Peter Bußjäger

Verfassungs- und Verwaltungsjurist

Kant wäre auf unserer Seite

Juli 2024

Ein Traktat zur Autonomie

Dieses Jahr wurde der 300. Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant gefeiert. Was hat er uns heute noch zu sagen? „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dieser Leitgedanke der Aufklärung ist aktuell geblieben. Man sollte ihn in jede Gemeindestube, jede Behörde des Landes schreiben. Delegiere das Denken nicht nach oben, denn woher willst du wissen, dass andere es besser können? „Aufklärung“, so Kant, „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“

Autonomie ist Aufbruch
Wer in der Lage ist, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, agiert erst als autonomer Mensch. Das lässt sich leicht in die Politik übertragen: Autonomie bedeutet in der Lage zu sein, seine eigene Gestaltungskraft einzusetzen und sich nicht darauf zu verlassen, dass andere die Dinge erledigen, die man selbst (vielleicht) besser bewerkstelligen kann. Autonomie ist der Aufbruch aus der (selbstverschuldeten) Unmündigkeit eines Staates, einer Region oder einer Gemeinde. 
Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1811, nicht zu Unrecht als der Kulminationspunkt österreichischen Juristengeistes (das Gendern erübrigt sich in diesem Kontext) betrachtet, kreierte den autonomen Menschen. In politischer Hinsicht war es noch nicht so weit. 
Im Gegenteil: Die dem Glanzlicht des ABGB folgende Zeit des Vormärz war in politischer Hinsicht die vollendete Unmündigkeit. Erst die bürgerliche Revolution von 1848 brachte eine Änderung: „Die Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde“, hieß es im Reichsgemeindegesetz von 1849. Eine zaghafte Entdeckung dessen, was Autonomie bedeuten kann. 

Selbst-Gesetzgebung statt glücklicher Sklaven
Autonomie bedeutet übersetzt: selbst das Recht setzen. Die Horrorvorstellung für den Zentralismus schlechthin! Leider gibt es eine nicht geringe Zahl an Menschen, die mit solcher Art von Freiheit nichts anzufangen wissen.
Nichts ist tödlicher für die Autonomie als das Biedermeiertum glücklicher Sklaven. Das gilt heute besonders für jene regionalen und lokalen Politiker, die sich die Erledigung ihrer eigenen Aufgaben von übergeordneten Stellen abnehmen lassen und damit zufrieden sind, ein Amt zu bekleiden, für das sie bezahlt werden. 
Daran ändert nichts, dass die Delegierung eigenen Denkens nach oben gerne mit scheinbar sachlichen Argumenten bemäntelt wird, wenn etwa eine „bundeseinheitliche Lösung“ propagiert wird. Woher wollen diese glücklichen Sklaven wissen, dass Einheitlichkeit besser ist als Vielfalt? Man würde meinen, es hängt doch wohl von der Qualität einer Lösung ab, für welche Variante man sich entscheidet.
Der geheime Grund, weshalb die „Bundeseinheitlichkeit“ so viele Anhänger hat, besteht in Wahrheit darin, dass sie die glücklichen Sklaven von der Notwendigkeit enthebt, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und Verantwortung zu übernehmen. Freiheit kann manchmal auch eine Belastung sein. 

Hausverstand ist wichtig, aber nicht alles
Die Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, bedeutet keine bedingungslose Hingabe an den so oft beschworenen Hausverstand. Letzterer ist zweifellos wichtig: Auch die Erkenntnisse von Expertinnen und Experten dürfen einem Realitätscheck unterzogen werden. Dennoch sollte man den eigenen Hausverstand nicht verabsolutieren. Sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, bedeutet gerade auch Offenheit für die Erkenntnisse der Wissenschaft und eine gewisse Demut gegenüber Ideen, mit denen man nicht selbst schwanger gegangen ist.

Lass dir nicht alles gefallen
Autonomie bedeutet darüber hinaus, sich nicht jede Zumutung gefallen zu lassen. Das Ländle hat eine schöne Tradition des vom eigenen Verstand getriebenen zivilen Ungehorsams. 1948 gab es in Schruns die erste erfolgreiche Bürger­initiative gegen die Ableitung der Litz ins Klostertal, um dort ein Wasserkraftwerk der ÖBB(!) zu speisen. 1957 revoltierten die Montafoner erfolgreich gegen den von Landesamtsdirektor Grabherr inspirierten Erlass, Montavon mit „v“ zu schreiben. Die Schiffstaufe von Fußach, die Jugendbewegung FLINT und die Ablehnung der Atomkraft im Ländle sind weitere schöne Beispiele dafür, dass sich die Zivilbevölkerung nicht alles gefallen lassen wollte. Eine Bürgerinitiative in Ludesch hat bis jetzt – Verfassungsgerichtshof hin oder her – erfolgreich verhindert, dass die Landesgrünzone für die Erweiterung eines Industriebetriebs herangezogen wird.

Vision
Meine Vision der Autonomie? Ein Land, dessen Bewohnerinnen und Bewohner den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, diesen Verstand reflektiert und selbstkritisch einsetzen und sich nicht scheuen, Verantwortung zu übernehmen. Solche Menschen verschließen nicht die Augen gegenüber den Herausforderungen der Zeit, dem Klimawandel, der Energiekrise sowie den Chancen und den Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Sie bezeichnen sich auch nicht als Querdenker, sondern sind viel lieber Nachdenker.
Kant wäre auf unserer Seite.

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