Aus den Fängen der Pfadabhängigkeit
… oder wie wir neue Lösungen für den gesellschaftlichen Wandel erträumen können.
Es war das Jahr 1867, in dem der Buchdrucker und Journalist Christopher Latham eine primitive Schreibmaschine entwickelte. Seine Erfindung hatte aber zunächst einen Haken: Die Typenhebel, die die Buchstaben auf Papier brachten, blockierten sich immer wechselseitig. Nach sechs langen Jahren und zahllosen Prototypen kam der Erfinder auf eine Lösung: Häufig genutzte Buchstaben platzierte er auf der Tastatur weit entfernt voneinander, um das Blockaderisiko zu minimieren. Her-aus kam dadurch die QWERTZ-Folge.
Rund 50 Jahre später patentierte der Psychologe August Dvorak das DSK-Keyboard. Diese Tastatur hatte eine intuitive Tastenfolge und versprach dadurch ein bis zu 40 Prozent schnelleres Tippen. Dvorak kam aber zu spät. Den Siegeszug der QWERTZ-Tastatur konnte er nicht mehr aufhalten.
Auch heute, wo es schon lange keine mechanischen Hebel auf der Tastatur mehr gibt, die verklemmen könnten, ist die QWERTZ-Folge auf allen Geräten Standard. Eine damals aus technischen Gründen logische Entscheidung führte dazu, dass wir heute immer noch 40 Prozent langsamer tippen, als wir das eigentlich könnten. Aus heutiger Sicht hat sich also ein suboptimales System etabliert und konnte von einer eigentlich besseren Erfindung nicht mehr verdrängt werden.
Solche QWERTZ-Welten gibt es überall. „Sie zeigen, dass Entscheidungen für einen Zeitpunkt in der Vergangenheit zwar logisch sind, aber die Fülle aus Entscheidungen in der Gegenwart reduziert. QWERTZ-Welten sind behäbige und ineffiziente Systeme“, bringt es Benedikt Fechner, Experte für digitale Innovationen, auf den Punkt.
Warum wir heute immer noch suboptimal tippen, erklärt das Konzept der Pfadabhängigkeit. Eine solche führt dazu, dass ein Ereignis oder eine Entwicklung durch vergangene Ereignisse und Entwicklungen geprägt und begrenzt wird. Dadurch wird der Status quo stabilisiert oder gar zementiert. Entscheidungen aus der Vergangenheit bestimmen also die Richtung, in die sich etwas zukünftig bewegen wird.
Und genau an diesem Punkt wird es über die Tastatur hinaus interessant. Denn solche Pfadabhängigkeiten finden wir eben nicht nur bei technischen Entwicklungen, sondern auch in Organisationen, Unternehmen, Institutionen, Märkten, gesellschaftlichen Bereichen oder der Gesellschaft als Ganzem. Diese Einsicht verdanken wir dem Wirtschaftswissenschaftler Douglass North und er wiederum verdankt dieser Einsicht einen Nobelpreis.
North konnte zeigen, dass Pfadabhängigkeiten den institutionellen und gesellschaftlichen Wandel erschweren können. Anders formuliert es der Soziologie Armin Nassehi: Gesellschaften seien träge und könnten mit der Dynamik der Dinge nicht aktiv umgehen.
Wie aber kommt es überhaupt zu Pfadabhängigkeiten?
Grob gesagt stabilisieren – in einem wertfreien Sinne – vier Mechanismen diese Pfade der Entwicklung. Einerseits bauen funktionalistische Ansätze darauf, dass es in jeder Organisation oder der Gesellschaft als Ganzem unzählige wechselseitige Abhängigkeiten gibt. Veränderungen in einem Bereich schlagen Wellen in andere Bereiche. Und dadurch, dass sich ein solcher Wandel eben nicht einhegen lässt, steigt die Widerstandskraft gegen eine Veränderung.
Wenn dann auch noch Statusgruppen an Macht oder Einfluss verlieren sollten, wird die Veränderungsresistenz noch stärker. Hier geht es wohlgemerkt nicht nur um finanzielle Macht, sondern zum Beispiel auch um soziale Macht, Wissens- oder Kompetenzvorsprünge.
Zwei weitere Mechanismen konzentrieren sich vor allem auf die möglichen Vor- und Nachteile bestehender oder neuer Verfahren. Während eine legitimationsbasierte Herangehensweise an die Überlegenheit des bisherigen Verfahrens glaubt – Vorsicht vor dem Satz „Das war doch immer schon erfolgreich“ – und damit bisherige Verfahrensweisen wiederholt, verstehen utilitaristische Mechanismen Veränderungsprozesse als Kosten-Nutzen-Abwägungen. Das geht dann so: Die Einführung neuer Prozesse, Strukturen oder Handlungsweisen verursacht zunächst Mehrkosten und zwingt Spezialistinnen und Spezialisten dazu, Neues zu lernen. Das erzeugt offensichtlich Widerstand und führt dazu, dass es bequemer ist, bei den alten Lösungen zu bleiben, auch wenn sie nicht mehr zeitgemäß sind.
Und was bedeutet das für Gesellschaft und Transformation?
Zugegeben, es ist nicht leicht, neue Wege zu beschreiten, um Veränderungen in Organisationen oder der Gesellschaft als Ganzem zu bewirken. Das hat einen einfachen erkenntnistheoretischen Grund: Wir schauen auf die Welt mit den alten, wohl bekannten und scheinbar bewährten Begriffen, Kategorien und Schubladen. Das gibt uns Sicherheit.
Gesellschaftliche Routinen sind träge, Handlungs- und Reaktionsmuster erwartbar, das Verhalten bestimmter Gruppen habitualisiert und gesellschaftliche Konflikte institutionalisiert. Mit dieser Diagnose erklärt Armin Nassehi die fehlende Veränderungsbereitschaft. Aber, und daran möchte ich anschließen, er sagt auch: „Ich glaube, es bringt nichts, wenn wir uns wechselseitig Trägheit oder Aufbruch vorwerfen. Es geht um die viel weiter reichende Frage, wie sich Pfadabhängigkeiten ändern lassen.“
Die oben genannten Barrieren und die Trägheit sind harte Nüsse. Das gilt sowohl für Organisationen als auch für die Gesellschaft als Ganzes. Denn zur Haupteigenschaft des Neuen gehört vor allem, dass es nicht so recht in die alten Schablonen passen will.
Also, wie kommen wir da wieder raus?
Wären wir alle auf der sprichwörtlichen grünen Wiese, wäre Neuentwicklung nur kompliziert, in bestehenden Strukturen wird sie allerdings komplex. Wie können wir innerhalb von Routinen unsere Routinen verändern? Wie können wir mit den systemeigenen Mitteln die eigenen Möglichkeiten erweitern? In Organisationen und in der Gesellschaft?
Zunächst müssen wir uns wohl trauen, innerhalb des Bekannten Experimente durchzuführen und damit soziale und institutionelle Innovationen genauso zu fördern, wie die Köpfe, die diese Innovationen entwickeln und leben sollen. Dazu gehören einerseits Mut und andererseits das Schaffen von sicheren Räumen, in denen Menschen und Gruppen agieren können. Dabei ist es wichtig, das Grundprinzip von Experimenten „Versuch und Irrtum“ zu stärken, um der Komplexität von gesellschaftlicher Transformation begegnen zu können.
Das geht beispielsweise im Rahmen von Planspielen oder dem Austesten neuer Regeln in einer zeitlichen und/oder räumlichen Dimension. Menschen und Gruppen erhalten so ein Gefühl für die Machbarkeit von sozialen und institutionellen Innovationen.
Wie das funktionieren kann, dazu gibt es eine Vielzahl an Beratungsliteratur und -praxis. Ich möchte den Fokus aber auf ein anderes Konzept setzen, das sich ausdrücklich die Frage stellt, wie das Neue in die Welt kommt und wie wir es schaffen können, Möglichkeitsräume zu öffnen, die uns bisher verschlossen waren, beziehungsweise die wir einfach nicht gesehen haben, und wie wir neue, ganz andere Pfade öffnen können.
Imagineering ist eine solche Methode. Sowohl der Satz „Alles könnte ganz anders sein“ als auch die Feststellung von Jörg Metelmann und Harald Welzer als Proponenten, dass es keinen Masterplan für die Moderne gibt, stehen am Anfang dieses Konzepts: „Wir brauchen daher Zukunftsbilder, die die Lebensqualität in einer nachhaltigen Moderne vorstellbar machen und die Veränderung der gegenwärtigen Praxis attraktiv und nicht abschreckend erscheinen lassen“. Ohne solche Zukunftsbilder lasse sich keine eine gestaltende Politik denken: „Wenn Politik und Zivilgesellschaft wie Kaninchen vor der Schlange ausschließlich auf die Bewahrung eines fragiler werdenden Status quo fixiert sind, verlieren sie die Fähigkeit, sich auf ein anderes Ziel zuzubewegen“.
Imagineering setzt darauf, dass unsere Vorstellungskraft die Zukunft formt. In dieser Vorstellung erschaffen wir systematisch Bilder von wünschenswerten Zukünften. Die Konzentration gilt also dem Ziel und nicht dem Pfad. Und wer den Pfad noch nicht kennt, tappt weniger in die Falle sich auf ausgetrampelten Pfaden wiederzufinden.
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