Peter Melichar

Historiker „vorarlberg museum“

Flohmarkt der Werte

Februar 2019

Das Land Vorarlberg ist bislang vieles, aber noch keine Ware. Wozu braucht es dann eine dazugehörige Marke? Vorarlberg ist vielfältig und vielgestaltig, es hat Geschichte, Gegenwart und hoffentlich eine Zukunft. Es besteht aus Landschaft, Wirtschaft, vor allem aber aus vielen sehr unterschiedlichen Menschen, die hier leben, arbeiten und hier sterben. Und es gibt zwischen all diesen Elementen viele Zusammenhänge privater, rechtlicher, wirtschaftlicher und sonstiger Natur. Der Versuch des Landes Vorarlberg, eine Marke zu entwickeln, bietet Gelegenheit, nachzudenken, was dahintersteckt. Aus dem Alltag weiß man, was eine Marke für Konsumenten bedeutet. Man meint, die Marken zu kennen und ist angezogen oder fühlt sich abgestoßen. Eine Marke kann das Gebrauchsgut, das mit ihr bezeichnet wird, auf- oder abwerten. Ein Ding ganz ohne Marke ist weniger sichtbar und weniger wert. Firmen versuchen daher, eine Marke zu entwickeln, die über die Nützlichkeit des Produktes hinaus eine Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte der Konsumentinnen und Konsumenten bietet – samt Verheißung umfassender Erfüllung. Funktioniert die Marke gut, zahlt man für das Ding gerne mehr, als es wert ist. Hauptsache, man bekommt es überhaupt. Wer eine Marke für Vorarlberg entwickelt, will erreichen, dass Dinge, die mit Vorarlberg in Verbindung gebracht werden können, eine größere Aufmerksamkeit bekommen und man bereit ist, mehr zu zahlen, als es wert ist. 

Was ist eigentlich der Wert einer Sache? Was sind Werte überhaupt? Und wie hängt der Wert einer Sache mit den vermeintlich ewigen Werten zusammen? Von Werten ist vor allem dann die Rede, wenn man auf schwer lösbare Probleme stößt. Bei internationalen Konflikten taucht regelmäßig die Beschwörung von Wertegemeinschaften auf. Auf europäische Werte beruft man sich, wenn irgendein nichteuropäischer Politiker oder Staat etwas ganz Abscheuliches getan hat, etwa wenn die Saudis Religions- oder Regimekritiker zu Tode peitschen oder gleich für immer verschwinden lassen. Auch im eigenen Alltag weiß jede und jeder, was einen Wert hat und was nicht. Das kann sich auf Dinge, aber auch auf Handlungen beziehen. Sehr geläufig ist die Klage über die Gefährdung der Werte oder ihren Verfall, wenn man von jungen Leuten nicht gegrüßt wird oder sich von ihren Sitten und Gebräuchen abgestoßen fühlt. In der Wirtschaft, jener Sphäre, der der Begriff Wert ursprünglich entstammt – das althochdeutsche „Werd“ bedeutete Preis beziehungsweise Kaufsumme – ist der Werteverfall am meisten gefürchtet: Die Inflation und Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg wurde als „Hexensabbath der Entwertung“ (Elias Canetti) bezeichnet. Alle, die sie erlebten, bekamen ihre Folgen zu spüren: Sparguthaben wurden ebenso wie Schulden auf einen kleinen Bruchteil ihres einstigen Wertes reduziert. Wertpapiere, die man vor oder noch während des Weltkrieges – etwa in Form von Kriegsanleihen – um teures Geld erworben hatte, waren wenige Jahre später nicht einmal mehr das Papier wert, auf dem sie gedruckt worden waren. Auch Aktien, die Sachwerte repräsentieren, ihre Besitzer zu Anteilseignern einer Industrie-, Bank- oder Versicherungsgesellschaft machen, können in Wirtschaftskrisen ihren Wert einbüßen. Der österreichische Nationalökonom Oskar Morgenstern, später Miterfinder der Spieltheorie, hat in einer Studie 1931 dargelegt, dass der Kurswert der an der Wiener Börse notierten Aktiengesellschaften im Jahr 1930 nur noch 35 Prozent von jenem des Jahres 1913 betrug. Schon ein Jahr später hatte sich der Kurswert der Aktiengesellschaften noch einmal um weitere 26 Prozent reduziert, die Weltwirtschaftskrise zeigte ihre Wirkung. 

Aber ist es vielleicht nicht schmerzhafter, wenn andere Werte als jene aus der Sphäre der Ökonomie zerbröckeln, sich auflösen, verfallen, verschwinden oder einer schleichenden Umwertung ausgesetzt sind? Wenn es um Freundschaft, um Freiheit oder gar um die Wahrheit geht? Also um Wichtigeres, etwas, was nicht mit Geldwerten abgegolten werden kann. Aber gibt es das überhaupt? Hat nicht wirklich alles seinen Preis? Immanuel Kant hat bekanntlich in seiner „Metaphysik der Sitten“ darauf hingewiesen, dass der Mensch keinen relativen Wert, also keinen Preis, sondern einen inneren Wert habe, der ohne Äquivalent ist: die Würde. Leider bietet die Geschichte permanent Beispiele, die zeigen, dass die Würde des Menschen ignoriert wird. Man hat für Menschen in Entführungsfällen Lösegeld verlangt, versuchte sogar, ganze Menschengruppen zum Gegenstand perfider Tauschgeschäfte zu machen. Adolf Eichmann bot 1944 einem jüdischen Rettungskomitee 1600 Juden an. Dafür soll er, berichtet Raul Hilberg in seinem Werk über „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (Bd. 2, S. 910), 200 Tonnen Tee, 200 Tonnen Kaffee, zwei Millionen Kisten Seife und 10.000 Lastwagen gefordert haben. Aber von derart verbrecherischen Absichten abgesehen wird der Wert des Menschen auch immer wieder in ganz alltäglichen und durchaus ehrenwerten und nützlichen Zusammenhängen und durchaus in seinem eigenen Interesse bewertet, etwa im Zusammenhang mit Lebens- und Unfallversicherungen. 

Sind diese Werte nicht etwas völlig anderes als religiöse Werte oder jene, mit denen sich die Philosophie auseinandersetzt, insbesondere in der Ethik und Ästhetik? Oder sind die vermeintlich ewigen Werte des Wahren, Guten und Schönen nicht selbst Symptome einer schleichenden Ökonomisierung der menschlichen Gesellschaft und des Denkens schlechthin? Zeigen nicht die Mysterien des Kunstmarktes oder auch die übliche Praxis, geringfügigere schlechte Taten mit Geldstrafen zu belegen, dass man wirklich glaubt, alles mit Geld bewerten zu können? Karl Marx brachten diese Vorgänge zur Überlegung, dass in jedem Wert sich ein gesellschaftliches Verhältnis ausdrücke. Der Philosoph Hermann Lübbe formulierte einmal trocken: „Werte sind Messgrößen für schwankende Zustände elementarer Lebenstatsachen. So will es der Alltagsgebrauch, den wir vom Worte ‚Wert‘ machen.“
Wer über Werte und Wertewandel in unserer Gesellschaft etwas in Erfahrung bringen will, sollte sich den Dornbirner Flohmarkt (Dornbirner Messegelände, 9. und 10. Februar 2019) ansehen und am besten auch gleich mitarbeiten. Hier wird auf imponierende Weise ein kleiner Ausschnitt des gigantischen gesellschaftlichen Stoffwechsels sichtbar und erfahrbar. Was einstmals viel gekostet hat, wird nun kostenlos abgegeben, als handle es sich um Sperrmüll. Sortiert und notdürftig entstaubt werden die Dinge an den Tagen des Flohmarktes plötzlich wieder etwas wert. Wer die Kämpfe um einzelne Stickereien oder alte Bücher miterlebt hat, kann ermessen, wie groß die Wertsteigerungen zumindest in den Augen einzelner Interessenten sein können. Manches, was kurz zuvor gratis abgeliefert wurde, entpuppt sich sogar als so wertvoll, dass es am Flohmarkt selbst gar nicht mehr zu kaufen ist. Was allerdings nicht verkauft wird, fällt der Müllpresse zum Opfer. 

Werden einmal Dinge, die unter der Marke Vorarlberg veräußert wurden, auf dem Flohmarkt der Werte landen? Das kann niemand wissen. Gewiss ist nur eines: Auf der Suche nach ewigen Werten wird man nie etwas anderes finden als ein ewiges Auf und Ab der Werte. Auch jene Werte, aus denen sich jenes „Wertedach“ zusammensetzen wird, das sich der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner sich unter der Marke Vorarlberg vorstellt, werden den Konjunkturen und Auf- und Ab- und Umwertungen ausgesetzt sein. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass der Wert des Chancenreichtums, in dem sich die Marke Vorarlberg verdichten soll, das Schicksal aller Werte teilen wird. Denn längst schon hat sich der „unheimlichste Gast“, den es in diesem Zusammenhang gibt, der Experte für die Umwertung alle Werte, auch in Vorarlberg dauerhaft und in wechselnden Verkleidungen einquartiert: der Nihilismus.

47. Flohmarkt Dornbirn Dornbirner Messegelände 9. und 10. Februar 2019
 

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