EU-Mitgliedschaft Österreichs zu sehen: Neuerungen und Vorteile wurden rasch zur Selbstverständlichkeit, die offenen Grenzen, der Euro. Erst jetzt erleben die Menschen wieder, was Grenzkontrollen bedeuten! Jetzt sind die Menschen fassungslos, wenn sie wegen Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze im Stau stecken! Früher waren Grenzkontrollen Alltag. Man vergisst nur so schnell …

Apropos Grenzkontrollen: Wer in der Flüchtlingsfrage auf Solidarität in Europa hofft, wird enttäuscht.

Das stimmt. Es gibt auch keine andere Bezeichnung dafür: Es ist eine Enttäuschung. Es wurden auch lange die Augen vor der Realität verschlossen: Solange Flüchtlinge nur in Lampedusa gelandet sind, hat man gesagt, das sei zwar bitter, aber man müsse zur Tagesordnung übergehen. Hunderte ertranken, nichts änderte sich. Und als dann auch noch die Finanzierung für den Betrieb der Flüchtlingslager in der Türkei gekürzt wurde, hat man sich gewundert, dass sich Menschen, die nicht mehr versorgt werden konnten, auf den Weg gemacht haben! In Österreich und in anderen Staaten ist ja erst dann die Aufregung groß geworden, als die Menschen auf einmal an den Grenzen gestanden sind.

Wie wird in Brüssel die österreichische Festlegung auf die Obergrenze gewertet?

Das Thema wird sehr kontrovers diskutiert. Es gibt aber mehr und mehr Stimmen, die sagen, man könne die Last nicht nur auf zwei, drei Staaten verteilen. Man kann nicht hergehen und sagen, alle Flüchtlinge müssen in Deutschland, Österreich und Schweden untergebracht werden, und der Rest der Staaten dreht dem praktisch den Rücken zu. Nur ist das Wiedererrichten von Grenzen nichts anderes als die Einladung an Kriminelle, sich als Schlepper zu verdingen. Das ist keine Lösung. Was hat man denn davon, wenn tausende Menschen mit ihren Kindern im Niemandsland leben müssen? Was soll das, zu sagen, wir nehmen nur 80 Anträge pro Tag, und der Rest, der kann jahrelang dort stehen? Die Grenzschließung ist eine Verzweiflungstat, weil man zu keiner rationalen Lösung gefunden hat, die gemeinsam getragen wird! Es ist diese Art von Kurzsichtigkeit, dass sich Europa nicht dazu durchringt, einen gemeinsamen Plan zu machen.

Österreichs Weg der Obergrenze sei rechtswidrig, meint die EU-Kommission. Und das erbost wiederum einen Großteil der österreichischen Bevölkerung …

Ich bin kein Jurist. Aber für mich liegt die Lösung auch nicht in einer juristischen Analyse und einem Rechtsstreit, sondern in einem politischen Ansatz. Wenn ein Land sagt, es könne alleine nicht all die Probleme bewältigen, während der Rest der Staaten tatenlos bleibt, dann mag das vielleicht ein Verstoß gegen irgendeine Vorschrift sein. Aber der rechtliche Ansatz ist nicht derjenige, der eine Antwort gibt, es ist eine politische Frage, die es zu lösen gilt. Wir müssen zu einem gemeinsamen Weg finden! Denn bislang gibt es kein In­strumentarium zur Lösung eines solchen Falles. Als der Binnenmarkt konstruiert wurde, hat kein Mensch jemals damit gerechnet, dass sich eines Tages hunderttausende Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen …

Bleibt es eine utopische Vorstellung, dass Europa in großen Fragen geeint auftritt?

Ich hoffe, dass es keine Utopie bleibt, sondern Realität wird. Weil es keine Alternative gibt, wenn man nicht einen sehr schmerzvollen Weg gehen und einen hohen Preis zahlen möchte. Aber wahrscheinlich muss man sich da zuerst einmal der Risiken und der Alternativszenarien bewusst werden, bevor man zu einer positiven Energie und Dynamik kommt. Die entscheidende Frage ist, wann die Erkenntnis reifen wird, dass die Zeiten definitiv vorbei sind, in denen man alleine gehen kann …

Apropos Alleingang: Warum sind in Öster­reich die Vorbehalte gegen TTIP so groß?

Das Freihandelsabkommen ist zu einem Bild geworden ist, das alles Übel und alle Bedrohungen vereint. Da geht es nicht mehr um eine Abwägung von Alternativszenarien. Es wird so getan, als ginge es nur mehr um die Abwehr des Bösen! Das erschwert eine sachliche Debatte immens. Man kann ja dem Freihandelsabkommen oder einzelnen Elementen des Abkommens kritisch gegenüberstehen, man kann auch das Abkommen zur Gänze ablehnen oder es befürworten – aber nur aus richtigen Überlegungen heraus! Es muss die Frage erörtert werden, ob die Möglichkeit genutzt werden soll, zwei Ökonomien mit einem einigermaßen vergleichbaren Entwicklungsstand, die ihre Bevölkerung vor bestimmten Risiken schützen wollen, als Eisbrecher, als Leitgruppe zu definieren! Es geht um die Frage, ob wir bestimmen wollen oder ob wir bestimmt werden wollen – von außerhalb unserer Einflusssphäre, beispielsweise von China.

Was stört Sie an der Art und Weise, wie diskutiert wird?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Die Unterschiede im Verbraucherschutz zwischen Europa und den USA werden in einer Art und Weise karikiert, die jeder Realität widersprechen. Denn die Anliegen der USA und der EU sind dieselben: Dass die Verbraucher nicht geschädigt werden, wenn sie etwas essen oder trinken. Die Intention ist auf beiden Seiten dieselbe! Nur sind die Wege dorthin unterschiedlich. Nehmen wir Maul- und Klauenseuche, um das Gesagte zu illus­trieren. Tritt in Europa ein Fall auf, wird der betreffende Betrieb sofort unter Quarantäne gestellt, um ein Übergreifen des Erregers zu verhindern. In den USA wird der gesamte Tierbestand von vornherein gegen Maul- und Klauenseuche geimpft. Quarantäne im Anlassfall in Europa oder prophylaktische Impfung in den USA: Beide Wege sind möglich, beide führen zum Erfolg. Das trifft auch auf das vielzitierte Chlorhuhn zu: Jeder Veterinär wird Ihnen sagen, dass die US-Methode eine wunderbare Methode zur Bekämpfung von Bakterien ist. Es geht also nicht darum, zu debattieren, ob das Schutzniveau gesenkt werden muss; es geht um die Frage, wie man diese unterschiedlichen Ansätze zusammenbringt. Eine solche Diskussion möchte ich gerne haben und nicht eine, in der man unterstellt, dass die USA uns ja sowieso nur vergiften möchten, und auch noch so tut, als würden in unseren Schlachthöfen die Tiere zu Tode gestreichelt.

Und wie lautet Ihr Fazit?

Auch wenn die Dynamik in China jetzt nachgelassen hat, ändert das nichts an der Ausgangssituation: Entweder die USA und die EU setzen noch gemeinsam Standards, oder wir müssen in einer halben Generation nehmen, was uns China vorsetzt. TTIP ist die letzte Chance, eine Dominanz der Chinesen noch zu verhindern!

Vielen Dank für das Gespräch!

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