Dem Leben auf der Spur
Achtsamkeit liegt im Trend. Sie ist jedoch keine triviale Entspannungstechnik, sondern schafft ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit.
Als der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn in den 1980er-Jahren seinen Kollegen an der medizinischen Fakultät von Massachusetts vorschlug, Meditationsübungen und achtsames Yoga zur Behandlung von chronisch kranken Patienten einzusetzen, hielten sich die Begeisterungsstürme in Grenzen. Fernöstliche Praktiken galten damals als exotische Nachwehen der Hippiebewegung und nicht für die medizinische Praxis geeignet. Doch sein ausgezeichneter Ruf als Wissenschaftler ließ die führenden Ärzte nicht an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. So gelang es, ein standardisiertes Programm zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion zu etablieren und eine nachhaltige Forschung zu betreiben. Heute ist Achtsamkeit in aller Munde und wird als Wundermittel gegen Stress, Burnout und Depressionen gepriesen. Doch was steckt wirklich dahinter? Verbirgt sich hinter dem Achtsamkeitstrend eine ernsthafte Anregung, unser Leben zu verändern, ein Tool zur Selbstoptimierung, oder ist das Ganze nur ein esoterischer Schnickschnack? Sehen wir uns die wissenschaftlichen Ergebnisse an, dann steht eines fest: Achtsamkeit wirkt. Eine Vielzahl an Studien belegt die positiven Effekte einer regelmäßigen Meditationspraxis auf Geist und Körper bis hin zu anhaltenden strukturellen Veränderungen des Gehirns. Dies weckt Begehrlichkeiten. Mittlerweile findet die Achtsamkeit nicht nur im privaten oder klinischen Kontext ihre Anwendung, auch militärische Organisationen, Sportmannschaften und Unternehmen schwören auf die stille Revolution in unserem Geist. Während die Wirkkraft der Achtsamkeit immer mehr Menschen bekannt wird, sind die philosophischen Wurzeln nur den wenigsten geläufig. Der Ursprung der Achtsamkeit liegt in den existenziellen Lehren des Buddhismus. Die meditative Praxis ist dabei ein wesentlicher Bestandteil des edlen achtfachen Pfades, der lehrt, uns von Verblendungen zu befreien und unser Leid zu überwinden, das sich von den großen Tragödien bis zu den alltäglichen Unannehmlichkeiten des Lebens erstreckt. Achtsamkeit ist weder eine triviale Entspannungstechnik noch ein spiritueller Freifahrtschein ins Glück, sie ist vielmehr eine Seinsweise, in der wir auf offene und nicht wertende Art präsent sind und jeden Augenblick so wahrnehmen, wie er sich uns zeigt. Achtsamkeit kann als Weg beschrieben werden, der uns zur Wachheit führt und eine größere Vertrautheit mit den inneren Landschaften unseres Lebens hervorbringt. Indem wir die Funktionsweisen unseres Geistes erforschen, lösen sich allmählich Gewohnheiten und Verhaltensmuster auf, und ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit entsteht.
Der deutsche Philosoph Martin Heidegger erläuterte in seinem „Humanismusbrief“, dass sich die Wahrheit ereigne und nicht durch das begriffliche Denken erschließen lasse. Wahrheit entfaltet sich somit im Hier und Jetzt als Ergebnis eines ganzheitlichen Prozesses aus körperlichen, geistigen und emotionalen Phänomenen. Die Sehnsucht nach dieser unmittelbaren Erfahrung speist sich aus dem Wunsch, das Leben auf eine ursprüngliche Weise zu empfinden und nicht nur gedanklich zu durchdringen. „Die Große Kommunion ist der Augenblick, wenn das Außen vor der Sonne eines Innen wegschmilzt oder wenn das ganze Außen sich verwandelt in ein strahlendes Innen“, schreibt der deutsche Schriftsteller Rüdiger Safranski. Diese große Vereinigung, die Einheit von Bewusstsein und Sein, erfahren wir als tiefe Lebendigkeit, die sich dann einzustellen beginnt, wenn wir in einer Sache völlig aufgehen. In der Philosophie des Westens tendieren wir dazu, Erkenntnis auf einer rein verstandesmäßigen theoretischen Analyse zu erlangen. Im Buddhismus hingegen führt der Weg zur Einsicht über die unmittelbare kontemplative Erkenntnis der Natur des Geistes. Diese meditative Innenschau ist jedoch kein Wellness-Urlaub an malerischen Stränden, wie uns die Werbebilder suggerieren. Die Beschäftigung mit unserem Geist führt zu intensiven Momenten der Öffnung, in denen nicht nur angenehme Gefühle und Empfindungen zum Vorschein kommen, sondern auch die dunkelsten Ecken unseres Innenlebens ausgeleuchtet werden. In einer vernetzten Welt der kollektiven Erregung ist der Rückzug in die Kontemplation meist keine Erlösung, sondern eine Herausforderung mit Foltercharakter. In einer Phase, in der die Reize der Außenwelt auf ein Minimum reduziert sind, finden wir uns in einem Erfahrungsraum ohne Unterhaltungsangebote und sofort verfügbaren Ablenkungsoptionen wieder. Das kann bizarre Handlungen zur Folge haben, wie ein Experiment des Psychologen Timothy Wilson von der Universität Virginia zeigt. Dabei begaben sich die Probanden in einen kahlen Raum und wurden aufgefordert, sich auf einen Stuhl zu setzen und nichts zu tun. Eine scheinbar einfache Aufgabe. Die Teilnehmer hatten nun die Wahl zwischen 15 Minuten einfach nur dazusitzen oder sich selbst per Knopfdruck einen unangenehmen Elektroschock zu verpassen. Was passierte? Zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen entschieden sich lieber für den schmerzhaften Stromschlag als für das vermeintliche Nichtstun. Wir sind in unserer modernen Medienwelt schon derart auf emotionale Höhen und Tiefen konditioniert, dass wir den Weg der rechten Mitte für wenig attraktiv befinden. Wir lassen uns lieber vom Spektakel des Höher-Schneller-Weiter verzaubern, das sich in der Ansammlung von Rekorden, Konsumgütern und Auswahloptionen erschöpft. Der Steigerungslogik der Moderne setzt die Achtsamkeit das Prinzip der Resonanz entgegen. Indem wir neue Formen des Selbstbezuges aufbauen, verändern sich unser Verhältnis zur Welt und das soziale Umfeld, in dem wir leben. Ohne Liebe, Achtung und Wertschätzung, formuliert der Soziologe Hartmut Rosa, bleibe der Draht zur Welt, bleiben die Resonanzachsen starr und stumm. Die Verbindung zur Welt beginnt erst dann zu vibrieren, wenn wir uns aufgehoben fühlen, Sinn in dem erfahren, was ist, und uns durch unsere Beziehungen zu Menschen oder anderen Lebewesen, zu Aufgaben, Ideen oder Dingen berühren lassen.
Für jene, die sich näher mit der Achtsamkeitspraxis beschäftigen, mag die buddhistische Auffassung, ein „festes und kontinuierliches Ich“ existiere nicht, zu Irritationen führen. Unser Selbst, wie auch die moderne Gehirnforschung zeigt, ist nichts Stabiles, das irgendwo in unserem Körper oder Geist verortet werden kann. Es sei, wie der deutsche Philosoph und Neurowissenschaftler Thomas Metzinger schreibt, das Produkt einer sich laufend erneuernden Simulation unseres Gehirns. Die Unwissenheit über die Beschaffenheit der Welt, zu der die Identifikation mit dem Ich gehört, führt nach buddhistischer Lehre zu Gier, Hass und Missgunst, die wiederum Leid verursachen. Daher gilt es, die feste Beziehung zu unserem Selbstbild zu lockern und gewöhnliche Vorstellungen loszulassen. Diese Herangehensweise lässt sich aber nur schwer mit unseren gesellschaftlichen Verhaltensauffälligkeiten vereinbaren, in denen Hyperindividualisierung und Selbstdarstellung bis an die Grenzen der Verdaulichkeit getrieben werden. Was wir unter einer starken Persönlichkeit verstehen, ist nicht selten die Übersteigerung des Egos, verbunden mit einer zurechtgestutzten Definition von Erfolg, der sich aus Status, Ruhm und materiellem Reichtum generiert. Hingegen gelten menschliche Qualitäten wie Selbstlosigkeit, Güte und Mitgefühl als wenig erstrebenswert. Sie wollen ganz einfach nicht in eine Kultur der Oberfläche passen, in der das Streben nach Anerkennung und die Pflege persönlicher Eitelkeiten den Vorgaben bildlicher Inszenierung folgen. Natürliche Stärke ist jedoch fern von Egozentrismus und Geltungssucht. In einer meditativen Praxis geht es nicht darum, sein persönliches Glückskonto zu füllen, sondern der Realität des Daseins mit all ihren Täuschungen und Verblendungen ins Auge zu blicken. Doch was versprechen sich nun Unternehmen von der Achtsamkeit? Einer der bekanntesten Konzerne, die auf die Achtsamkeit setzen, ist der High-Tech-Gigant Google. Unter dem Motto „Richte die Suchmaschine nach innen statt nach außen“, entwickelte der Google-Ingenieur Chade-Meng Tan, der auf die Programmierung des menschlichen Geistes spezialisiert ist, ein siebenwöchiges Achtsamkeitstraining namens „Search Inside Yourself“. Neben ganz pragmatischen Zielen wie Reduktion von Fehlzeiten, Steigerung der Leistungsfähigkeit und Verbesserung des Arbeitsklimas soll das Programm auch den Weltfrieden sichern, so die Vision aus dem Silicon Valley. Und es wäre nicht Google, hätte es aus den hehren Motiven kein Geschäftsmodell gebastelt. Mit den Programmen werden nicht nur Achtsamkeitspraktiken verkauft, sondern gleich einige Ideologien mitgeliefert, die das Unternehmen als moralische Institution bewerben, die weiß, was für Menschen gut ist und was nicht. Ein ambitionierter Abnehmer ist das deutsche Unternehmen SAP. Der Software-Spezialist hat das Achtsamkeitsprogramm von Google vor Jahren implementiert und bereits mehrere tausend Mitarbeiter damit geschult. Dabei seien alle Werte bei der Vermittlung von Sinn, Fokus und Kreativität gestiegen, so ein Achtsamkeitstrainer von SAP. Die Achtsamkeit ist in der Konzernwelt angekommen, keine Frage. Doch scheinen sich Zugänge und Erwartungen erheblich voneinander zu unterscheiden. Zu glauben, Achtsamkeitspraxis produziere ausschließlich zufriedene Menschen, die benebelt von ihrer Glückseligkeit jeder innerbetrieblichen Stresskultur mit einem Lächeln entgegensehen, ist ein Irrtum. Möglicherweise fördert eine tiefgehende Introspektion persönliche Einsichten zu Tage, die so gar nicht mit den Ausrichtungen eines Unternehmens vereinbar sind. Mitarbeiter könnten das Unternehmen verlassen, gängige Praktiken in Frage stellen, Veränderungen einfordern. Wenn Unternehmen sich dieser Verantwortung bewusst sind und dem Unerwarteten mit Offenheit begegnen, können sich völlig neue Entwicklungspotenziale ergeben. Es wäre eine Chance, sich von eingefahrenen Denkmustern zu lösen und gemeinsam neue Formen des Arbeitens und Wirtschaftens zu entwickeln, die den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden.
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