Herbert Sausgruber

Das offene Wir – Identität, die nicht vom Feindbild lebt

Dezember 2019

Von Toleranz, Integration und Populismus

Das Wir-Gefühl, die Zugehörigkeit, die Identität ist eine Quelle von Motivation und Solidarität in jeder Gemeinschaft. Als Gegengewicht zu globalen Entwicklungen in Technik und Wirtschaft ist die Stärkung des regionalen Gedankens, der gewachsenen Identität wichtig, kleiner Gemeinschaften, humaner Werte, sonst werden wir die auf uns zukommenden Veränderungen nicht gut verkraften. 
Identitäten sind häufig, aber nicht immer kleine überblickbare Gemeinschaften, sozusagen Welten, in denen man lebt und sich überwiegend wohl fühlt. Man wird in sie hinein geboren oder wählt sie frei. Die einseitige Betonung der sachbezogenen Vernunft unterschätzt die Bedeutung des Wir-Gefühls, der Zusammengehörigkeit und der Verwurzelung sowie von Symbolen und symbolischen Handlungen bei der Beeinflussung von Denken, Fühlen und Verhalten. Legitimation durch sachliche Problemlösung kann die Entwicklung von Identität und emotionalem Bezug auf Dauer nicht ersetzen.
Symbole der Gemeinschaft sind keineswegs nur die ausdrücklichen Staatssymbole, sondern alles, was Träger des Wir-Gefühls sein kann – wie Sprache, Landschaft, Personen, Werte, Eigenschaften, Orte, Ereignisse, Feste und Rituale, gemeinsame Erinnerungen und Ziele.
Es geht nicht nur um staatliche Veranstaltungen, Ehrungen oder sportliche Anlässe, sondern um die Struktur der Repräsentation der Gemeinschaft an sich. Die Pflege des Gemeinsamen, des guten Miteinanders, von Zugehörigkeit, Geborgenheit, Einbindung und Heimat entspricht einem tiefen Bedürfnis als Gegengewicht zur Anonymität, Atomisierung, Einsamkeit, erlebter Härte und Kälte von Rationalität und Effizienz. Globale Mobilität und Veränderungsgeschwindigkeit durch technische Entwicklungen machen Orientierung schwer und hinterlassen ein Gefühl der ohnmächtigen Fremdbestimmung. Es gibt vielfältige Identitäten von Familien, Gesinnungsgemeinschaften, Berufs-, Firmen-, Gemeinde- und regionalen Zugehörigkeiten und ebenso viele Begriffe von den Anderen, nicht zum „Wir“ gehörenden Außenstehenden, Fremden.
Der reife Umgang mit Anderen, Fremden ist das offene Wir, die Identität, die auf eigener Stärke beruht und nicht auf der Abwertung des Anderen (Feindbild). Die Pflege der Identitäten muss mit einer Atmosphäre der Offenheit und des Respekts gegenüber den Anderen verbunden werden.
Das Wir-Gefühl hat für Gemeinschaften große Bedeutung und ist mit dem Selbstwertgefühl des Einzelnen vergleichbar. Identität ist Voraussetzung der praktischen Fähigkeit zur Toleranz.
Die Europäische Union hat trotz beachtlicher identitätsbildender Fortschritte bei den vier Freiheiten, dem Fallen von Grenzbalken und der Währung nach wie vor ein Defizit an Identität. Es gibt wenige Anlässe und Rituale und deutlich zu wenig Persönlichkeiten, die mit der Union identifiziert werden. Identifikation mit einem Gremium, einer Institution ist viel schwerer als mit einer Persönlichkeit, die die Institution vertritt. Die Reform des Ratsvorsitzes geht in die richtige Richtung, sollte aber vor allem im praktischen Auftritt ausgebaut werden.

Die Pflege der Identitäten muss mit einer Atmosphäre der Offenheit und des Respekts gegenüber den Anderen verbunden werden.

Toleranz

Toleranz ist ein wesentlicher Wert für ein gutes Miteinander in einer Gemeinschaft. Toleranz hängt eng mit Respekt gegenüber jedem Menschen zusammen. Mit beliebiger Nachgiebigkeit oder Aufgabe der eigenen Werte und Identität hat Toleranz nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Kraft zur Toleranz setzt selbstbewusste Identität, Stolz auf den Eigenwert und die eigene Tradition und Stärke voraus. Daraus wächst die Fähigkeit, das Fremde nicht als Bedrohung (ängstlich) abzuwehren, sondern es zu respektieren und auch die positiven Seiten zu sehen.
Eine klare Grenze ist unabhängig von Staatsbürgerschaft und Herkunft jenen gegenüber zu ziehen, die sich intolerant verhalten oder Intoleranz propagieren. Ein großes Missverständnis von Toleranz ist das Nichtwahrhabenwollen von Unterschieden und Konflikten. Die innere Unwahrheit dieser oft wohlmeinenden Haltung macht wesentliche Unterschiede zur Bagatelle und ebnet alles bis zur Wurstigkeit ohne Bedeutung ein, unter Umständen auch wichtige Elemente der eigenen Identität.
Nach dieser Auffassung ist alles mehr oder weniger gleich und damit egal. Im Ergebnis kann dieses Übersehen von Unterschieden und Konflikten zum Erstarken von Emotionen der feindlichen Abwehr der Anderen, Fremden führen und damit zum Gegenteil selbstbewusster Toleranz. Die oft gute Absicht oberflächlicher Harmonie und Unterschiedslosigkeit heilt nicht alles.

Integration

Die offene Identität ist eine wichtige Grundlage der Integration von Migranten. Zur Integration gehört neben Kenntnis der Sprache und dem Willen zur Teilnahme an der Gemeinschaft beidseitige Identität und nicht deren Aufgabe. Es ist falsch verstandene Toleranz, wenn beispielsweise Pädagogen Weihnachtsfeiern und Nikolausfeiern nicht mehr so benennen wollen. Toleranz ist nicht Aufgabe von Identität und Unterschied, sondern respektvoller Umgang mit dem Unterschied, ohne dabei den Blick für das, was gemeinsam ist, zu verlieren.
Die Pflege der Identität von Migranten darf die Bildung eines gemeinsamen Gemeinde- oder Staatsbewusstseins nicht stören und keine Elemente einer Parallelgesellschaft entwickeln. Für den Erfolg der Integration ist Integrationswille der Mehrheitsgesellschaft und der Migranten notwendig. Gemeinsame Schule und Kindergarten sind zum Beispiel wichtige Elemente der Integration. Trennung in eigene Gruppen und Klassen oder eigene Schulen und Kindergärten sind aus dieser Sicht problematisch, allenfalls vorübergehende Notlösungen.
Integrieren heißt nicht assimilieren (Aufgabe jeder Identität), setzt aber Anpassungsleistungen voraus. Freiheit und Toleranz bewegen sich in einem nicht verhandelbaren Rahmen von Verfassung und rechtstaatlicher Ordnung, der gegenüber jedem unabhängig von Staatsbürgerschaft und Herkunft gilt. Dieser weite Rahmen, der viele Freiheiten zulässt, enthält Elemente, die leider umstritten sind und daher glaubwürdig und robust vertreten und durchgesetzt werden müssen (etwa Gewaltmonopol des Staates, Respekt gegenüber Demokratie und rechtstaatlicher Ordnung, Gleichberechtigung der Frau).
Wesentliche Elemente der Integration sind neben Wohnung und Sprache, Möglichkeit und Wille zu Arbeit, zu Bildung und zur Teilhabe an der Gesellschaft.

Ein großes Missverständnis von Toleranz ist das Nichtwahrhabenwollen von Unterschieden und Konflikten.

Populismus

Die Stimmung in Gemeinschaften wird stark von einfachen Bildern und Bedürfnissen geprägt, die rasche Erfüllung erwarten. Juristische oder finanzielle Unmöglichkeit oder sonstige Widersprüchlichkeiten interessieren viele nicht. Gefühle sind oft stärker als differenziertes logisches Denken. Einfache Lösungen sind gefragt und werden gern geglaubt, wenn sie gekonnt behauptet werden.
Nicht jede Emotion in der Politik ist populistisch. Ohne Stimmung gibt es in der Regel zu wenig Stimmen. Nach meiner Erfahrung braucht es positive Emotion, die weit davon entfernt ist, Populismus zu sein. Das Ansprechen von Gefühlen ist legitim und notwendig. Auch nicht jeder Mandatar, der verspricht, was er nicht halten kann, handelt populistisch. Es mag verantwortungsarm und moralisch problematisch sein, aber es ist (noch) nicht populistisch. Im Übrigen ist auch nicht jede Polemik, die vom eigenen Anspruch auf Wahrheit und moralisch guter Position ausgeht, Populismus. Der Anspruch, das (einzig) Richtige zu tun und zu fordern, ist als das entscheidende Kriterium ebenfalls nicht geeignet.
Der Wesenskern und damit das entscheidende Unterscheidungsmerkmal der Grenzüberschreitung ist die pauschale, systematische, respektlose und aggressive Abwertung „der Anderen“, die nicht der Vorstellung des „geschlossenen Wir“ entsprechen, nicht dazugehören und zu Sündenbock und zum Feindbild gemacht werden.
Das ist etwas völlig Verschiedenes von begründeter Kritik. Im Populismus verliert Kritik nicht nur die Kraft zur Differenzierung, sie lebt von der Abwertung anderer und wird damit zur Jagd. Wenn man das Anpassen an die jeweilige populäre Stimmung, das unzulässige Vereinfachen und das Versprechen des Unerfüllbaren als Populismus bezeichnet, verharmlost man das Wesen des Populismus, die Grenzüberschreitung der respektlosen, systematischen Abwertung der Anderen und die damit verbundene Feindbildproduktion.
In der Praxis ist der erste erkennbare Schritt zur Grenzüberschreitung die Sprache. Der systematische, pauschale, respektlose Entzug nicht nur von Kompetenz, sondern auch von Integrität, in extremen Fällen auch das Absprechen von menschlichen Eigenschaften (beispielsweise „Ungeziefer“) gegenüber ganzen Gruppen signalisiert die Überschreitung der Schwelle.
Die Gruppe „der Anderen“ kann jede Gruppe unter uns oder weit weg sein (beispielsweise Flüchtlinge, Zuwanderer, der Islam, Juden, Christen). Häufig sind es „die da oben“ (etwa Elite, Politiker, Reiche, Konzerne, die EU), die Anderen können aber auch das Nachbarland sein. Die von Populisten benutzte Gruppe „der Anderen“ muss lediglich als Sündenbock oder Feindbildobjekt glaubwürdig für die entscheidende „Wir“-Gruppe funktionieren.
Wie bei jeder Deformierung von Denk- und Verhaltensmustern gibt es auch bei Populismus Grade der Intensität, Mischformen und Entwicklungsstadien und das Tarnen und Täuschen zur Vernebelung. Der systematische Aufbau von Feindbild im Sinne der Abwertung von Personen oder Gruppen ist ungut und gefährlich. Der Weg von Feindbild zu Hass (und zur Gewalt zumindest Einzelner) ist nicht so weit, wie manche meinen und die Abläufe sind nicht immer steuerbar. Die Vorbereitung zum Feindbild ist häufig mit der diskriminierenden sprachlichen Abwertung von Personen oder Gruppen verbunden. Es ist ein großer Unterschied, ob ein sachbezogener, begrenzter Konflikt hart ausgetragen wird oder ob man Menschen oder Gruppen respektlos abwertet und damit Feindschaft und Hass den Boden bereitet. Die Wahl der Worte verrät Haltungen.

 

Im Populismus verliert Kritik nicht nur die Kraft zur Differenzierung, sie lebt von der Abwertung anderer und wird damit zur Jagd.

Hier sind Grenzen des freien Wortes zu ziehen. Weil ein Regierungsmitglied nicht bereit war, der Aufforderung zur Korrektur eines derartigen sprachlichen Exzesses nachzukommen, wurde auf Landesebene die Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ 2009 beendet.
Eine etwas zahmere, aber keineswegs harmlose Version der Verwendung von negativen Emotionen zu politischen Zwecken ist der Sündenbock. Dafür eignet sich alles, was sich außerhalb der eigenen prägenden Identität bewegt, etwa das Fremde oder die nächst-größere politische Einheit. Ohne echtes Fehlverhalten des Angesprochenen ist das Auslösen dieses Mechanismus ein ernster Missbrauch. Bei Fehlverhalten, etwa Übergriffen, ist Gegenwehr natürlich zulässig.
Bei Kritik an der Union hat diese Unterscheidung Bedeutung, weil die Verfestigung oft unbegründeter Sündenbockpraxis die notwendige Weiterentwicklung der Union mangels breiter Zustimmung hemmen kann.
Etwas völlig anderes als Produktion von Feindbild oder Sündenbock zu politischen Zwecken ist die Abwehr ungerechtfertigter Angriffe. Bei Angriff auf Werte oder Interessen der Gemeinschaft ist ein Konflikt entschlossen und konsequent auszutragen. Beim begrenzten Konflikt sollte es nach Möglichkeit bleiben. Gegner müssen nicht Feinde werden. Auch der Kampf zur Verteidigung schafft Identität. Darauf muss man nicht verzichten, wenn es die Situation verlangt. Das wirksamste Mittel gegen Populismus ist eine handlungsfähige politische Mitte, die Probleme, die viele bewegen, erkennt, sich um Lösungen kümmert, Perspektiven bietet und damit die Zahl derer, die sich ungeschützt, übergangen und vergessen fühlen, gering hält. Breite Akzeptanz der Verhältnisse entzieht dem Populismus Nahrung. Handlungsfähigkeit setzt im notwendigen Umfang das Überwiegen des Gemeinsamen über das Trennende und bei einer Mehrheit der Mandatare Fähigkeit und Willen zur praktischen Zusammenarbeit für die Lösung der entscheidenden Probleme voraus. In der Bevölkerung braucht es dafür ein ausreichendes Maß an aufmerksamer Beteiligung und die Akzeptanz von Kompromissen. Man muss gute Führung auch möglich machen, seriöser Führung eine Chance geben.
Eine mögliche und häufig angewandte Strategie ist die Abschottung, gestützt auf grundsätzliche Argumente, vernünftige Hinweise auf die Gefahren und moralische Appelle. Diese Strategie kann bei großer Stärke der politischen Mitte zum Beispiel bei absoluter Mehrheit oder belastungsfähigem Konsens von Parteien, die in Summe eine Mehrheit bilden, zumindest vorübergehend eine erfolgreiche Option sein. Der Konsens zur Abschottung steht aber unter ständigem Druck des Wettbewerbs um Zustimmung der Wähler für alle beteiligten Gruppen und ist so stark wie das schwächste Glied. Diese Strategie allein genügt nicht.
Ein weiterer Ansatz ist Aufmerksamkeit bei Sprache und Handlungen und öffentliche Grenzziehung bei jeder Form pauschaler, systematischer, respektloser Abwertung von Gruppen, um das öffentliche Bewusstsein der Grenzüberschreitung wachzuhalten.

 

Der Artikel „Das offene Wir“ ist Herbert Sausgrubers Publikation „Verdichtete Erinnerungen. Grundlagen erfolgreicher Gemeinschaften – ein Einblick in 30 Jahre politischer Erfahrung“ entnommen. Herausgeber der Publikation ist das Institut für Föderalismus, Innsbruck. Unter www.foederalismus.at sind die „Verdichteten Erinnerungen“ in ihrer Gesamtheit nachzulesen.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.