Über Tradition
Die gewöhnliche Rede von der Tradition bezieht sich heute meist auf das Überlieferte, auf den Inhalt einer kommunikativen Handlung, dessen Quellen weit in die Zeit zurückreichen. Seltener wird mit Tradition der Überlieferungsvorgang an sich verstanden, die Art und Weise, wie die Weitergabe von Erfahrungen und Wissen vonstattengeht. Doch erst in der Zusammenschau dieser Aspekte lässt sich das breite Spektrum dessen begreifen, was wir als Tradition bezeichnen.
Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Tradition in diesem ganzheitlichen Sinne besitzt. Er ist nicht darauf angewiesen, ständig von Neuem zu beginnen, er trägt den Schatz vieler Generationen in sich. Traditionen wirken in uns, ob wir dies bewusst wahrnehmen oder nicht, ob wir darauf stolz sind oder uns dagegen auflehnen. Die Kulturen, in denen wir leben, sind Ergebnisse von Überlieferungen, von weitergegebenem Wissen, das sich über viele Jahre und Jahrhunderte hinweg mit Informationen anreichert, teils verschüttet ist und in Riten oder kulturellen Gesten wiederbelebt wird. Sie sind Leitfäden, an denen sich Menschen ihre Identitäten konstruieren, Zugehörigkeiten erfahren und sich vor dem Fall ins Bodenlose bewahren. Die Rückbesinnung auf das, was war und in Zukunft Gültigkeit haben soll, ist mit dem Streben nach Orientierung und Sicherheit verbunden, der Suche nach Geborgenheit und Sinn, dem Glauben an ein Ordnungsprinzip, das dem Leben innewohnt und keinen Moden und Trends unterworfen ist.
Was wären wir ohne das Leben unserer Vorfahren, ohne das Bewusstsein vieler Generationen vor uns, das uns als Projektionsfläche durch den Schleier der Wirklichkeit entgegenscheint? Was wären wir ohne die Geschichten und Erzählungen, ohne unseren Glauben und Aberglauben, ohne unsere Bande und Verstrickungen? Wir wären zur Freiheit verdammt, wie es der französische Philosoph Jean-Paul Sartre etwas überspitzt ausdrückt. Einer absoluten Freiheit, verstanden als ein Kappen aller Verbindungen, ein ständiger Neuanfang, ein ewiges Ringen um sich selbst. Traditionen nehmen uns etwas von dieser existenziellen Last, weisen darauf hin, dass wir in ein System von Ursache und Wirkung eingebunden sind, uns als Teil eines größeren Ganzen erfahren, das die eigene Person transzendiert.
Im Spannungsfeld
Jeder Tradition ist es eigen, dass sie sich im Spannungsfeld zwischen Rückwärtsgewandtheit und Moderne, zwischen Konservatismus und Revolution bewegt und somit Stoff bietet für politische Kontroversen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Traditionen als Wegweiser für zukünftige Generationen geraten in Händen radikaler Modernitätsverweigerer zu Instrumenten, mit dem alles Neue unter dem Schein des Anrüchigen und Bedrohlichen zur Beobachtung steht. In den Fängen euphorisierter Fortschrittsfanatiker jedoch, die nur das Morgen im Sinn haben und das Althergebrachte als überholt ansehen, werden Traditionen zu Allegorien der Rückständigkeit, die es zu zerstören gilt. Durch eine ausgewogene Betrachtung von Traditionen sind wir gefordert, im gemeinsamen Austausch zu bestimmen, was wir verändern wollen und was es zu bewahren gilt.
Will eine Gesellschaft Bestand haben, braucht es ein bestimmtes Maß an Ausgewogenheit und Harmonie. So bemerkt der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann: „Gesellschaften, die einseitig das Bewahren betonen, drohen zu erstarren, das Immergleiche zu reproduzieren und an einem Mangel an Bewegungsfähigkeit zu scheitern; Gesellschaften, die nur noch auf Veränderung setzen, laufen Gefahr, auseinanderzufallen und sich zu fragmentieren.“ Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet von Umbrüchen, von Veränderungen, die im Eiltempo Kulturen erfassen und über Jahrhunderte hinweg Gewachsenes entwurzeln. Es mag uns nicht verwundern, dass mit diesen Disruptionen Ängste verbunden sind, da sie die Macht besitzen, den Kern unserer Existenz auszuhöhlen und unsere Vergangenheit, unsere individuelle wie gemeinsame Geschichte infrage zu stellen.
Zwischen den Fronten
Menschen, die Traditionen leben, stehen nicht selten zwischen den Fronten polarisierender Aufmerksamkeiten. Von den einen als Ewiggestrige verunglimpft, von den anderen als edle Ritter der Kulturbewahrung geadelt. Doch Tradition ist weder den einen noch den anderen vorbehalten. Sie ist lebendige Geschichte, an der wir alle teilhaben, ist Menschwerdung im Fluss der Veränderung und ständige Erneuerung. Der unauflösliche Zusammenhang von Vergangenheit und Zukunft, die Verknüpfung von Altem und Neuem im Akt der Überlieferung, bilden das unsichtbare Band, an dem unser gemeinsames Schicksal hängt. Ein Schicksal, das bestimmt ist durch Annahme und Aufbegehren, durch Glaube und Zweifel, durch Leidenschaft und Verdammnis.
Gibt es gute und schlechte Traditionen? Durchaus. Wir haben einiges an Traditionen abgeschüttelt, die mit unserer humanistischen Gesinnung nicht vereinbar sind. Und wir haben einiges aus den zerstörerischen Flammen der Zeit gerettet. Doch die Bewertung, welche Tradition es Wert ist, gepflegt zu werden und welche verworfen werden soll, können wir nur aus dem Bewusstsein unseres Gewordenseins, also unserer Tradition formulieren. Somit sind die Entscheidungen, die wir treffen, die logische Konsequenz aus der kulturellen Bedingtheit unseres Daseins, ein Ergebnis traditioneller Werte, die wir durch willkürlich initiierte Prozesse der Übereinkunft durch die Zeit hinweg zu diesen gemacht haben. Es ist das Privileg der Lebenden, vor allem der jungen Generationen, das Wahrgenommene als etwas Einzigartiges, nie Dagewesenes und nie Wiederkehrendes einzuordnen und somit dem persönlichen Leben etwas vom Glanz der Exklusivität zu verleihen. Der Gedanke, mit uns beginne ein neuer Akt der Schöpfung, verliert jedoch viel an seiner Überzeugungskraft, wenn wir merken, dass die persönliche Erfahrung ebenfalls Tradition hat, eine Geschichte, eine Struktur, und je älter wir werden, desto stärker nehmen wir das Prinzip der Wiederkehr war. Die jugendliche Empörung weicht der Erkenntnis, dass es kaum etwas gibt, das nicht schon auf die eine oder andere Art gedacht oder infrage gestellt worden ist. Die wahrnehmbare Kulmination von Einstellungen, die bewusst gegen Traditionen gerichtet sind, hat weniger mit der Erstarkung revolutionärer Gesinnung zu tun als mehr mit den praktischen Veränderungen in unserer Lebenswelt. Die Globalisierung führt zu Annäherungen, die zwar Vielfalt fordert, jedoch Gleichheit konstruiert. Dadurch wird es immer schwieriger, Differenzierungen zu verorten und diese positiv zu konnotieren.
Von der Sehnsucht
Da wir als Menschen sowohl durch rationale als auch durch emotionale Aspekte bestimmt sind, sprechen uns die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften ebenso an wie die Weisheiten alter Völker. Denn diese besitzen die Fähigkeit, uns zu rühren und uns mit Sehnsucht nach uns selbst und unseren Ursprüngen zu erfüllen. Es sind die Geschichten alter Traditionen, die unsere Vorstellungen anregen, viel mehr als dies Zahlen und Fakten, Tabellen und Statistiken tun können, die uns als Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis präsentiert werden. Wir brauchen den Zauber der Welt, der sich in alten Mythen offenbart, wir brauchen die Geschichten und Erzählungen, mit ihrem Pathos und ihrer Überschwänglichkeit, denn sie zeigen uns, wer wir sind, wer wir sein könnten und welche Möglichkeiten in uns stecken. Vernunft und mythisches Denken, Wissen und Glaube sind in unserem Leben eng miteinander verbunden. Sie sind zwei Seiten einer Medaille, zwei Denkweisen, mit denen wir uns die Welt erschließen. Wie sagte die amerikanische Schriftstellerin Muriel Rukeyser so treffend: „Das Universum ist aus Geschichten gemacht, nicht aus Atomen.“ Traditionen sind Brücken, die diese Geschichten miteinander verbinden, und sie bringen uns zur Kenntnis, dass nichts aus sich selbst heraus besteht.
Die Hörbranzer Fronleichnamsschützen
In seinem neuen Fotobuch widmet sich der Kommunikationsdesigner und Autor Thomas Metzler am Beispiel der Hörbranzer Fronleichnamsschützen einer Tradition, die sich über Jahrhunderte hinweg als fester Bestandteil des kulturellen Lebens in der Region etabliert hat. Die Kompanie ist in ihrer Zusammensetzung, Größe und Ausrichtung ein weltweit einzigartiges Beispiel für die Verbindung von christlichem Glauben, kulturellem Brauchtum und militärischer Verbundenheit. Im Mittelpunkt des zeitgenössischen Fotobandes stehen die Porträts der Männer, die durch ihr Auftreten das Erbe ihrer Vorfahren hochhalten und ihren Glauben zum Ausdruck bringen, ergänzt durch Interviews, Aufnahmen der Ausrückungen und historischen Darstellungen. Als traditionelle Vereinigung befinden sich die Fronleichnamsschützen jedoch im Spannungsfeld gegensätzlicher Ansichten. Daher bietet das Fotobuch auch eine dokumentarisch-künstlerische Annäherung, die Fragen nach Wirksamkeit, Bedeutung und Zukunftsfähigkeit christlicher Rituale stellt, in einer Zeit des Wandels, in der das katholische Erbe immer mehr an gesellschaftlichem Einfluss verliert.
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